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Kapitel 25

~ Junge Liebe

 

„Sahîrim, warte!“ Nefertirî war ihm gefolgt, als er unser Haus verlassen hatte, und versuchte nun, ihn einzuholen. Erst reagierte er nicht auf ihr Rufen, doch als sie lauter wurde, blieb er endlich stehen. Er drehte sich nicht zu ihr um, sondern ballte die Hände zu Fäusten. „Bitte“, sagte sie leise, als sie bei ihm war, „sieh mich an.“

 

Zögerlich kam er ihrer Aufforderung nach. Eine Träne der Wut glitzerte in seinem linken Auge und es brach meiner Tochter das Herz, als sie ihn so sah. Gern wäre sie auf ihn zugegangen, hätte ihn in ihre Arme geschlossen und ihn so lange gehalten, bis sein Schmerz verschwunden war. Doch ihr Gefühl sagte ihr, dass dies alles nur noch schlimmer gemacht hätte. Also blieb sie, wo sie war, und sah ihn nur an. „Was ist es, das dich bedrückt?“

 

„Das kannst du nicht verstehen“, sagte er wütend und drehte sich wieder von ihr weg. „Niemand versteht es!“

 

„Wie kannst du das wissen, wenn du es noch nicht einmal versucht hast?“ Sie trat wieder näher an ihn heran, stand nun dicht hinter ihm. Sie konnte sehen, dass seine Kiefermuskeln mahlten, dass sein Körper verkrampft war. Womit rang er nur in seinem Innersten? Was hatte sein Herz so kalt werden lassen? Wieso nur konnte er nicht einmal darüber sprechen?

 

Plötzlich stieß er einen tiefen Seufzer aus, sodass seine Schultern, scheinbar von einer schweren Last befreit, nach unten sanken. Sein Kinn lag auf seiner Brust auf und er atmete nur noch ganz flach, als würde er weinen. Doch als er sich zu ihr umdrehte, war sein Blick wieder klar und ein Lächeln lag auf seinen Lippen. „Du bist großartig, weißt du das eigentlich, Nefertirî?“ Und als er sie so voller Wärme ansah, tat ihr Herz einen Hüpfer.

 

Beinahe wären ihre Gesichtszüge ihr entglitten, doch sie konnte sich im letzten Moment noch fassen. Eigentlich hatte sie nicht vor, ihm so klar zu zeigen, was sie für ihn empfand. „Ich verstehe nicht, was du damit sagen möchtest.“ Verwirrt blickte sie ihn an.

 

Daraufhin nahm er sie bei der Hand, führte sie weg von den neugierigen Ohren, die wohlmöglich zuhören konnten, und von den wissenden Augen, die sie beobachteten, an den Rand der Siedlung. In der Ferne grollte Donner und die dunklen Wolken rollten langsam aber unaufhaltsam auf unser Heim zu. Der Wind hatte etwas aufgefrischt und brachte neuen Regen mit sich. Doch selbst ein starkes Gewitter genau über ihr hätte meine Tochter in diesem Moment nicht dazu bewegen können, den Schutz eines Hauses zu suchen. Viel zu angenehm lag seine Hand um ihre, viel zu schön war der Blick, mit dem er sie angesehen hatte.

 

Als sie ein wenig von dem letzten Haus entfernt waren, ließ er ihre Hand wieder los. Sofort fühlte sich ihre Hand eisig kalt an und sie wünschte sich, er würde sie wieder berühren. Und wenn es nur war, um die Kälte zu vertreiben. Er ging ein paar Schritte, kam dann wieder zurück und sah sie erneut an. Dieses Mal jedoch war sein Blick ernst. „Was ich dir nun erzähle, musst du vertraulich behandeln. Du darfst deinen Eltern nichts davon berichten! Versprichst du mir das?“

 

Etwas in ihr sagte ihr, dass sie ihm nicht versprechen sollte, darüber zu schweigen. Doch selbst wenn ihr Verstand sich entschieden dagegen gewehrt hätte, sprach ihr Herz eine ganz andere Sprache. Sie wollte ihm blind vertrauen. Also nickte sie.

 

Doch das genügte ihm noch nicht. Er packte sie bei den Oberarmen, wobei seine Finger beinahe einmal um sie herum kamen, und zwang sie dazu, ihm fest in die Augen zu sehen. „Versprichst du es mir?!“

 

„Ja!“, rief sie erschrocken aus. Und kaum hatte sie ihm ihr Wort gegeben, bereute sie es auf eine ihr unerklärliche Art. Wieso nur hatte sie ein so schlechtes Gefühl dabei? Doch nun war es zu spät.

 

„Gut“, sagte er und ließ sie los. Nun lächelte er wieder. Und dieses Lächeln jagte ihr einen kleinen Schauer über den Rücken. „Ich weiß nicht, ob man dir jemals die Geschichte erzählt hat, wie deine Eltern die Herrschaft über diese Stadt erlangt haben?“ Sie schüttelte den Kopf. Natürlich hatten wir ihr erzählt, dass es hier damals ganz anders ausgesehen hatte, dass die Elben, die hier noch gelebt hatte, verschreckt und versprengt gewesen waren. Und auch Delos‘ Name war ihr nicht unbekannt. Doch sie wollte es aus seinem Munde hören, wollte wissen, ob sie ihm tatsächlich vertrauen konnte, auch wenn ihr Herz es bereits bedingungslos tat.

 

„Vor rund fünfzig Jahren lebten meine Eltern ebenfalls noch in dieser Stadt. Damals gab es die Häuser noch nicht, in denen ihr jetzt lebt. Alles war verfallen, weil sich niemand mehr gekümmert hat. Als die großen Elbenfürsten vor beinahe nun zweihundert Jahren hierher nach Valmar kamen, gab es noch eine Kultur hier. Die Elben erinnerten sich noch daran, wer sie gewesen waren.

 

Doch als die Ringträger schließlich alle nach und nach schwanden und in Mandos‘ Hallen eingingen, darunter auch deine Großmutter Galadriel und der Mann deiner Tante Celebrían, Herr Elrond von Bruchtal, da wurden die übrig Gebliebenen schließlich kopflos. Ohne einen, der ihnen den Weg zeigte, schwanden die Ältesten unter ihnen. Sie wurden des Lebens überdrüssig und fanden ebenfalls den Weg in die Hallen. Und die Jüngeren waren zu unerfahren, um zu bestehen. Also verfiel die Stadt. Manche zogen hinaus in die Wildnis, doch sie kehrten nicht mehr Heim. Vielleicht leben sie noch irgendwo dort draußen, doch mein Vater glaubt nicht daran.“

 

Nefertirî hatte bisher geduldig zugehört. Sie hatte von uns eine ähnliche Geschichte berichtet bekommen. Doch wir hatten sie immer weniger dramatisch erzählt, um ihr als kleines Kind keine Angst einzujagen. Nun wurde sie aber neugierig. „Wer ist dein Vater?“, fragte sie also.

 

Sahîrim verzog das Gesicht. Er sprach nicht gerne darüber. Doch er mochte meine Tochter und er wollte, dass sie alles von ihm wusste, und nicht nur das, was er bisher erzählt hatte. Sein Herz war in dieser Zeit, in der er bei uns war, weicher geworden. Diese Wut, die er bisher immer verspürt hatte, wenn er an seinen Vater dachte, war urplötzlich nicht mehr da. Und er schrieb dies alles Nefertirî zu. Weil sie etwas in ihm zu sehen schien, was er selbst nicht kannte. Noch nicht.

 

Meine Tochter hingegen sah ihm tief in seine blauen Augen. Noch nie hatte sie solche Augen gesehen. Nicht nur, dass sie eine unglaublich intensive und helle Farbe hatten, sie schienen auch mit jedem Tag mehr und mehr zu strahlen. Besonders wenn er sie ansah. Wenn sich ihre Blicke trafen, spürte sie immer ein warmes Gefühl in ihrem Bauch, als würde darin eine kleine Sonne glühen. War das Liebe? War es das, wovon ich immer gesprochen hatte? Dass er genau dieser Eine war, für den man sein Leben geben würde? Würde meine Tochter von ihn alles tun, alles geben und alles aufgeben?

 

„Mein Vater“, begann Sahîrim, atmete noch einmal kurz durch und fuhr dann fort, „ist Delos.“

 

Mit einem Mal war das Hochgefühl, welches Nefertirî verspürt hatte, verschwunden. Die Wärme in ihrem Bauch hatte sich in einen riesigen Eisklumpen verwandelt, der sie daran hinderte, klar zu Denken und ruhig zu Atmen. Kleine Sternchen tanzten vor ihren Augen und sie bekam keine Luft mehr. Ihre Kehle schnürte sich zu, in ihren Augen sammelten sich Tränen. Doch ob aus Trauer, Angst oder Enttäuschung wusste sie nicht. Vermutlich jedoch war es alles zur gleichen Zeit.

 

Meine Tochter rang um Fassung. Wie hatte sie nur so blind sein können? Es hatte so viele Hinweise darauf gegeben, wer er war. Er kam nicht von hier, hatte erzählt, dass er weit draußen alleine lebte und er hatte nie ein einziges Wort über seine Familie verloren. Außer, dass er einen Bruder hatte und sonst nicht darüber sprechen wollte.

 

Als sie endlich wieder Ruhe gefunden hatte, musste sie sich erst einmal setzen. Sie nahm auf einer kleinen Mauer Platz, die den Garten des letzten Hauses von der Wildnis trennte. Ihre Hände ruhten auf ihren Knien. „Du bist der Sohn des Verräters?“, fragte sie daher ungläubig, obwohl sie die Antwort schon kannte.

 

„Das bin ich nicht!“ Sahîrim machte einen Schritt auf sie zu. Zwar hielt er nicht sonderlich viel von seinem Vater, da es ihm an Herzlichkeit und Freundlichkeit und Liebe mangelte, doch er wollte sich nicht beleidigen lassen. Er versuchte ihren Blick festzuhalten, doch sie wandte ihr Gesicht von ihm ab. „Heißt das jetzt“, sagte er kalt, „dass du mir nicht mehr vertraust? Jetzt, da du weißt, wer meine Familie ist, bin ich plötzlich ein Anderer für dich? Jemand, den du nicht mehr achten kannst? Ist es das?“

 

Nefertirî liefen nun unkontrolliert die Tränen über die Wangen. Seine Distanziertheit und die Art, wie er seine Familie zu verteidigen versuchte, ließ ihr das Herz in der Brust gefrieren. Ihre Finger hatten sich in den Stoff ihres Kleides gekrallt. „So ist es doch gar nicht“, sagte sie und dabei brach ihre Stimme beinahe.

 

„Was ist es dann?“, rief er aus und kam noch näher. Nun stand er direkt vor ihr und zwang sie, indem er ihr Kinn nach oben drückte, ihn anzusehen. „Was ist es dann?“

 

Sie brach in unkontrolliertes Schluchzen aus. Sie konnte das alles nicht mehr verstehen. Wer war dieser Elb, der nun vor ihr stand? Er hatte so gar nichts mehr mit dem Sahîrim gemeinsam, den sie kennen gelernt hatte, in den sie sich verliebt hatte. Sein warmer, strahlender Blick war verschwunden und hatte kalten, verhärmten Augen Platz gemacht, die sie mit einer Abschätzigkeit musterten, dass ihr übel wurde. Wie hatte er ihr Vertrauen so missbrauchen können?

 

Als sie immer noch nicht antwortete und nicht aufhören konnte zu weinen, kniete er sich vor sie hin. Trotz des Ärgers, den er über sie empfand, weil sie ihn scheinbar für seine Herkunft verachtete, konnte er nicht anders als sie in den Arm nehmen. Sie sah so verletzt und traurig aus, dass es ihn schmerzte, sie so hart angegangen zu haben. „Es tut mir leid“, flüsterte er, als er sie in den Arm zunehmen versuchte. Doch sie schob ihn von sich weg.

 

„Was tut dir leid?“ Entschlossen wischte sie ihre Tränen weg. „Dass du mich belogen hast? Dass mir verschwiegen hast, wer du wirklich bist?“ Verdutzt sah er sie an. „Ich verachte dich nicht wegen deines Vaters. Es ist mir egal, was er getan hat. Meine Mutter konnte ihn vertreiben und das Ganze ist schon so viele Jahre her. Es geschah vor meiner Geburt. Doch du – du hast mir mit Absicht verschwiegen, wer du bist. Und das ist ein Vertrauensbruch. Es kann keine Liebe ohne Vertrauen geben.“

 

Seine Augen wurden noch größer. „Liebe?“, fragte er und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Das Strahlen kehrte in seine Augen zurück. „Liebe“, bestätigte Nefertirî ihm. Und da konnte er nicht mehr anders: er nahm ihr noch tränennasses Gesicht in seine Hände und senkte seine Lippen auf ihre. Erschrocken sog sie die Luft ein, da sie mit so etwas nicht gerechnet hatte. Doch dann ließ sie sich bereitwillig küssen und versank in seiner Umarmung.

 

Erst nach einer Weile löste er sich wieder von ihr, strich ihr mit dem Daumen über die Spuren, die die Tränen auf ihren Wangen hinterlassen hatten und sah ihr tief in die Augen. „Meleth-nîn“, flüsterte er und küsste sie noch einmal. Und so saßen sie eine Weile dort, genossen ihre Zweisamkeit und die Nähe des Anderen.

 

Bis meiner Tochter etwas einfiel. „Meine Mutter“, sagte sie plötzlich und sprang auf. Sahîrim hatte einen Arm um sie gelegt, doch diesen ignorierte sie. Sie schlug die Hände vor den Mund. „Wenn meine Mutter das erfährt. Und mein Vater erst! Er wird es niemals zulassen, dass wir uns lieben.“

 

„Daran kann er aber nichts ändern“, sagte er. Seine Hand griff nach ihrer, doch sie entzog sich ihm wieder. „Wir werden mit ihm reden.“ Nefertirî schnaubte. „Du kennst meinen Vater nicht. Er lässt nicht mit sich reden. Da bin ich mir ziemlich sicher.“

 

Sie wandte sich von ihm ab, schlang die Arme um sich, um sich ein wenig gegen den kalten Wind zu schützen, und blickte in Richtung des Sturms. Was das wohl zu bedeutend hatte? Waren die Götter erzürnt? Hatten sie zu mir, ihrer Mutter, gesprochen? Wusste ich mehr, als ich den anderen gegenüber zugeben wollte?

 

Doch viel wichtiger war die Frage, wie es mit ihr und Sahîrim nun weitergehen würde. Konnte sie es wagen, mit Legolas zu sprechen? Oder mit mir? Was würde ihre Schwester davon halten? Würde sie sich für sie freuen?

 

Sahîrim konnte sehen, dass ihr Gedanken durch den Kopf gingen, die sie nicht so leicht bewältigen konnte. Doch er wollte ihr beistehen. Er wollte, dass sie das gemeinsam durchstanden. Und sollte ihre Familie gegen diese Verbindung sein, dann würde er im äußersten Fall die Stadt mit ihr verlassen und mir zusammen in der Wildnis leben. Das schwor er sich, als er sie nun in den Arm nahm. Er legte sein Kinn auf ihrem hellen Haar ab und streichelte ihre Oberarme, damit ihr wieder warm wurde. „Ich verspreche dir, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, damit wir zusammen sein können, meleth-nîn. Und sollte uns eine Zukunft innerhalb des Kreises deiner Familie nicht möglich sein, werden wir eben unsere eigene gründen. Was hältst du davon?“

 

Sie drückte sich ein wenig von ihm weg, um ihm in die Augen sehen zu können. „Du meinst, du würdest mit mir durchbrennen?“ Wie wusste nicht, ob sie das für eine gute oder eine schlechte Idee halten sollte. Doch als er sie wieder mit diesem liebevollen Blick ansah, den sie vorher so sehr vermisst hatte, wusste sie, dass sie es tun würde. Mit ihm zusammen würde sie diesen Weg gehen.

 

Was sie beide jedoch nicht wussten, war, dass sie in genau diesem Moment ihres jungen Glücks beobachtet wurden. Ein Augenpaar lag ruhig auf ihnen und betrachtete die Szene aus dem Schatten heraus. Diesen Umstand würde man nutzen können, dachte sie und lächelte. Dies würde nicht nur eine Familie zerstören, sondern gleich zwei. Und vielleicht, wenn das Schicksal einem gewogen war, konnte man aus dieser Sache einen beträchtlichen gewinn herausschlagen.

 

Nefertirî schauerte plötzlich in seinen Armen. "Was ist los"?, fragte er besorgt, schob sie ein bisschen von sich weg und streichelte ihr mit seiner Hand sanft über die Wange. "Ist alles in Ordnung?" Verstohlen blickte sich meine Tochter um, doch so wie es aussah, waren sie immer noch alleine am Rand der Siedlung. Das letzte Haus war zwar sehr nahe, doch nicht nahe genug, dass man ihre Unterhaltung hätte mit anhören können. Ebenso wenig hatte das Haus ein Fenster, was in ihre Richtung zeigte. Und doch hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden.

 

Sie schüttelte leicht den Kopf, um diesen Gedanken und dieses beklemmende Gefühl loszuwerden. Doch es blieb. "Es ist nichts", sagte sie trotzdem und flüchtete sich wieder in seine Umarmung. Vielleicht war es nur der Gedanken an die ungewisse Zukunft gewesen, der sie hatte erschaudern lassen.

 

Immer noch lächelnd verschwand der stille Beobachter im Schatten und ließ das junge Paar, welches noch nichts von den Schwierigkeiten ahnte, die noch auf sie zukommen sollten, wieder alleine.

© by LilórienSilme 2015

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