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Kapitel 26

 

~ Wrecking Ball

 

I never meant to start a war

I just wanted you to let me in

And instead of using force

I guess I should've let you in

 

Der erste Drehblock ging unspektakulär zu Ende. Zumindest für die Schauspieler. Die Zwerge hatten schon einen Tag früher frei bekommen, denn die letzte Szene würde mit Gandalf in Dol Guldur gedreht werden. Und weil da nicht mehr viel schief gehen konnte, wurde Joe wieder ins Art Department zurück beordert.


Als sie in ihrem Atelier ankam, lag ein Haufen Papier auf ihrem großen Schneidetisch und ihr Boss Richard saß auf dem einzigen Stuhl, den es hier gab. Er hatte die langen Beine übergeschlagen, seine runde Brille auf die Stirn geschoben und betrachtete ein paar Zeichnungen sehr intensiv, indem er sie sich direkt vor die Augen hielt.

Darüber überrascht, was er hier wohl wollen könnte, glitt Joe die Türe aus der Hand und fiel donnernd ins Schloss. Unweigerlich zuckte sie zusammen und zog den Kopf zwischen die Schultern, während Richard nur aufsah, sie bemerkte und lächelte. „Ah, da bist du ja!“, sagte er und legte die Sachen, die er noch in der Hand hielt, weg. Seine Brille rutschte ihm wie selbstverständlich auf die Nase.

„Entschuldigung“, sagte sie leise. Langsam kam sie zu ihm die paar Stufen herunter. „Ich wusste nicht, dass du hier bist.“

Er winkte ab. „Du weißt doch, dass ich immer früh auf bin. Bevor ich in mein eigenes Büro gehe, mache ich immer erst eine Runde durch alle anderen Räume, um zu sehen, wie es bei meinen Leuten so aussieht.“ Er schenkte ihr das wärmste Lächeln, was er im Moment, mit den immer dunkler werdenden Augenringen, zustande bringen konnte. Hätte Tania, seine Frau, nicht dieselbe Leidenschaft wie er, würde diese Ehe vermutlich nicht so gut funktionieren.

Lässig lehnte er sich an den großen Tisch in der Mitte. „Ich wollte mit dir deine nächsten Arbeiten besprechen. Du weißt ja, dass die drehfreie Zeit nur für die Schauspieler und die Leute am Set gilt.“ Er sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, die sie nicht daran zweifeln ließ, dass er das schon einmal erlebt hatte. Für sie war das alles jedoch Neuland. Allerdings hatte sie genug von den alt Eingesessenen gehört, die auch schon beim Herrn der Ringe mitgemacht hatten, dass sie Richards Aussage nicht überraschte. Also nickte sie nur. „Wir unterdessen“, sagte er, breitete die Arme aus und meinte damit all seine Kreativen, „müssen in dieser Zeit doppelt so viel arbeiten wie sonst. Wir müssen neue Kostüme entwerfen und schneidern, müssen alte Kostüme noch einmal neu anfertigen, weil sie unweigerlich kaputt gegangen sind, und so weiter. Und damit wir keine Zeit verlieren, habe ich dir deine Arbeit heute direkt mitgebracht.“ Dabei deutete er auf den Stapel Papier auf dem Tisch.

Etwas verunsichert trat sie näher heran und sah sich das zuoberst liegende Blatt an. Es war ein zweiter Entwurf für Galadriels Kostüm in den kommenden Szenen. Der Weiße Rat war abgedreht, doch offenbar sollte die Herrin Galadhrim noch einmal vorkommen. Angesichts der dilettantischen Zeichnung und schlechten Ausarbeitung der Details runzelte Joe die Stirn.

Richard kicherte. „Ich sehe schon“, sagte er amüsiert, „dass dir das alles nicht gefällt. Deswegen hab ich es zuerst zu dir gebracht. Das sind meine Entwürfe.“

Sofort wich ihr alle Farbe aus dem Gesicht. Sie riss erschrocken die Augen auf und sah ihn mit flehendem Blick an. „Das“, stammelte sie, „das wusste ich nicht! Es ist...“ Sie suchte vergeblich nach Worten, die sie aus dieser Situation wieder herausholen könnten, doch es wollte ihr beim besten Willen nichts gescheites einfallen. Wieso nur musste man ihr immer alles an der Stirn ablesen können?

Nun musste Richard laut lachen. Er legte ihr väterlich einen Arm um die schmalen Schultern und beugte sich tief zu ihr herunter, da er sie mit seinen fast zwei Metern um einen halben Meter überragte. „Lass dich doch von mir nicht ins Bockshorn jagen. Ich weiß selbst, wie schlecht die sind. Aber ich hatte nicht genügend Zeit.“ Er kicherte noch immer, doch dann wurde er wieder ernst, als er einen Blick auf die große Uhr über der Tür warf. „Deswegen würde ich dich bitten, sie zu überarbeiten und dann nächste Woche zur Besprechung zu bringen. Die genaue Uhrzeit, sowie den genauen Ort teile ich euch noch mit. Meinst du, du schaffst das in sieben Tagen?“

Im Kopf überschlug sie kurz die Zeit. Heute war Freitag, der Fünfte. Morgen wollten sich alle noch einmal bei Archy treffen, um sich für die nächsten vier Wochen in die Sommerferien zu verabschieden. Vermutlich freute Aidan sich am meisten darauf, von dieser Halbkugel herunterzukommen. Doch sie musste ja nicht lange bleiben, auch wenn sie die Jungs mittlerweile ziemlich gern hatte. Sonntag hatte sie sich bisher nichts vorgenommen und die Werktage waren ohnehin für die Arbeit eingeplant gewesen. Also nickte sie.

„Gut!“, rief er erfreut aus und drückte ihr mit seiner großen Pranke kurz freundschaftlich den Arm. „Dann sag mir, wenn du noch etwas brauchst. Und wenn du die Entwürfe ändern willst, tu dir bitte keinen Zwang an. Du kannst sie von mir aus auch ganz neu machen. Nur die Anzahl muss hinterher stimmen.“ Er zwinkerte ihr zu. „Kriegst du das hin?“

Wieder nickte sie. Und dieses Mal rang sie sich dabei sogar ein Lächeln ab, was er wohlwollend zur Kenntnis nahm. Als er sich verabschiedet hatte und seine Runde fortsetzte, kam er nicht umhin zu bemerken, dass sie sich verändert hatte. Sie war zwar immer noch das kleine, schüchterne Mauerblümchen, was am liebsten unsichtbar irgendwo in einer Ecke herumstand. Doch sie wirkte schon nicht mehr ganz so zerbrechlich. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee gewesen, sie ans Set zu lassen.

Als er diesen Gedanken weiterdachte, kam ihm gleich die nächste gute Idee. Auch wenn er sich natürlich nicht um jeden so kümmern konnte, wie er das gerne tun würde, hatte er sich für das arme Waisenkind Joe Taylor, die auch noch zufällig denselben Nachnamen wie er trug, doch irgendwie immer sehr verantwortlich gefühlt. Obwohl sie schon fast dreißig Jahre alt war, wirkte sie immer noch wie ein scheuer Teenager, der nicht so richtig wusste, wo er im Leben hingehörte. Dass dafür vor allem die fehlende Familienbindung verantwortlich war, musste jedem klar sein, auch wenn er nicht Psychologie studiert hatte.

Und deswegen würde er Joe nun versuchen, eine neue Familie zu geben. Der erste Schritt war bereits getan. Doch für den Nächsten würde er erst mit Peter sprechen müssen. Allerdings konnte er sich kaum vorstellen, dass der gutmütige Kiwi ihm da einen Strich durch die Rechnung machen würde.

Und während Richard sich gedanklich schon die Hände rieb, ließ sich Joe erschöpft auf ihren Schreibtischstuhl fallen. Sie stützte den Kopf auf die Handinnenflächen auf und betrachtete den Papierwust vor sich mit gemischten Gefühlen. Einerseits waren die Zeichnungen teilweise wirklich schlecht und sie hätte nichts lieber getan, als einige von ihnen neu zu machen. Andererseits wollte sie sich aber auch nicht über die Autorität ihres Chefs hinwegsetzen, obwohl er ihr die Erlaubnis dazu gegeben hatte.

Seufzend strich sie sich eine Strähne ihres blondes Haares hinter die Ohren. Ob es ohne die Schauspieler hier sehr anders werden würde? Auch die Jungs aus dem Art Department hatten große Flausen im Kopf und spielten sich gegenseitig Streiche, um sich die Zeit ein bisschen zu vertreiben. Aber von denen hatte sie bisher niemand so beachtet wie Aidan oder Archy oder Graham.

Vermutlich ging es vielen jungen Frauen so, die hier am Set arbeiteten, dass sie gern viel mehr Kontakt zu den Schauspielern gehabt hätten. Immerhin sahen einige von ihnen wirklich gut aus und waren, soweit Joe das beurteilen konnte, noch nicht in festen Händen. Sie konnte sich sogar vorstellen, dass einige sie ziemlich um das beneideten, was sie hatte. Zumindest hatte Emily ihr das mal erzählt.

Ihre Freundin hatte seit Aidans Party nun eine feste Beziehung mit diesem John, den Joe auch schon kennengelernt hatte. Im Gegensatz zu Mike war er auch wirklich ein netter Kerl, doch sie bezweifelte, dass Emily es lange mit ihm aushalten würde. Dafür war er zu ruhig. Manchmal bremste er ihre Freundin regelrecht aus in ihrem Tun, was diese schon das ein oder andere Mal zur Weißglut getrieben hatte. Doch offenbar war die Schneiderin seit langem mal wieder glücklich. Zumindest konnte Joe das in ihren Augen sehen.

Deswegen überraschte es die Designerin auch nicht, dass ihr Haus leer war, als sie an diesem Freitagabend nach Hause kam. Es lag nur ein Zettel auf dem Sideboard im Flur, auf dem stand, dass Emily die Nacht bei John in der Stadt verbringen würde und sie sich keine Sorgen machen solle. Doch das tat Joe auch nicht. Im Gegenteil: sie genoss es, ihr Haus endlich mal wieder ganz für sich zu haben!

Doch anstatt, wie jeder normale Mensch, erst einmal die Füße hochzulegen, brachte sie ihre Sachen schnell nach oben, zog sich etwas Bequemes an und kramte ihre Putzsachen aus der Abstellkammer hervor. Dann räumte sie die Bude auf, bis alles wieder an seinem ursprünglichen Platz stand oder lag, bevor Emily hier eingezogen war, und begann mit einem Großputz. Sie arbeitete bis weit nach Mitternacht, kochte sich zwischendurch nur schnell ein paar Nudeln, die sie im Stehen aß, und ließ sich schließlich zufrieden in ihren Sessel plumpsen und betrachtete stolz ihr Werk. So ordentlich hat es hier schon lange nicht mehr ausgesehen, dachte sie euphorisch.

Sich wieder ein bisschen mehr wie sich selbst fühlend kroch sie schließlich müde in ihr weiches Bett. Dabei ließ sie die Tür zum Schlafzimmer auf, um ihren beiden Katzen zu erlauben, heute Nacht bei ihr zu schlafen. Doch dass es sich Rooney und Kaiser schließlich an ihren Beinen gemütlich machten, bekam sie schon gar nicht mehr mit.

Am nächsten Morgen wachte sie auf, als es noch dunkel draußen war. Nur die innere Uhr ihrer beiden Stubentiger sagte ihnen, dass es Zeit zum Fressen war. Also erhob sich Joe etwas schwerfällig und trottete in die Küche hinunter. Sie füllte die Näpfe der beiden und machte sich ebenfalls etwas zum Essen, bevor sie sich schließlich mit einer Tasse Tee an den großen Esstisch setzte und die Entwürfe von Richard vor sich ausbreitete.

Den Tisch hatte sie damals auf dem Trödelmarkt gefunden, wo sie ihn für einen Spottpreis erstanden hatte. Er war aus alten Balken und Treibholz zusammengezimmert, an den Rändern mit einem Metallgestell eingefasst, um ihm Form zu geben, und weiß gestrichen worden. Dazu hatte sie sich sechs ganz unterschiedliche Stühle ausgesucht, die nur gemeinsam hatten, dass sie dieselbe Beinlänge besaßen, damit man bequem an dem großen Tisch sitzen konnte. Doch ansonsten sahen sie alle völlig unterschiedlich aus. Der eine hatte eine durchgehende Rückenlehne, während ein anderer sechs runde Sprossen besaß. Einer hatte Armlehnen, der nächste war glatt und wieder ein anderer verschnörkelt. Ihr gefiel diese wahllos wirkende Auswahl und die Vielseitigkeit, die man dadurch hatte. So waren gar nicht mehr viele Dekorationen nötig, um einen Raum in Szene zu setzen.

Im Laufe des Tages erhielt sie schließlich einen Anruf von Emily, die ihr verkündete, dass sie heute Abend nicht zu Archy gehen würde, da John sie ins Theater eingeladen hatte. Ihre Freundin wirkte nicht besonders glücklich darüber, vermutlich weil sie Theater mit Langeweile in Verbindung brachte, doch sie wollte ihren neuen Freund auch nicht enttäuschen. Also würde Joe alleine auf die Party gehen müssen, was ihr natürlich gar nicht behagte.

„Das schaffst du schon!“, versuchte Emily ihre schüchterne Freundin aufzumuntern. „Du machst doch schon richtig gute Fortschritte mit deinem Verhalten. Das heute Abend wird quasi die Feuerprobe für dich, ob du es auch ohne mich schaffst.“

„Na, ich weiß ja nicht...“ Joe wirkte keineswegs überzeugt, wollte Emily aber auch nicht den Abend verderben. Außerdem wollte sie Richard noch einmal sehen, bevor er für die Ferien zu seiner Familie nach England fliegen würde. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, was sie eigentlich nie wirklich war, dann wollte sie sich auch von Dean verabschieden, der nach Auckland fliegen würde.

Dass er und sie aus derselben Stadt kamen, hatte sie eher durch Zufall herausgefunden, als er bei ihr gewesen war, um sich von seinem Kater zu erholen. Und danach hatte es ihnen Spaß gemacht, über die verschieden Ecke der Stadt zu sprechen, die sie entweder gut oder schlecht fanden. Was sie nur nicht wusste, war, ob die Jungs auch sie wiedersehen wollten, oder ob sie es nicht vielleicht als unnötige Störung erachten würden, wenn sie dabei war.

Diese Angst stellte sich allerdings als unbegründet heraus, denn es waren nicht nur die Schauspieler der Zwerge anwesend, sondern auch deren Familien, die mit nach Neuseeland gekommen waren. So hatte Stephen sogar seine Frau mitgebracht, die ein etwa sechs Monate altes Kind auf dem Arm wiegte. Der ganze Abend glich eher einer ausgelassenen Familienfeier, was Joe allerdings wieder daran erinnerte, dass sie keine Familie hatte, und sie sich fehl am Platz fühlen ließ.

Etwa eine Stunde nach ihrer Ankunft hatte sie sich wieder mit einem Glas Wasser in eine Ecke verzogen und beobachtete das Treiben um sie herum. Am liebsten hätte sie das Baby einmal auf den Arm genommen, denn sie liebte Kinder, doch das traute sie sich natürlich nicht. Wenn Mrs. Hunter zu ihrer herübersah und sich ihre Blicke zufällig trafen, schaute Joe schnell weg, weil sie nicht den Eindruck erwecken wollte, dass sie Mutter und Kind beobachtete.

Irgendwann gesellte sich Graham zu ihr. Der große Schotte trug einen dicken Pullover, der ihn noch massiger wirken ließ. „Eure Sommer gefallen mir nicht“, grummelte er und entlockte ihr damit ein Lächeln. Sie hatte schon von Aidan gehört, wie unerhört er es fand, dass es um diese Jahreszeit schneite.

Grinsend stieß sie Graham in die Seite. „Ich dachte, ihr Schotten seid solche Temperaturen gewöhnt. Dir kann doch gar nicht kalt sein“, sagte sie mit einem Grinsen auf den Lippen. Ihr selbst war nahezu immer kalt. Deswegen hatte sie sich heute ebenfalls in einen dicken Pulli gekleidet und ein Tuch umgebunden, um ihren Hals ebenfalls warm zu halten.

„Schon“, murmelte er, „aber doch nicht im August! Das ist total unnatürlich.“

„Da muss ich dem Großen zustimmen!“, rief Aidan begeistert aus und hängte sich mit seinem üblichen spitzbübischen Grinsen an Graham ran, der ihn jedoch mit einem gekonnten Stoß in die Rippen wieder auf die eigenen Füße stellte. „Ganz und gar unnatürlich!“

Bevor Joe etwas zur Verteidigung ihres Landes sagen konnte, erschien Dean plötzlich an ihrer Seite und legte ihr einen Arm um die Schultern. Von seinem Körper ging eine solche Wärme aus, dass es ihr unter der dicken Wolle sofort zu heiß wurde. Doch sie wagte es nicht, sich von ihm zu befreien, denn irgendwie gefiel es ihr auf eine seltsame Art und Weise.

„Weißt du, Aido“, sagte der blonde Kiwi, „aber genau dasselbe würde ich vermutlich über England sagen, wenn ich im Winter dort bin. Bleibt die Frage, was wohl zuerst da war: das Huhn oder das Ei.“ Er zwinkerte Joe zu, die nun passend zu ihrer gefühlten Temperatur auch noch rot anlief.

Das blieb natürlich von Aidan nicht unbemerkt, der gerade ein Schluck von seinem Bier nahm. Schnell setzte er die Flasche wieder ab, dann sagte er: „Mir scheint, dass es Joe allerdings sehr warm geworden ist.“ Er warf Dean einen vielsagenden Blick zu, der allerdings nur unverständlich zurückstarrte. Erst als sein Filmbruder noch einmal ihn und dann wieder Joe ansah, begriff der Fíli-Darsteller und folgte den dunklen Augen des Iren.

Joe, die verstanden hatte, dass Aidan ihr ihre Gedanken mal wieder von der Stirn abgelesen hatte, lief noch roter an, falls das überhaupt möglich war. Innerlich verfluchte sie ihn dafür, dass er immer solche Sachen ansprechen musste, die sie am liebsten totgeschwiegen hätte, und wollte sich schon unter Deans Arm herauswinden, doch er drückte sie nur noch enger an sich heran.

Plötzlich wurde ihr seine Gegenwart erst richtig bewusst. Sie spürte die Muskeln unter seinem Longsleeve, die er wohl seinem harten Training hier am Set zu verdanken hatte, und roch sein herbes Parfum, was ein seltsames Kribbeln in ihrem Magen auslöste. Die Stellen, an denen er sie berührte, juckten unangenehm und sie wollte plötzlich nichts lieber, als von ihm wegzukommen. Denn dieses Gefühl, was er mit einem Mal in ihr auszulöschen schien, kannte sie, und es gefiel ihr ganz und gar nicht.

Zum Glück rettete Graham sie, indem er eine flapsige Bemerkung über Aidans Outfit machte, was ihn an einen Eskimo erinnern würde, und schließlich ließ Dean sie wieder los. Erleichtert atmete sie aus, entschuldigte sich kurz und stürmte zur Toilette. Dort schloss sie die Tür hinter sich ab und lehnte sich erschöpft dagegen. Ihre Wangen glühten noch immer und sie musste sich ihren Pullover ausziehen, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Wie hatte es nur so weit kommen können? Und wann war es überhaupt so weit gekommen? Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sich irgendetwas in der letzten Zeit geändert hätte.

Ihre wirren Gedankengänge wurden von einem harschen Klopfen an der Badezimmertür unterbrochen. Erschrocken wich sie davor zurück. Als sie nicht reagierte, klopfte es erneut, und eine Frauenstimme erklang draußen. „Entschuldigung“, sagte sie, „aber wenn es kein Notfall wäre, würde ich nicht klopfen. Kann ich bitte reinkommen?“

Noch zu durcheinander, um klar denken zu können, kam Joe ohne lange zu überlegen der Aufforderung nach. Sie wollte sich gleichzeitig mit der Frau, die nach innen drängte, nach draußen schieben, doch die Fremde ließ sie nicht an sich vorbei, sodass sich Joe plötzlich Mrs. Hunter und dem Baby gegenüber sah, eingeschlossen in einem kleinen Bad.

Stephens Frau sah sie entschuldigend an. „Es tut mir wirklich leid, aber die Kleine muss gewickelt werden.“ Sie deutete mit einem Kopfnicken auf das Baby und sofort roch Joe auch, was Sache war. Sie nickte verstehend und machte der jungen Frau Platz. Die hantierte noch mit dem Baby und mit einer enorm großen Tasche über ihrer Schulter herum. „Mist“, fluchte sie unterdrückt, dann sah sie Joe flehend an. Sie biss sich auf die Unterlippe, denn eigentlich hatte sie so etwas nie tun wollen, doch dann hielt sie der fremden, kleinen Blondine ihre Tochter hin. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie sie kurz nehmen? Dann kann ich alles vorbereiten.“

„Aber nein, gerne!“ Sofort war Joes schlechte Laune und die Sache mit Dean vergessen. Begeistert streckte sie die Arme nach der kleinen Maus aus und spürte das Gewicht in ihren Armen. Es war ein wundervolles Gefühl, so ein zartes Geschöpf zu halten, auch wenn es in diesem Moment mehr stank als alles andere.

Frisch gewickelt traten die beiden Frauen schließlich wieder nach draußen. „Danke!“, sagte Stephens Frau und hielt Joe die Hand hin. „Ich bin übrigens Laura. Und die kleine Stinkbombe hier ist unsere Rosie.“

„Ich bin Joe“, sagte sie und schüttelte Laura etwas umständlich die Hand, weil sie Rosie immer noch auf dem Arm hielt.

„Willst du sie noch etwas halten? Dann entsorge ich schnell die kleine Biowaffe, bevor Richard wieder einen Anfall bekommt, dass sein Mülleimer nach Babypoo riecht. Du kannst sie auch zu Stephen bringen, wenn sie dir zu schwer wird.“ Laura verschwand kurz nach draußen und ließ Joe mit der Kleinen zurück. Die jedoch dachte gar nicht daran, sie dem Vater wiederzugeben. Stattdessen suchte sie sich irgendwo ein ruhiges Plätzchen auf der Couch und setzte sich so mit ihr hin, dass sie sie ansehen konnte. Als sie sie anlächelte, lächelte Rosie zurück und gluckste erfreut.

„Wer ist deine neue Freundin?“

Joe hatte gar nicht bemerkt, dass sie sich genau neben Dean gesetzt hatte. Der beugte sich nun zu ihr rüber und schnitt für Rosie eine Grimasse. Durch das Baby seltsam beruhigt dachte Joe in diesem Moment gar nicht mehr daran, dass es ihr eben noch so unangenehm gewesen war, so nah bei ihrem Landsmann zu sein, und drehte das Baby so, dass Dean sie besser ansehen konnte.

„Das ist Rosie, die kleine Tochter von Laura und Stephen. Und das ist Dean“, stellte sie die beiden vor. Der blonde Kiwi griff nach der feisten kleinen Hand des Mädchens und schüttelte sie zärtlich. „Guten Tag, kleine Frau“, sagte er. „Es ist mir eine Freude, dich kennenzulernen.“

Und während Dean und Joe sich noch eine Weile mit dem Baby beschäftigten, beobachtete der wachsame Vater das Schauspiel aus der Ferne. Graham und Richard standen bei ihm und folgten seinem Blick.

„Das Baby steht ihr wirklich gut“, sinnierte der dunkelhaarige Engländer. „Immerhin ist Rosie auch blond.“

„Ja“, pflichtete Graham Richard prustend bei, „wenn Stephen nur nicht der Vater wäre. Dean würde sich da als Vater von Joes Kindern sicher besser machen. Das gibt bestimmt viel hübschere Babys.“ Und um seinen Worten die Schärfe zu nehmen, stieß er Stephen versöhnend in die Seite. Der quittierte das Ganze mit einem schiefen Lächeln. Er wusste auch so, dass seine Tochter eine Schönheit werden würde. Dafür brauchte er keine Zustimmung von einem glatzköpfigen, alten Mann.

 


***

 


Bisher verläuft der Abend ganz und gar perfekt. Er hat einen Arm um deinen Schultern gelegt und ihr beide schlendert verträumt die Straßen entlang zu deinem Haus. Du weißt genau, dass dein Pflegevater hinter der Haustür darauf wartet, dass du nach Hause kommst. Doch das kümmert dich in diesem Moment nicht, denn du weißt, dass es gleich soweit ist.

Den ganzen Abend über gab es bereits diese gewissen Anzeichen dafür und die Tatsache, dass er dich nun auch noch zur Tür bringt, schreit geradezu nach deinem ersten Kuss. Aus deiner Klasse bist du bisher die einzige, die noch niemals geküsst wurde. Selbst die Brillenschlange aus der ersten Reihe wurde schon einmal geküsst, auch wenn es nur unfreiwillig war. Du jedoch bist, was das und alles andere auch betrifft, noch völlige Jungfrau. Aber du weißt ganz genau, dass du deinen ersten Kuss nur von ihm bekommen möchtest.

Seine blonden, gelockten Haare fallen ihm lässig auf die Schultern. Seine dünnen Beine stecken in schwarzen Lederhosen und er trägt, weil es um diese Jahreszeit noch sehr warm ist, nur ein dünnes dunkles Hemd, von dem er die ersten drei Knöpfe offen gelassen hat, sodass du einen kleinen Blick auf seine Brust erhaschen kannst.

Die Stellen, an denen sich eure nackte Haut berührt, kribbeln intensiv, als würden kleine Ameisen darüber laufen, und dir ist schon die ganze Zeit über unglaublich heiß, obwohl du normalerweise immer frierst. Deine Hände zittern erwartungsvoll, als du nun den Schlüssel aus deiner Tasche holst. Wird es jetzt tatsächlich passieren?

Nick lässt dich los, damit du dich ihm zuwenden kannst. Die Lampen neben der Haustüre flammen plötzlich auf und du fühlst dich wie auf dem Präsentierteller. Doch als du in seine wahnsinnig blauen Augen siehst, ist alles andere vergessen. Wie in Zeitlupe bemerkst du, dass er sich dir immer weiter nähert. Sein Kopf neigt sich ein wenig zur Seite und er beugt sich zu dir herunter, weil er über einen Kopf größer ist als du. Nervös streichst du dir eine Strähne deines blonden Haares hinter dein Ohr und versuchst, nicht zu dumm aus der Wäsche zu gucken.

Als sich eure Lippen treffen, flammt ein Feuer in deinem Magen auf, was dich von innen heraus zu verbrennen droht. Dein Mund fängt ebenfalls an zu kribbeln und seine Hände schieben sich hinten unter dein Shirt. Dir wird noch wärmer, sodass du es fast nicht aushalten kannst, und doch willst du immer mehr. Es fühlt sich an wie eine Sucht, von der man nicht mehr loskommen kann, so sehr man sich auch bemüht. Und für eine lange Zeit ist dies das schönste Gefühl, was dich in deinem jungen Leben überkommt.

© by LilórienSilme 2015

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