LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 25
~ Und los
Wie fühlt sich das an? Mittendrin anstatt hinten am Rand?
Medizin - gegen den Rücken zur Wand.
Wie Benzin - komm‘, wir zünden es an!
Sie hatten sich noch eine Weile über Fotografien und Kameras unterhalten. Dabei hatte Dean erwähnt, dass er hoffte, bald irgendwann einmal ein paar von seinen Bildern ausstellen zu können. Doch das würde vermutlich noch eine Weile dauern. Joe hingegen gab ihm eine Karte von Marcia Page, der Kuratorin der Art Gallery in Wellington, und er versprach, sich bei ihr zu melden, sollte er etwas erreichen.
Zu Hause fiel er augenblicklich ins Bett und stand erst am nächsten Tag wieder auf, als sein Wecker wie gewöhnlich klingelte, als es noch stockdunkel draußen war. Mittlerweile war ihm klar geworden, dass er einen ganzen Tag am Set verpasst hatte, und er ärgerte sich maßlos darüber, so aus der Rolle gefallen zu sein. Er schwor sich, dass er erst wieder Alkohol anrühren würde, wenn der erste Drehblock vorbei war.
In den Studios angekommen zögerte er einen Augenblick, bevor er die Maske betrat. Was würde Richard sagen, wenn er jetzt zu ihm kam? Aidan war sicher noch nicht wach. Der brauchte nur knappe 45 Minuten, um sich in Kíli zu verwandeln. Aber vor Aidans Reaktion musste er sich vermutlich auch nicht in Grund und Boden schämen.
Er biss sich auf die Unterlippe und packte die Klinke fest, dann drückte er sie herunter. Der ihm mittlerweile sehr vertraute Geruch von Puder, Kleber und Silikon stieg ihm in die Nase und sein Magen, der immer noch leicht angeschlagen war, gab gleich rebellische Töne von sich. Doch er biss die Zähne zusammen und trat ein. Sean empfing ihn gleich mit einem breiten Lächeln. Vermutlich war er schon zu lange Profi, um sich groß etwas dabei zu denken, wenn sein Schützling mal nicht am Set auftauchte.
Doch dann begegnete Dean Richards blauen Augen. Sofort fühlte er sich noch kleiner, als er ohnehin schon war. Der große Brite wirkte auf ihn manchmal regelrecht einschüchternd, wenn er ihm in voller Thorin-Montur gegenüberstand. Doch heute war es eher der Blick tadelnden Vaters. „Wie geht es dir?“, fragte der Ältere.
Seltsamerweise klang es ehrlich besorgt. Vielleicht hatte Dean sich den Vorwurf doch nur eingebildet?
Er räusperte sich, als er in seinem Stuhl Platz nahm. „Ganz gut“, sagte er. Dabei wuselte Sean bereits um ihn rum und begann damit, seine Haare nach hinten zu kämmen, indem er sie erst nass machte und dann mit einem Kamm streng zurücknahm. „Joe hat sich gut um mich gekümmert.“
„Dann warst du doch bei ihr?“, fragte Richard erstaunt. Er hatte die Gerüchte gestern gehört, doch nicht so ganz glauben wollen. „Wie ist das denn passiert?“ Ein amüsierte Ausdruck legte sich um seinen Mund und seine Augen blitzten seltsam erheitert auf.
Dieses Mal war es der junge Kiwi, der leicht errötete. „Ich habe ihr auf die Schuhe gekotzt.“
Einen Augenblick lang herrschte eine unangenehme Stille auf diese Beichte hin, doch dann brachen Richard, sein Maskenbildner Paul und Sean gleichzeitig in schallendes Gelächter aus. Und plötzlich fand Dean es auch irgendwie lustig. „Schon gut“, sagte er und winkte ab. „Ich hab‘s verstanden.“
Langsam beruhigten sie sich wieder. Eine Weile konnte keiner der beiden sprechen, da ihnen die Bärte angeklebt wurden, doch dann fragte Richard: „Und wie lief es dann noch so gestern mit ihr?“
„Wir haben geredet“, antwortete Dean. „Sie fotografiert auch, genauso wie ich.“
„Dann habt ihr ja etwas gemeinsam.“
„Ja“, sinnierte Dean. „Das haben wir tatsächlich.“ Er schwieg eine Weile, überlegte, ob er das ansprechen sollte. Doch wenn nicht Richard gegenüber, dann würde er es vermutlich niemandem gegenüber ansprechen. „Ich mochte sie eigentlich nicht.“
„Tatsächlich?“ Richard zog eine Augenbraue hoch, während Paul ihm die Nase anpasste. „Wieso nicht? Sie ist ein nettes Mädchen.“
„Mich hat ihre Art gestört, wie sie immer schüchtern in der Ecke herumsteht und keinen Ton sagt, wenn man sie anspricht. Ich meine, kein normaler Mensch reagiert so. Man sagt doch zumindest mal Ja oder Nein. Aber bei ihr kam nichts.“ Er überlegte kurz. „Doch als ich sie gestern auf die Bilder angesprochen hab, da konnte sie fast gar nicht mehr aufhören zu reden. Es war wie ein Schalter, den man umgelegt hat. Und auf einmal war sie wirklich nett.“
„Weißt du“, warf Sean ein, als er ihm ebenfalls seine Nase anpasste, „Menschen werden nicht auf einmal nett. Entweder sie sind es oder sie sind es nicht.“
Danach sprachen sie eine Weile nicht, bis Aidan schließlich hereinkam und wie jeden Morgen für jeden einen frischen Kaffee mitbrachte. Er konnte es sich natürlich nicht nehmen lassen, Dean ein bisschen aufzuziehen. Doch als Dean nach Aidans letzter Nacht fragte, wurde der junge Ire plötzlich ganz still. Er warf seinen Filmbruder nur einen vielsagenden Blick zu und zwinkerte Katy zu, die mit ihm den Raum betreten hatten.
Irgendwann, als sie fast fertig waren, um sich die Perücken anlegen zu lassen, betrat einer der Drehbuchassistenten den Trailer und übergab jedem sein Drehbuch für den heutigen Tag. Beim Durchblättern fragte Dean dann etwas kleinlaut: „Was habt ihr eigentlich gestern gedreht?“
„Die Begegnung mit dem Trollkönig“, sagte Aidan. „War gar nicht so leicht ohne dich. Aber für Aufnahmen von hinten hat Pete dein Stuntdouble genommen, sodass es nicht gleich auffällt, dass es eigentlich nur zwölf Zwerge sind.“ Er zwinkerte seinem Freund zu.
Doch Dean beruhigte das ganz und gar nicht. Sein schlechtes Gewissen vergrößerte sich dadurch eigentlich nur noch mehr. „Man“, sagte er schließlich laut und schlug dabei das Drehbuch auf den Frisiertisch vor sich, „die ganze Scheiße tut mir echt leid, Aid! Ich hab dir die Party versaut. Und dann hab ich auch noch einen ganzen Tag am Set verpasst. Das ist echt nicht meine Art. Es tut mir wirklich leid, Mann!“
„Schon gut!“ Aidan winkte grinsend ab. „Du hast mir die Party nicht versaut. Ich hatte einen tollen Geburtstag. Mach dir darüber mal keinen Kopf. Und dass du gestern nicht hier warst... Mein Gott, jeder ist mal krank.“
„Ich war aber nicht krank“, setzte er an, doch Richard unterbrach ihn, indem er ihm freundschaftlich aufs linke Knie klopfte. „Vergiss es, Dean“, sagte er mit seiner tiefen Stimme. „Pete hat zwar erst das Gesicht verzogen, aber er hat nichts gesagt. Und das wird er auch nicht. Das kann passieren. Wichtig ist nur, dass du daraus etwas lernst. Du hast doch etwas daraus gelernt, oder?“ Er warf ihm einen von seinen typischen Blicken zu. Doch das brachte die beiden Jüngeren nur dazu, breit zu grinsen.
Als sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatten, sagte Dean schließlich: „Ja, Onkel Thorin, das habe ich.“ Richard knuffte ihn daraufhin scherzhaft in die Seite und gemeinsam machten sie sich zur Perücken-Abteilung auf.
Nachdem sie endlich fertig waren, stiefelten sie wieder nach draußen. Dort hatte es mittlerweile angefangen zu schneien. Mitarbeiter hatten die Wege zwar freigefegt, doch es fielen immer mehr von den weißen Flocken auf den Boden. Aidan schob sich die Handprothesen unter die Arme, um seine Finger darin so warm zu halten. „Wird Zeit, dass die Sommerpause kommt“, murrte er. „Ich bin absolut gegen Schnee im Juni.“
Dean kicherte. „Daran gewöhnst du dich sicher.“ Er schlug im freundschaftlich auf die Schulter und ging voran zur F Stage. Dabei mussten sie einmal komplett die A Stage entlanglaufen, den Trailerpark durchqueren und auf die andere Seite der großen Hauptstraße, die die Studios in zwei Hälfte teilt, gehen. Als sie dort ankamen, war Aidan bereits durchgefroren. „Heute wird der erste Tag sein, an dem ich meine Kühlweste nicht brauchen werde“, prophezeite er groß, dann betraten sie die Stage.
Alle anderen warteten schon auf sie und es gab ein großes Hallo, als sie sahen, dass Dean wieder dabei war. Sie umringten ihn alle beinahe auf der Stelle und schlugen ihm abwechselnd aufmunternd auf die Schultern, während sie ihm versicherten, dass es niemandem aufgefallen wäre, dass er gestern nicht am Set war.
Als Pete jedoch auf ihn zusteuerte, machte er sich schon auf eine Standpauke gefasst. Am liebsten hätte er den Kopf eingezogen, doch das wäre sicher nicht gut angekommen. Stattdessen versuchte er sich an einem halbherzigen Lächeln.
Der stämmige Regisseur, der während des gesamten ersten Drehblocks fast wieder die Kilos zugelegt hatte, die er zu Anfang der Dreharbeiten im Krankenhaus gelassen hatte, hob eine Augenbraue, als er den jungen Kiwi entdeckte, und ein ungewolltes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er sah, wie reumütig Dean dreinblickte. Eigentlich hatte er vorgehabt, ihm wenigstens ein bisschen die Meinung zu sagen. Doch angesichts des schlechten Gewissens, das er sowieso schon zu haben schien, ließ er das lieber aus. Stattdessen kam er einfach auf ihn zu und legte ihm den Arm um die Schultern. „Schön, dass du wieder da bist, Dean!“
Sofort schob Jed sich dazwischen. „Wieso ,wieder‘? War er weg? Ist mir gar nicht aufgefallen.“ Er trennte die beiden gewollt und hüpfte dann Richtung Set davon. Dabei drehte er sich ein paar Mal um sich selbst und warf Dean dabei jedes Mal ein Zwinkern zu, was der nur verblüfft erwidern konnte. Genau in diesem Moment hatte er zum ersten Mal das Gefühl, wirklich richtig zu ihnen zu gehören.
„Geht es dir besser?“
Der ernste Ton, den Pete unerwartet anschlug, ließ Dean stehen bleiben. Er drehte sich zu seinem Landsmann um. „Ja“, nickte er, „es tut mir wirklich leid. Ich habe wohl etwas zu tief ins Glas geschaut. Das kommt sicher nie wieder vor!“
Pete winkte ab. „Schon gut“, sagte er und legte ihm wieder den Arm um die Schultern, um ihn zum Set zu dirigieren. „Ihr seid jung und ich wollt euch kennenlernen. Ich kann verstehen, dass du dich als ,Der Neue‘ noch ein bisschen unzugehörig fühlst. Aber glaub mir, das geht vorbei. Wenn ihr nach der Drehpause zurückkommt, seid ihr eine große, glückliche Familie. Ich weiß, wovon ich rede.“ Nun zwinkerte auch er ihm zu und ließ ihn dann alleine zurück, da man ihm im Regiezelt brauchte.
Dean selbst sah sich nun etwas verloren um. Es kam ihm beinahe so vor, als wäre im Urlaub gewesen und wüsste jetzt nicht mehr, was er zu tun hatte. Doch dann entdeckte er Joe, die wie immer leicht verloren in der Gegend herumstand und so tat, als wäre sie nicht da. Sie sah ihn, als er auf sie zukam, und lächelte erfreut. Das hatte sie noch nie getan.
Als er sie erreichte, sagte er: „Guten Morgen. Hast du gut hierher gefunden?“
Verwirrt sah sie ihn an. „Ja?“, sagte sie nur und gab ihm damit das Gefühl, wie der letzte Trottel dazustehen. Immerhin fuhr sie schon länger hierher in die Studios, als er selbst. Innerlich nannte er sich selbst einen Vollidioten. Doch dann fiel ihm etwas ein, was er sie fragen konnte, ohne dass es bescheuert wirkte. „Hast du etwas von Emily gehört?“
Joe schnaubte. „Ja, sie kam heute Morgen ins Büro und trug noch dieselben Klamotten wie Sonntag. Scheinbar war sie gestern auch nicht hier. Deswegen war Carolynne wohl auch so sauer, als ich ihr gesagt hab, dass du krank bist.“
Dean schlug sich an die Stirn. „Oh Mann. Ich möchte nicht wissen, was Care von uns gedacht hat.“ Allein bei dem Gedanken daran musste er lachen. Joe fand das Ganze aber gar nicht so witzig. Ihr gefiel die Vorstellung nicht, dass man sie für unzuverlässig oder sogar liederlich halten könnte. Wenn sie nicht so unglaublich Angst vor der Ersten Assistentin hätte, hätte sie vielleicht sogar das Gespräch gesucht. Doch vor Carolynne bekam sie selten auch nur ein Wort heraus. Niedergeschlagen senkte sie den Kopf.
Das bemerkte Dean, der immer noch neben ihr stand, und deutete es richtig. Er legte ihr beruhigend den Arm um die Schultern, was sie leicht zusammenzucken ließ. „Keine Sorge“, sagte er, „ich werde das heute Mittag klarstellen gehen, in Ordnung?“
Bevor sie ihm aber sagen konnte, dass sie das nicht wollte, wurde das Set zur Ordnung gerufen. Daher hielt sie den Mund. Sie sah ihm nur hinterher, wie er an seine Position ging. Wieso war er auf einmal so nett zu ihr? Nicht, dass sie sich beschweren wollte. Doch mit plötzlicher Zuneigung konnte sie genauso wenig anfangen, wie mit Abneigung ihr gegenüber. Hatte es etwas damit zu tun, dass sie sich gestern um ihn gekümmert hatte? Oder dass sie so ein nettes Gespräch über das Fotografieren geführt hatten? Vielleicht hatte er ja auch das Gefühl, dass er ihr nun etwas schuldete, und war deswegen so nett zu ihr.
Sie überlegte, ob sie ihm sagen sollte, dass sie nicht verstand, was zwischen ihnen passiert war. Doch sie hatte Angst, dass das etwas ändern könnte. Offene Gespräche zu führen war noch nie ihre Stärke gewesen und das würde es vermutlich auch nie werden. Sie würde also alles so belassen müssen, wie es war, und Emily um Rat fragen.
Eine Weile sah sie noch zu, wie die Jungs immer wieder denselben Weg über irgendwelche Paletten rannten und eine Kampfchoreographie immer wieder gleich abspulten, als hätten sie deren Bewegungsabläufe tief verinnerlicht. Dabei sah sie am Anfang noch fasziniert zu, wie einer von ihnen jedes Mal wieder gleich gegen einen Ork kämpfte, ein anderer immer an derselben Stelle auf die Nase fiel und ein Dritter schließlich das Gleiche sagte, wie bei der ersten Szene. Sie selbst hätte sie vermutlich noch nicht einmal einen Bruchteil davon merken können. Doch sie war ja auch keine Schauspielerin.
In der ersten Pause hatte sie gehofft, vielleicht ein bisschen mit Graham oder Richard sprechen zu können, doch durch die rasante Flucht vor den Bewohnern des Nebelgebirges hatten sich alle Zwerge nur in das Kühlzelt zurückgezogen und ihre Kühlwesten einstöpseln lassen. Auch Aidan.
Also beschloss Joe, ein bisschen spazieren zu gehen. Sie ließ sich von Pete ein kleines, gelbes Walkie-Talkie geben, welches sie in ihre rechte Jackentasche steckte, und verließ die Stage.
Draußen konnte man merken, dass es langsam kalt wurde. Schon als kleines Mädchen hatte sie davon geträumt, im Sommer Temperaturen wie an Weihnachten zu haben und Weihnachten selbst mit Schnee und Kälte zu verbringen. Da ihr Vater vermutlich aus Europa stammte, hatte ihre Mutter ihr immer wieder Bilder von verschneiten Weihnachtsbäumen gezeigt, doch hier auf der Südhalbkugel kam Santa mit den Surfboard angeritten und nicht mit einem Schlitten, wie in den USA.
Sie zog daher ihren Schal noch etwas enger zu und machte sich auf den Weg in Richtung Kantine. Bei dem Wetter wollte sie ungern mehr Zeit im Freien verbringen, als nötig. Ein leckerer Kaffee von der Kaffeebar würde sie aufwärmen und dort konnte sie ein bisschen ihren Gedanken nachhängen.
Die Kantine selbst war noch fast menschenleer. Nur ein paar aus den Art Departments stromerten hier herum, um sich ebenfalls mit Koffein zu versorgen. Sie nickten Joe im Vorbeigehen zu, denn mittlerweile kannte sie fast jeder und die meisten wussten auch, dass sie nicht sehr gesprächig war. Wohlwollend nahm die Designerin es zur Kenntnis und fühlte sich doch ein wenig wohl in ihrer Haut.
Das war mehr oder weniger ein Wunder, denn so hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Die Arbeit am Set war doch irgendwie angenehmer, als sie zuerst gedacht hatte. Sie hatte befürchtet, mehr im Vordergrund zu stehen, doch die meisten Tage liefen so ab wie heute: sie kam ans Set, ihr wurde sie Szene erklärt, sie warf einen prüfenden Blick auf das Drehbuch und die Kostüme, und wenn etwas kaputt ging, musste sie es reparieren. Doch an einem Drehtag wie heute war es sogar gewünscht, dass die Sachen kaputt gingen. Dafür gab es extra angefertigte Ersatzensembles, die an bestimmten Stellen dafür präpariert wurden. Und sollte etwas mehr als das passieren, war es sicher nicht schlimm. Außerdem konnte Pete sie dann immer noch rufen.
Also saß sie, die Hände um den Kaffeebecher geschlungen, da und hing ihren Gedanken nach. Dass Emily zwei Tage lang nicht nach Hause gekommen war, war für Joe sehr merkwürdig gewesen. Natürlich hatte sie schon Erfahrungen mit Männern gehabt, doch sie hatte noch nie einen One-Night-Stand gehabt. Ging so etwas überhaupt?
Sie schüttelte den Kopf. Natürlich ging das. Immerhin taten es Millionen von Leuten ständig. Doch konnte sie so etwas? Sex ohne Liebe? Ein Thema, mit dem sie sich schon sehr häufig mit sich selbst auseinandergesetzt hatte. Allerdings gab es dabei einen gewaltigen Haken: wenn man es nicht versuchte, würde man nie herausfinden, ob man das konnte. Und genau das hätte sich Joe niemals getraut.
Außerdem wüsste sie auch gar nicht, mit wem sie so etwas tun sollte. Sie kannte ja kaum jemanden. Und die Kerle, die sie kannte, waren meist verheiratet, viel zu alt oder einfach nicht ihr Typ. Wobei sie eigentlich gar nicht wusste, was ihr Typ war. Außer vielleicht der egozentrische Rockstar mit den traurigen blauen Augen und den langen, lockigen Haaren. Dieses Kapitel wollte sie aber nicht noch einmal aufwärmen.
Unweigerlich dachte sie an Aidan. Durch den Film hatte sie eine Menge neuer Leute kennengelernt. Aber für ihn empfand sie nichts weiter als dieselbe Zuneigung, die man vielleicht für einen Bruder empfand. Zumindest stellte sie sich das so in etwa vor. Dieser Robert hatte ihr ganz gut gefallen, was aber möglicherweise auch nur daran gelegen haben konnte, dass er sie einfach ohne Vorwarnung geküsst hatte.
Und Dean?
Bevor sie weiter über ihren Landsmann nachdenken konnte, setzte sich jemand neben sie. Eine junge Frau mit glänzenden schwarzen Haaren, unglaublich schönen braunen Augen und einem breiten Lächeln verschränkte die Arme vor sich auf dem Tisch und sah Joe über die Tischplatte hinweg an. „Du hast nicht zufällig Richard gesehen?“
Ungläubig glotzte Joe zurück. Was sollte das werden? Hatte sie „Auskunft“ auf der Stirn stehen? Und wieso fragte sie gerade sie? Gab es nicht noch ein paar andere Anwesende, die man hätte fragen können?
Ihr Gegenüber schlug sich eine ihrer schlanken Hände, auf deren Ringfinger eindeutig ein Ehering prangte, gegen die Stirn und breitete die Arme dann entschuldigen aus. „Tut mir leid“, sagte sie ehrlich, „du bist schließlich keine Information. Ich dachte nur, dass du vielleicht wüsstest, wo er ist. Immerhin hab ich dich letztens im Costume Department gesehen, oder? Richard wollte mich wegen irgendeiner Kostümprobe sprechen und hat mich zum Kaffee eingeladen, doch entweder hab ich ihn verpasst oder er mich.“ Sie stoppte ihren Redefluss und sah prüfend auf ihre Armbanduhr. „Dabei bin ich sogar überpünktlich hier gewesen. Und jetzt warte ich schon eine halbe Stunde auf ihn.“
Sie sah sich auffällig in der Kantine um, doch an dem fast leeren Bild hatte sich nichts geändert. Und dabei wusste Joe noch nicht einmal, welchen Richard diese Frau eigentlich suchte, geschweige denn was sie hier zu suchen hatte. Nicht, dass Joe jeden hier kannte. Doch eine so hübsche Frau wäre ihr sicher aufgefallen.
Eingängig betrachtete sie die riesigen mandelförmigen Augen, das perfekte Oval ihres Gesichts, die vollen herzförmigen Lippen und die vielleicht etwas zu lange, leicht schiefe Adlernase, die ihrem ganzen Wesen aber etwas gab, woran man sich erinnerte. Dies hier war nicht einfach nur eine nette Frau, die man später wieder vergas. Diese hier hatte etwas, was sie einprägte. Und genau deswegen war Joe sie so sicher, dass sie sie hier und heute zum ersten Mal sah.
Die Fremde spürte, dass sie beobachtet wurde, und drehte sich wieder um, sodass sie die kleine blonde Frau ebenfalls betrachten konnte. Als sie merkte, dass sie errötend auf ihren Kaffeebecher starrte, als sich ihre Augen kurz trafen, lächelte sie. Einladend hielt sie ihr eine Hand hin. „Ich…“
„Da bist du ja!“ Die fröhliche Stimme von Sir Richard Taylor unterbrach sie, bevor sie zu Ende sprechen konnte. Mit großen Schritten eilte er auf den Tisch zu, an dem er die beiden Frauen entdeckt hatte. Die Dunkelhaarige sprang sofort auf und sie umarmten sich kurz. „Entschuldige“, sagte er, „es ist alles etwas hektisch. Wir bereiten gerade alles für den zweiten Drehblock vor.“
„Schon gut“, erwiderte sie und winkte gelassen ab. „Ich habe mich nett unterhalten.“ Sie lächelte Joe wieder voller Wärme an. Die konnte jedoch nur nicken. Mit so viel Extrovertiertheit und Selbstvertrauen konnte sie nicht mithalten. Wenn so jemand in der Nähe war, ließ sie das immer auf gefühlte zwei Zentimeter Körpergröße schrumpfen und ihre Zunge wurde mit einem Mal so schwer und dick, dass sie garantiert nichts hätte sagen können, selbst wenn sie gewollt hätte.
Die Augen des Neuseeländers hinter seiner Brille wurden groß und er begann zu lächeln. „Wie schön! Dann habt ihr euch also schon kennengelernt?“
„Noch nicht ganz“, gestand die andere Frau. „Ich wollte mich gerade vorstellen.“
Richard legte sich mit gespielter Empörung die Hände auf die Brust. „Wie unhöflich von mir, euch so rüde zu unterbrechen. Gestattet mir, dass ich es wieder gutmache.“ Er deutete eine kleine Verbeugung an und wies mit der ausgestreckten Hand auf Joe. „Das ist Johanna Taylor, eine meiner drei Kostümdesignerinnen. Im Moment hilft sie Pete beim Dreh aus, um alles sorgsam zu überwachen und eventuell schnelle Reparaturen an den Kostümen vorzunehmen, sollte etwas reißen.“
Dann wandte er sich an Joe und wies mit der anderen Hand auf die Fremde. „Und das, liebe Joe, ist Teti Bloom. Sie ist nicht nur die Ehefrau von Orlando ‚Legolas‘ Bloom, sondern wird auch Carolynne in ihrer Babypause hier als First Assistent Director ersetzen.“
Mit offenem Mund starrte Joe Teti an und bekam ihn erst wieder richtig zu, als die beiden sich verabschiedet hatten.