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Kapitel 23

 

~ The Curse of the Heathen Gods

 

„Was geht hier nur vor sich?“

 

Will schrie gegen den Sturm an, konnte sich aber trotz seiner Anstrengungen nicht verständlich machen. Maccus drehte den Kopf zur Seite, zum Zeichen dafür, dass er kein Wort verstanden hatte. Also kämpfte sich der Captain weiter zu seinem zweiten Maat vor, bis er direkt vor ihm stand. „Was geht hier vor?“

 

Doch Maccus konnte auch nur unwissend mit den Schultern zucken. Das letzte Mal, dass sie in solch einen Sturm geraten waren, hatte die Göttin selbst ihn heraufbeschworen. Dieses Mal jedoch war von Calypso keine Spur. Hatte Davy Jones‘ Vergehen sie am Ende doch eingeholt? War sein Tod vielleicht nicht der letzte Preis gewesen, den dieses Schiff zu zahlen hatte? Waren es vielleicht die Sterblichen an Bord, die die Göttin so erzürnten, weil sie dadurch nicht weiter ihrer Arbeit nachgehen konnten, die arme Seelen der auf See Verstorbenen in die Unterwelt zu geleiten?

 

Bootstrap Bill erschien plötzlich neben seinem Sohn. Der starke Wind blies ihm die nassen Haare aus dem Gesicht. Er beugte sich zu Will herunter, sodass sein Mund genau neben seinem Ohr war, und brüllte: „Wir müssen hier weg, sonst zerreißt es nicht nur das Schiff, sondern auch uns!“

 

Will konnte nicht mehr als Nicken. Er konnte das alles nicht begreifen. Normalerweise hatte er Macht über den Wind und konnte verhindern, dass ihnen so etwas widerfuhr. Dieses Mal jedoch waren sie direkt in den Sturm hinein gesegelt, ohne die Möglichkeit, ihm zu entkommen. Irgendetwas Merkwürdiges ging hier vor und er wurde das Gefühl nicht los, dass es auf die Anwesenheit von Maria hinauslief. Was hatte sie hier an Bord zu suchen und wieso waren die Götter plötzlich so erbost darüber?

 

Weil sein Sohn nicht reagierte, übernahm Bill das Kommando. Als erster Maat hatte er die nötige Autorität, allen anderen Anweisungen zu geben. Er brüllte ein paar Befehle, doch niemand konnte ihn verstehen. Also ließ er seinen Sohn an Ort und Stelle stehen und begab sich zur Brücke. Dort klammerte sich Koleniko, der erste Steuermann, hilflos am Ruder fest und versuchte das Schiff auf Kurs zu halten. Dies gelang ihm nur leidlich und Bill konnte ihm ansehen, dass er mehr als erschöpft war. Lange würde der grimmige Pirat, dem noch vor ein paar Jahren ein Kugelfisch aus dem Gesicht gewachsen war, das nicht mehr durchhalten.

 

Bill wies ihn an, so gut es ging, den Kurs zu halten, und Koleniko nickte ergeben. Danach machte er sich auf die Suche nach Greenbeard, dem zweiten Steuermann, der als Ablöse dienen sollte, wenn den Kugelfisch die Kräfte verließen. Er fand den Mann unter Deck, zusammen gekauert in einer Ecke. Offenbar machte auch ihm das Wetter merklich zu schaffen.

 

Der erste Maat packte den zweiten Steuermann am Kragen und zog ihn auf die wackeligen Beine. „Reiß dich zusammen, Seemann!“, rief er und Greenbeard hörte ihn. Hier unten war der Lärm nicht ganz so schlimm und man musste sich nicht erst die Lunge aus dem Hals brüllen, um sich verständlich zu machen. „Geh nach oben und löse Koleniko am Ruder ab. Dann schick ihn herunter, dass er sich ausruhen kann.“

 

Als Greenbeard gegangen war, blieb Bill alleine unter Deck stehen. Offenbar hatte sein Sohn seine nötige Konzentration wiedergefunden, um seinen Männern die wichtigen Befehle zu geben, dass sie bald aus diesem verdammten Sturm herauskamen. So viele Jahre er auch schon zur See gefahren war, so etwas hatte auch er noch nicht erlebt. Vermutlich war nur die Übernatürlichkeit Schuld daran, dass dieses Schiff noch nicht gesunken war. Doch die Flying Dutchman war auch kein normales Schiff - zum Glück!

 

Maria hatte sich wieder in ihrer Kabine verkrochen. Nachdem sie am Horizont gesehen hatte, wie der Sturm heraufgezogen war, hatte sie nur noch ihre Röcke raffen und verschwinden können. Sie wusste ganz genau, dass Atlacamani für dieses Unwetter die Verantwortung trug. Doch wieso, das konnte selbst Maria sich nicht erklären, die jahrelang mit der Göttin unter einem Dach gelebt hatte. War sie vielleicht verärgert darüber, dass sie Montoya ins Vertrauen gezogen hatte? Doch das konnte sie sich nicht vorstellen. Ob und wie sie jemandem ihr Geheimnis verriet, war ihre Sache. Damit hatte Atlacamani nichts zu schaffen.

 

Doch wieso dann dieser Sturm?

 

In all dem Chaos, dem kalten Wasser, das sich mittlerweile am Boden ihrer Zimmers gesammelt hatte, kniete sie sich hin und faltete die Hände zusammen. Normalerweise wäre sie nie und nimmer auf eine derartige Idee gekommen, in dieser Art und Weise zu beten. Doch in diesem Moment fiel ihr nichts besseres ein.

 

Sofort sog sich ihr gesamter Rock voll und Maria spürte, wie der Stoff an ihren schmalen Schultern zerrte. Sie konnte nur inbrünstig hoffen, dass sie nicht über Bord ging, denn mit solch einem Gewicht am Körper würde sie sich nie lange genug über Wasser halten können. Und schon zum zweiten Mal, seit sie das Festland verlassen hatte, verfluchte sie die weibliche Kleidung, die sie tragen musste.

 

Doch sie schob diesen düsteren Gedanken schnell wieder bei Seite, um Platz für das Gebet zu machen. Voller Konzentration richtete sie ihre gesamte Eingebung auf diesen einen Platz, den sie fast ihr gesamtes Leben lang als ihr Zuhause betrachtet hatte, und rief die Göttin an: „Mutter der Stürme, bitte höre mich!“

 

Es war nicht leicht, die richtigen Worte zu finden, doch sie musste es zumindest versuchen. Andernfalls würde selbst die Flying Dutchman nicht mehr lange über Wasser bleiben können. Und wenn Captain Turner sich gezwungen sah zu tauchen, dann würden alle, die nicht unsterblich waren, ganz sicher den Tod finden. Seine Mannschaft mochte es in den Tiefen des Ozeans ohne Luft und Sonne aushalten, doch ein normaler Mensch konnte nicht länger als fünf Minuten den Atem anhalten. Dann setzte sein Überlebensinstinkt unwiederbringlich ein und er begann seine Lungen mit Wasser zu füllen.

 

Sobald sie ihre Anrede laut genug formuliert hatte, wurde es stiller um sie herum. Sie konnte ein erleichtertes Aufseufzen an Deck hören, doch sie wusste, dass es nicht lange anhalten würde. Sie musste schnell fortfahren.

 

„Mutter, bitte verschone diese unschuldigen Menschen an Bord. Sie können nichts für meine Verfehlungen. Sollte es etwas geben, wofür ich büßen soll, dann lass mich büßen. Doch verschone diese Menschen.“

 

Kaum hatte sie geendet, flaute der Sturm plötzlich ab. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann war nichts mehr zu hören von dem lauten, pfeifenden Wind, dem Knarren des Holzes unter dem mächtigen Gewicht der Wellen und Sonnenlicht fiel plötzlich durch die schmalen Schlitze in den Planken über ihrem Kopf. Sie hatte die Augen fest zusammengekniffen, doch nun öffnete sie sie wieder langsam und es kam ihr beinahe so vor, als wäre sie aus einem Traum erwacht. Nur ihr nasses Kleid und ihre zutiefst ruinierte Frisur zeugten noch von dem, was vor wenigen Minuten ihr Leben bedroht hatte.

 

Ungläubig blickte Maria hinauf an die Decke, wo sie aufgeregtes Hin- und Hergelaufen vernehmen konnte. Und als sie sich aufrappeln und zur Türe gehen wollte, um ebenfalls hinauf zu gehen und zu sehen, was dort oben passierte, stand auf einmal jemand vor ihr.

 

Ihr sank das Herz ganz tief in ihre zierlichen Füßchen herab und es setzte für ein paar Schläge seine Tätigkeit aus. Ihr blieb die Luft weg, doch als die Gestalt ins Licht trat, atmete sie wieder erleichtert auf. Überglücklich warf sie sich der Göttin in die Arme. „Mutter!“, schluchzte sie auf und vergrub ihr Gesicht an der Schulter von Atlacamani. „Was machst du hier?“

 

Die Göttin strich ihr zärtlich über das nasse Haar und löste vorsichtig die zerstörte Frisur auf, um sie mit ihren Fingern zu durchkämmen. Die wachsamen dunklen Augen blickten gütig auf ihre Tochter herab. „Auf dich aufpassen“, sagte sie nur schlicht und ihr schmaler Mund verzog sich zu einem ehrlichen Lächeln. „Denn es scheint mir, als könntest du ein wenig Hilfe gebrauchen. Dieses Schiff hat dich ziemlich weit von deinem ursprünglichen Weg abgebracht.“

 

„War es denn überhaupt mein Schicksal, jemals in Spanien an Land zu gehen?“ Marie konnte sich kaum vorstellen, dass hier etwas geschah, von dem die Göttin nichts wusste. Deswegen löste sie sich nun aus der Umarmung ihrer Ziehmutter und sah ihr in die beinahe schwarz wirkenden Augen. Das dunkle Haar hatte sie mit einem Band nach hinten gebunden, wo es ihr in einer Kaskade von Locken den Rücken herunter wallte. Hätte Maria nicht gewusst, wie alt sie in Wirklichkeit war, hätte sie sie für etwa fünfundvierzig geschätzt.

 

Atlacamani nahm ihre Tochter bei der Hand und führte sie durch das niedrige Wasser im Raum zum Bett zurück. Dort nahmen sie beide Platz. „Liebes Kind“, sagte die Ältere und streichelte der Jüngeren über die zarte Wange. „Natürlich solltest du nicht zu deiner Familie zurückkehren. So leid es mir tut, dich von ihnen fernzuhalten, doch ich brauche dich hier.“

 

Maria war nicht sonderlich überrascht. Der Sturm, der die Silberflotte zum Kentern gebracht hatte, hatte nur von der Göttin kommen können. Wieso sie allerdings auf der Flying Dutchman gelandet war, konnte sie nicht sagen. „Wozu brauchst du mich? Was soll ich tun? Wenn ich es wüsste, könnte ich vielleicht besser helfen.“

 

„Nein“, antwortete sie schlicht. „Ich kann es dir nicht sagen. Es würde deinen weiteren Weg zu sehr beeinflussen. Das einzige, was ich dir mitteilen kann, ist dies: jemand plant, die Piraten alle auf einen Schlag auszulöschen. Er will die Macht auf See neu verteilen und die Alte Welt durch seine neuen Gesetzte ersetzen. Das können wir Götter nicht zulassen!“

 

„Aber wieso hast du mir das nicht gesagt, bevor ich die Sümpfe verlassen habe?“ Maria war enttäuscht. Traute ihre eigene Mutter ihr etwa nicht mehr?

 

Atlacamani spürte, was ihre Tochter dachte, und legte ihr daher berühren eine Hand auf den Arm. „Ich konnte es dir nicht sagen. Du hättest sofort versucht, dieses Unheil auszulöschen. Und das wäre äußerst unklug gewesen. Ich kenne dich doch.“ Dabei lächelte sie und nahm ihren Worten die Härte. Maria wusste, dass sie Recht hatte. Wenn es etwas gegeben hätte, was ihre Heimat bedrohte, hätte sie ohne Zweifel sofort alles getan, um diese Bedrohung abzuwenden. Doch anscheinend wäre das der falsche Weg gewesen. Ergeben senkte sie den Kopf. „Was also soll ich tun, Mutter?“

 

Die Göttin erhob sich von der schmalen Pritsche, die Maria als Bett diente. Ihr Blick glitt in die Vergangenheit. „Vor über zweihundert Jahren beraubten die Spanier die Azteken und stahlen ihren Schatz. Doch die Kisten voll mit den erlesenen Kostbarkeiten kehrten nie dort ein, wo sie ursprünglich hingelangen sollten.“ Sie machte ein Pause. 

 

„Wo ist der Schatz jetzt?“, fragte Maria schließlich, als Atlacamani nicht weitersprach. Doch diese schüttelte nur müde den Kopf. „Das weiß niemand. Er ging auf der Fahrt nach Spanien verloren, erbeutet von einem Mann namens Fleury. Dann reißt die Spur ab.* Doch jetzt, nach so vielen Jahren, spüren wir ihn wieder, den Schatz. Er scheint heimzukehren. Und diejenigen, die ihn uns damals raubten, sollen nun mit dem Leben dafür bezahlen!“

 

Ihre Augen waren bei den letzten Worten so dunkel geworden, dass Maria das Weiße darin kaum noch sehen konnte. Eine Gänsehaut überzog ihren Rücken und ließ sie fröstelnd ihre Arme um ihren Oberkörper schlingen. Sie bekam ein äußerst ungutes Gefühl. „Und was habe ich damit zu tun?“, fragte sie unsicher, ängstlich vor der Antwort. „Immerhin fließt auch in meinen Adern das Blut der Spanier und der Franzosen. Wird die Rache der Götter auch mich treffen?“

 

Plötzlich wurde der Blick der Göttin ganz weich. Sie lächelte ihre Ziehtochter gütig und warm an und kam zu ihr hin, um sie in die Arme zu schließen. „Aber nicht doch, mein gutes Kind!“, sagte sie. „Dich trifft keine Schuld. Du sollst nur wieder gutmachen, was damals verbrochen wurde.“ Sie streichelte Maria sanft das wellige Haar, was nun langsam zu trocknen begann.

 

„Und wie soll ich das anstellen?“

 

Atlacamani ließ wieder von ihr ab. Ihre kleinen Hände legten sich an Marias Wangen, umfassten ihren Kopf sanft. Dann hauchte sie einen Kuss auf ihre Stirn. „Es gibt jemanden, der den Spaniern und den Franzosen die Stirn bieten kann. Mit seiner Unterstützung können wir den Schatz von Motēcuhzōma Xōcoyōtzin zurück in seine Heimat bringen und die Schuld der Sterblichen an die Götter damit begleichen. Doch du musst dich in Acht nehmen, Kind! Denn es gibt jemanden, der wohlmöglich in der Lage ist, uns Göttern zu befehlen. Wir wissen nicht, wie, doch wir können es spüren. Etwas zieht herauf.“

 

„Sag mir, was ich tun soll und ich tue es!“

 

Es folgte eine lange Pause, in der sich die beiden Frauen nur tief in die Augen sahen. Beide wussten, dass dies wohlmöglich das letzte Mal sein könnte, dass sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber traten. War dies vielleicht ein Abschied für immer? Würde am Ende einer der beiden sogar tot sein? War das möglich?

 

Maria wusste nicht, woher sie es ahnte, aber ein ziemlich schlechtes Gefühl griff nach ihrem Herzen und ließ es stocken.

 

„Verbünde dich mit dem Piraten, der den Sperling auf dem Arm trägt. Binde ihn ebenfalls an den Schatz und du kannst dir seiner Unterstützung gewiss sein. Nur er kann die Piraten zusammen rufen und ihnen gebieten, sich gegen die Übermacht zu behaupten.“

 

Und bevor sie noch ein Wort sagen oder Maria noch etwas fragen konnte, war Atlacamani verschwunden. Sie hatte sich einfach in Luft aufgelöst und nur ein wärmendes Gefühl dort zurückgelassen, wo noch vor einem Augenblick ihre Hände an Marias Wangen gelegen hatten. Traurig befühlte sie die kälter werdende Haut. Dann riss sie ein Ruf aus ihren Gedanken.

 

„Schiff an Steuerbord voraus!“, brüllte der Mann im Krähennest und binnen weniger Herzschläge war jedermann an Deck versammelt und blickte in die Richtung, in die der Ausgucker zeigte. Auch Maria war plötzlich da, quetschte sich neben Montoya nach vorne, um etwas sehen zu können.

 

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*Quelle: GEO EPOCHE Nr. 62 - 06/13. Piraten.

© by LilórienSilme 2015

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