top of page

~ Verhängnisvolle Botschaft

 

Carim stieg steifbeinig vom Pferd. Die zwei Tage im Sattel hatten ihn dazu gebracht, sich zu fühlen, als hätte er eine Woche mit seinem Bruder gerungen. Nur dass ihm vom Kampf mit seinem Bruder vermutlich niemals so übel geworden wäre.

 

Er brauchte eine Weile, die er auf dem Rücken liegend im Gras verbrachte, damit sich sein Magen wieder beruhigte, und ihm graute bereits sehr vor dem Rückweg. Ob er das heil überstehen würde? Lieber wollte er nicht darüber nachdenken, sondern sich von nun an auf seine Aufgabe konzentrieren.

 

Sein Lager schlug er in sicherer Entfernung zu unserer Stadt in einem kleinen Wäldchen auf. Das dichte Buschwerk würde ihn vor neugierigen Blicken verbergen und so musste er erst einmal keine Angst haben, entdeckt zu werden.

 

Als er sich im Schutze der Nacht sicher war, unbeobachtet zu sein, schlich er den Hügel hinauf, der unsere Stadt und sein Lager trennten. Er legte sich genau hinter die Kuppel auf die Lauer und blickte nach Valmar hinab. Seit er vor ein paar Tagen hier gewesen war, hatte sich nichts verändert. Alles sah noch genauso aus, wie vor vier Tagen. Und doch hatte er das Gefühl, dass sich mit dieser Stunde alles ändern würde.

 

Er beobachtete die Stadt zwei Tage lang, bis er sich sicher war, diejenige Elbe erkannt zu haben, der seine Botschaft galt. Es war nicht schwer gewesen, sie mit seinen scharfen Augen auszumachen, doch er wollte lieber kein Risiko eingehen und ganz sicher sein. Wenn er versagen würde, würde das seinem Vater sicherlich gar nicht gefallen.

 

In der Nacht schließlich schlich er sich in die Stadt hinein, den Umschlag seines Vaters an seine Brust gepresst, wie einen kostbaren Schatz. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, um keinerlei Geräusch zu machen, huschte von Schatten zu Schatten, um sich vor neugierigen Blicken zu schützen. Und endlich erreichte er die kleine Hütte, in der die Elbe lebte, zu der er wollte. Ganz leise klopfte er an ihre Türe.

 

Eine hochgewachsene Elbe öffnete ihm. Ihre Haare waren so dunkel wie der Himmel über ihnen und ihre Augen so grün wie frisches Gras. Verwirrt sah sie ihn an. „Wer bist du und was willst du hier?“, fragte sie mit einer seltsam wohltönenden Stimme, die nicht so recht zu ihrem Äußeren passen wollte, auch wenn sie recht hübsch war. Irgendwie wirkte sie für eine Elbe recht stämmig und grob. Doch ihre Stimme sang ein Lied von tausend Bächen, wie sie sich zu einem großen Fluss vereinigten und mächtig dahinflossen.

 

„Mein Name ist Carim“, antwortete er flüsternd. Scheu blickte er sich um, als befürchtete er, jeden Moment könne jemand mit gezogenem Schwert auf ihn zustürmen und ihn als Verräter enttarnen und enthaupten. „Ich habe dich noch nie hier gesehen, Junge.“

 

„Das liegt daran, Herrin“, sagte er, „dass ich nicht hier wohne.“ Als sie ihn weiter verständnislos ansah und keine Anstalten machte, ihn herein zu bitten, fuhr er fort. „Mein Vater ist Herr Delos von den Klippen und er schickt mich, mit Euch zu sprechen. Ich soll Euch eine Botschaft überbringen.“

 

Endlich sagte sie: „Komm herein.“ Und gab ihm den Weg in ihre Stube frei. Drinnen war es für die Nachtstunden angenehm war, denn obwohl es eigentlich nie zu kalt war, war heute Nacht der Wind aufgefrischt und hatte ihn frösteln lassen unter seinem dünnen Hemd.

 

Sie bot ihm weder einen Platz, noch etwas zu Essen oder zu Trinken an. Sie stand einfach da, mit verschränkten Armen, und sah ihn von oben herab an. Sie war nicht viel größer als er, vielleicht ein oder zwei Zoll, doch durch ihre gestrafften Schultern und die gerade Haltung wirkte sie um vieles erhabener als er.

 

Und Carim konnte nicht anders: er musste diese Elbe einfach anstarren. Obwohl ihm seine gute Erziehung, die er durch Díhena genossen hatte, beigebracht hatte, dass es mehr als unhöflich war, Leute so ungeniert zu mustern, konnte er den Blick nicht von ihr abwenden. Ob es nun aus Faszination oder Abneigung war wusste er nicht.

 

„Starr nicht so“, maßregelte sie ihn schließlich, als es ihr zu unangenehm wurde. Sie war es gewohnt, dass man sie ansah. Doch im Haus ihrer Herrin hatte sie gelernt, sich so zu ducken, dass sie weniger auffiel. Dies war nicht aus Unterwürfigkeit geschehen, sondern aus kluger Überlegung. So konnte sie sicher sein, dass man hinter ihrem Verhalten nicht mehr vermuten würde, als das einer gehorsamen Magd. „Was hast du für eine Botschaft für mich?“

 

„Seid Ihr denn die Richtige?“, wagte er zu fragen. Noch immer war der Brief fest an seine Brust gepresst und er wollte auch nicht durch Bewegungen verraten, wo er ihn versteckt hatte. Wohlmöglich konnte sie ihn ihm einfach abnehmen.

 

„Was hat dein Vater denn gesagt, wem du die Botschaft überbringen sollst? Hat er einen Namen genannt?“

 

Carim schluckte. Danach hatte er seinen Vater gar nicht gefragt. „Nein, das hat er nicht. Er hat mir nur gesagt, dass ich nach der Elbe mit dem dunkelsten Haar und dem höchsten Wuchs suchen soll.“

 

Sie breitete ihre Arme aus. „Und du hast sie gefunden, mein Junge!“ Sie ließ sich auf einem Stuhl nieder, schlug die Beine übereinander und schenkte sich aus einem Krug etwas zu Trinken ein. „Nimm Platz, trink mit mir und übermittle deine Botschaft.“

 

Zögerlich nahm auch er nun Platz. Er wusste nicht, ob er ihr trauen konnte. Vielleicht gab sie sich nur für seines Vaters Vertraute aus und war in Wahrheit jemand, der ihn in Sicherheit wiegen und später vor die Herrin dieser Stadt bringen sollte. Doch dann nannte er sich selbst einen Narren. Seine eigenen Augen hatten sie gefunden und sich selbst konnte er immer noch am meisten vertrauen.

 

Also zog er den Brief unter seinem Hemd hervor und gab ihn ihr. Im Gegenzug schob sie ihm einen Becher mit goldener Flüssigkeit hin und sagte: „Trink!“ Er hoch den Becher an die Lippen und trank einen Schluck. Es war der feinste Met, den er jemals in seinem Leben getrunken hatte!

 

Nicht, dass sein Vater ihn besonders viel hatte trinken lassen, doch ein paar Mal hatte er probieren dürfen. Und somit konnte er mit Sicherheit sagen, dass dieser besonders gut schmeckte. Und dabei wirkte ihr Haus nicht gerades edel. Vielleicht stimme es ja, was man sich bei ihm zu Hause erzählte. Dass es in Valmar wahre Ströme von Wein und Met gab und dass die prallen Äpfel einem so in die Hand fielen, wenn man dem Baum nur einen kleinen Schubs gab. Nein, hier musste sicher niemand Hunger leiden.

 

Und alles wirkte so friedvoll. Niemand schien auch nur ein böses Wort gegen jemand anderen zu richten, denn das war es, was er während seiner Beobachtungen am erstauntesten festgestellt hatte. Sogar sein Bruder hatte völlig gelöst gewirkt.

 

Carim schüttelte den Kopf, um die schlechten Gedanken zu vertreiben. Sahîrim hatte ihn verraten. Er war nicht mehr sein Bruder. Es zählte nur noch, was in diesem Brief stand.

 

Delia erbrach das Siegel und faltete das Pergament auseinander. So lange hatte sie in meinem Haus gelebt und gedient, nun sollte ihre Arbeit endlich Früchte tragen. In Delos‘ fester, geschwungener Schrift waren nur vier Zeilen auf das Papier geschrieben:

 

Die Zeit für Taten ist gekommen.

Tue, was nötig ist, um sie zu schwächen.

Nimm ihr das Liebste, was sie besitzt, und bringe es mir.

Es wird die Waffe sein, die wir brauchen, um zu siegen.

 

„Endlich“, sagte sie und legte das Pergament wieder zur Seite. Carim griff danach und las es sich durch. Doch dann runzelte er die Stirn. „Was könnte Vater damit gemeint haben?“, fragte er. „Was ist wem das Liebste?“

 

Delia lachte. „Hat man dir nie die Geschichte deiner Geburt erzählt? Hat dein Vater dir nie erzählt, warum er aus Valmar vertrieben wurde?“

 

Verwirrt sah Carim sie an. Natürlich hatte man ihm erzählt, was damals geschehen war. Doch was könnte er mit einer Waffe gemeint haben? Was wäre mächtig genug, um einen Krieg zu gewinnen und Rache zu üben an den Mördern seiner Mutter?

 

„Schlaf dich aus, mein Junge“, sagte sie. „Du wirst deine ganze Kraft brauchen, wenn wir den Plan deines Vaters in die Tat umsetzen wollen. Doch noch ist es nicht an der Zeit dafür. Wir müssen noch ein wenig warten, bis es soweit ist. Denn dieser Diebstahl will gut durchdacht sein. Wir müssen abwarten, bis man uns den Schatz auf einem Tablett servieren wird.“

 

„Aber wenn es so ein großer Schatz ist, würde man ihn doch niemals unbeaufsichtigt lassen. Oder etwa doch?“

 

Delia sah ihn eindringlich an. „Dann müssen wir eben dafür sorgen, dass man ihn aus den Augen lässt. Oder meinst du nicht auch?“ Sie drehte sich von ihm weg, nahm eine Decke aus einer Truhe und breitete sie auf dem Fell vor dem Kamin aus. „Schlaf jetzt“, sagte sie und wies auf den Boden. „Du wirst heute hier bleiben. Morgen Nacht wirst du deine restlichen Sachen holen und dann bleibst du bei mir. Ich kann nicht riskieren, dass man dich dort draußen entdeckt. Mein Schauspiel darf nicht entdeckt werden, bis es bereits zu spät ist. Solange müssen wir geduldig sein.“

 

Carim legte sich nicht gerne auf den Boden, um zu schlafen. Doch er war froh um den warmen Platz, als er den Wind draußen an den Fensterläden zerren hörte. Vermutlich wäre ihm unter freiem Himmel kein angenehmer Schlaf vergönnt gewesen.

 

Und so glitt er in einen unruhigen Schlaf hinüber und er träumte von Bergen von Schätzen. Doch sobald er auch nur das kleinste Stück Gold berührt hatte, löste es sich unter seinen Fingern auf, schmolz und verbrannte ihm die Haut. Er schrie im Traum auf, doch der Schmerz wollte nicht verschwinden. Erst als sich kühle Hände auf die flammende Stelle legten, verschwand er. Und die Hände gehörten zu einer wunderschönen Frau, die er nicht kannte. Er sah ihr Gesicht zwar deutlich vor sich, doch hatte er es noch nie gesehen. Sie blickte ihn mit ihren blauen Augen liebevoll an und küsste ihn.

 

Er fuhr aus dem Schlaf hoch. Delia hatte ihm einen Tritt versetzt, der ihn geweckt hatte. „Steh auf und versteck dich auf dem Dachboden. Ich muss zu meiner Herrin und ihr bei der Hausarbeit helfen. Seit sie das dritte Mal geworfen hat, ist sie zu nichts zu gebrauchen. Die Geburt hat sie bettlägerig werden lassen. Hoffentlich ist sie bald wieder auf den Beinen.“

 

Danach verschwand sie und er war allein. Schnell raffte er seine wenige Habe zusammen und verstaute sie mit der Decke zusammen in der Truhe. Dann kletterte er die Leiter zum Dachboden hoch.

 

Oben gab es ein kleines Fenster, durch das er auf den Platz mit dem Brunnen sehen konnte. Von hier aus würde er alles beobachten können und selbst nicht gesehen werden. Dies war ein guter Platz, um Pläne zu schmieden.

Kapitel 23

© by LilórienSilme 2015

  • facebook-square
  • Instagram schwarzes Quadrat
  • Twitter schwarzes Quadrat
bottom of page