LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 22
~ Light my Ire
Das Licht ging langsam wieder an, als die letzten Namen von Mitwirkenden über die Leinwand flimmerten und der Vorhang glitt zusammen. Ben atmete erleichtert ein und wieder aus. Der Film war richtig gut geworden. Und wie von selbst begann der Applaus erst ein wenig zögerlich, bis alle schließlich begeistert riefen.
Er hörte ein Schluchzen neben sich und sah zu Vittoria rüber. Während des Films hatte er beinahe ganz vergessen, dass sie neben ihm saß, und ihr Strahlen an diesem Abend traf ihn erneut ziemlich unvorbereitet. Zwei kleine Tränenspuren zierten ihre Wangen und er konnte sehen, dass ihre Augen noch ein wenig gerötet waren. Das Ende hatte sie offenbar ziemlich mitgenommen. Irgendwie machte sie das ein Stück weit sympathischer in diesem Moment.
Leider hatte er keine Taschentücher dabei. Also beschränkte er sich auf Konversation. Er beugte sich ein wenig zu ihr herunter und sagte: „Geht es dir gut?“ Dabei versuchte er aufmunternd zu lächeln.
Vittoria hatte der Film ausgesprochen gut gefallen. Es fiel ihr noch immer schwer, ihre ursprüngliche Idee, was sie schließlich als Drehbuch verfasst hatte, nun mit dem fertigen Produkt in Einklang zu bringen. Aber sie hatte doch immer wieder Aspekte wieder erkannt, die sie sich alleine in ihrem Arbeitszimmer ausgedacht und versucht hatte, in Dialoge zu bringen. Natürlich war ein Drehbuch nur ein Grundgerüst. Wenn sie wirklich wollte, dass man ihre innersten Gedanken zu den Worten wahrnahm, musste sie einen Roman verfassen.
Kurz dachte sie an zu Hause und ihre Arbeit. Sie hatte Jim ziemlich schnell nach ihrer Rückkehr angerufen, um irgendetwas zu tun zu haben. Er hatte sie mit Arbeit zugedeckt und sie hatte sich etwas herausgesucht, was ihr gefiel. Doch als sie sich ihr fertiges Werk erneut angesehen hatte, befriedigte es nicht einmal ansatzweise das erwartete Glücksgefühl, das sich immer eingestellt hatte, wenn sie etwas zu Ende gebracht hatte. Es war lasch, langweilig und total abgedroschen. So etwas würde sich nicht verkaufen.
Doch Jim hatte ihr versichert, dass es eine ihrer besten Arbeiten war. Und da war für sie der Punkt gekommen, dass sie daran dachte, aufzuhören. Natürlich hatte sich dieser Wunsch bisher noch nicht ganz manifestiert, aber er keimte langsam und stetig in ihrem Unterbewusstsein und wartete auf eine passende Gelegenheit, aus seinem Versteck zu kommen und zum Angriff zu blasen.
Sie sah Ben in die Augen und brauchte ein bisschen, bis der Sinn seiner Worte zu ihr durchgedrungen war. Ihr Gehirn hatte noch nicht wieder ganz auf Normalbetrieb zurückgeschaltet. Doch als sie sein dämliches Grinsen sah, dauerte es weniger als einen Wimpernschlag und sie war aus Narnia zurück gekehrt. „Es gibt keinen Grund, sich schon wieder über mich lustig zu machen, du unsensibler Klotz“, zischte sie als Antwort. Vielleicht war die Reaktion etwas zu heftig gewesen, überlegte sie für eine zehntel Sekunde. Doch dann entschied sie, dass es schließlich nur Ben war.
Sie drehte sich um, zeigte ihm ihren atemberaubenden Rückenausschnitt, der ihn kurz nach Luft schnappen ließ, und stolzierte mehr oder weniger würdevoll hinter Anna her. Während sie versuchte nicht hinzufallen legte sie sich im Kopf ein paar wirklich verletzende Schimpfworte zurecht, hauptsächlich auf Italienisch, doch er ließ ihr keine Gelegenheit, diese loszuwerden.
Vor sich hin grummelnd stapfte Ben hinter Skandar und Will her und überlegte sich, wie er wohl am besten ihre Leiche wegschaffen konnte. Doch er entschied, dass es viel zu sehr auffallen würde, wenn sie auf einmal nicht mehr da wäre. Ihn würde das nicht stören, aber Anna würde es mit Sicherheit irgendwann bemerken. Und er wäre definitiv der Erste, den man verdächtigen würde. Also begnügte er sich mit der Vorstellung, ihr auf der After-Show-Party aus dem Weg gehen zu können.
Vittoria schaffte es ohne hinzufallen in den Wagen zu steigen und zur Party zu fahren. Sie war so stolz auf sich selbst, dass sie ganz aufgeregt mit Anna und Georgie mitredete, als wäre sie erst sechzehn und auf dem Weg zu ihrem ersten Ball. Sie kam sich sogar ein wenig beschwingt vor und dachte nicht mehr daran, dass sie wieder einmal mit Ben aneinander geraten war.
„Aber ich habt euch nicht geprügelt“, sagte Georgie. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, was die Jüngere damit meinte. „Ja“, sagte sie schließlich, „ziemlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass wir bei dem Fototermin nebeneinander gestanden und beim Film sogar nebeneinander gesessen haben. Ich lehn mich mal weit aus dem Fenster und behaupte, dass es die längste Zeit war, die wir miteinander verbracht haben, ohne uns gegenseitig an die Gurgel gehen zu wollen.“ Den kleinen Ausflug in Prag erwähnte sie gar nicht erst. Niemand wusste bisher etwas davon und sie gedachte es dabei zu belassen.
Der Fahrer lenkte den Wagen einmal um den Block herum, fuhr fünfzehn Blocks Nordwesten und bog schließlich zweimal links ab. Auf der linken Seite tauchte die New York Public Library auf. Alles war hell erleuchtet und zwischen den meterhohen Säulen hingen drei überdimensionale Filmplakate. Das Linke zeigte die fünf Hauptdarsteller und Aslan, wie sie auf einem Hügel standen und in die Ferne blickten. Das Mittlere war eine Portraitaufnahme von Aslan. Dahinter leuchtete es goldenen, sodass man das Gefühl hatte, er würde einen mit seinem warmen, alles durchdringenden Blick genau ansehen. Das Rechte war eine Aufnahme des telmarischen Schlosses, wie es auf seinem Hügel thronte. Alle drei stießen ein synchrones „wow“ aus und Vittoria vergaß für ein paar Minuten ihre sonst so furchtsam gehütete Würde und kicherte wie ein kleines Mädchen mit den anderen beiden um die Wette. Ob es dort einen gut aussehenden Mann gab, mit dem sie tanzen würde?
Dieser Gedanke holte sie schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie hatte zwar den ein oder anderen Tanzkurz gehabt und würde von sich auch behaupten, die Schritte zu beherrschen, aber mit diesen Schuhen an den Füßen würde sie es wohl keine zwei Minuten überleben. Es sei denn der Mann war stark genug sie die ganze Zeit über zu stützen. Und sie verlor sich wieder in der Vorstellung von starken Armen, die sie über die Tanzfläche schweben ließen.
Zunächst jedoch schwebte sie ganz unsexy die Stufen hoch und versuchte so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen. Während die anderen noch Fotos von sich machen ließen, schlich sie sich an den Fotografen und Reportern vorbei und atmete erleichtert auf, als sie sich hinter der Tür in Sicherheit befand. Sie wartete noch, bis die beiden anderen Mädels auch soweit waren, dann schloss sie sich ihnen wieder an.
In der Lobby wartete man bereits mit einem Sektempfang auf sie und Anna und Vittoria griffen mutig zu den Gläsern mit der goldenen Flüssigkeit, während Georgie es bei einem Orangensaft bewenden ließ. Als sie ihren ersten Drink geleert hatten, folgten sie dem goldenen Teppich in den großen Saal.
Alle drei staunten nicht schlecht, als sie eintraten. Überall standen Bäume herum, als würde man sich in einem Wald befinden, und es gab sogar einen überlebensgroßen goldenen Löwen neben der Tür. Liam Neeson posierte in dem Augenblick neben ihm, als die drei Mädchen eintraten. Das Blitzlicht ließ Vittoria zusammen zucken und sie stellte sich schon auf einen erneuten Angriff von Paparazzi ein. Doch zu ihrem großen Glück blieb er aus. Stattdessen zog Anna sie neben den Hollywood-Schauspieler und sie musste wieder einmal für ein Foto posieren.
Als das Foto geschossen war, wollte sie schon flüchten, aber Liam hielt ihr eine große Hand hin. „Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“ Seine tiefe Stimme jagte ihr augenblicklich dieselbe Gänsehaut über den Rücken, die sie auch gehabt hatte, als Aslan im Film gesprochen hatte.
„Vittoria Marconi, Mr. Neeson“, sagte sie schüchtern. „Ich bin die Drehbuchautorin.“ Sofort breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Dann haben wir Ihnen diese großartigen Sätze zu verdanken!“, rief er, als hätte er gerade einen achten Kontinent entdeckt. „Wie fabelhaft. Ich hoffe, Sie können es mir verzeihen, dass ich ein paar Stellen abgeändert habe.“
Er zwinkerte ihr zu und sofort schoss ihr die Schamesröte wieder ins Gesicht. Sie räusperte sich um etwas Zeit zu gewinnen, denn offenbar erwartete er wirklich eine Antwort von ihr. „Wissen Sie“, sagte sie, „ich sehe meine Arbeit nicht als strikte Vorgabe. Man muss sich nicht unbedingt an die Angaben halten. Ich möchte eher eine Idee vermitteln, die genug Platz für Individualität lässt.“ Sie verstrickte sich mit ihm in eine Unterhaltung, die die Vor- und Nachteile der Zusammenarbeit zwischen Schauspieler und Drehbuchautor erläuterte, bis Andrew das Buffet eröffnete.
Anna und Georgie, die etwas gelangweilt zugehört hatten, nutzten die Gelegenheit, packten Vittoria jeweils bei einem Arm und zogen sie in die Richtung, in der sie das Essen vermuteten. Ein berauschender Duft hatte sich inzwischen ausgebreitet und ließ ihnen das Wasser im Mund zusammen laufen.
Sorgsam vermied es Vittoria, in die Nähe von Ben zu kommen. Sie wusste, dass sie gemein zu ihm gewesen war, sah aber keine Notwendigkeit darin, es zuzugeben oder sich gar bei ihm zu entschuldigen. Doch vermutlich hätte er das verlangt, wenn sie aufeinander getroffen wären. So zog sie es vor, einen Tisch aufzusuchen, der möglichst weit von seinem entfernt war. Und wenn möglich, noch ein paar Birken zwischen sich und ihn zu bringen.
Nach dem wirklich hervorragenden Essen sollte schließlich die eigentliche Party steigen. Eine Trennwand wurde bei Seite geschoben und so wurde Platz zum Tanzen geschaffen. Mittlerweile schienen Vittorias Füße jedoch schon so weit abgestorben zu sein, dass sie nicht einmal hätte rennen können, wenn ihr Leben davon abhinge. Sie brachte es gerade noch fertig, sich auf einen Barhocker an der Getränkequelle niederzulassen und dem Treiben aus sicherer Entfernung zuzusehen. Sie bestellte einen Dry Martini und rührte ein wenig lustlos mit dem Olivenspieß in der Flüssigkeit herum. Hoffentlich würde dieses Spektakel nicht allzu lange dauern.
Doch damit sollte sie kein Glück haben. Während die Schauspieler sie wohlweislich in Ruhe ließen, ignorierte der Regisseur alle Warnschilder, die ihn davon abhalten könnten, in eine Katastrophe zu laufen, und forderte die Drehbuchautorin zum Tanzen auf. Sie warf ihm einen Blick zu, der ihm eigentlich sagen sollte, was sie von dieser Idee hielt, aber das ließ er nicht gelten. Ergeben seufzte sie. „Einen Tanz“, sagte sie eindringlich, als er sie von dem Barhocker runter holte. Er nickte. Doch sie hatte noch nicht genug Martinis getrunken, um den Schmerz zu betäuben.
Nachdem sie eine Weile getanzt hatten, stellte Vittoria jedoch plötzlich fest, dass die Schmerzen weg waren. Sie warf einen Blick zurück zur Bar, wo der Barkeeper vorsorglich die ganzen leeren Gläser schon weggeräumt hatte. Vielleicht waren die sechs Getränke doch ausreichend gewesen. Sie hatte jedenfalls beinahe das Gefühl zu schweben.
Andrew seufzte nach dem dritten Stück und hielt an. „Was ist denn, alter Mann?“, sagte sie und lächelte ihn herausfordernd an. „Kannst du etwa nicht mehr?“ Hingegen ihrer Erwartungen hatte sie sogar richtig Spaß gehabt bisher und sah es keinesfalls ein, nur weil ihren Tanzpartner die Kräfte verließen, aufzuhören.
„Ich bin erledigt“, sagte er. Er verpasste ihr einen Knuff in die Seite. „Ah, Ben!“ Der Angesprochene war gerade dabei gewesen, neue Drinks für sich und Anna zu holen, die es sich an einem Tisch in der Ecke gemütlich gemacht hatte, als Andrew in aufhielt. „Würdest du abklatschen, Kaspian?“
Ben räusperte sich. „Ich bin gerade dabei“, sagte er und wollte sich schon wieder weg drehen, „etwas zu Trinken zu organisieren.“ Er wies mit dem Kopf in die Richtung, in der Anna saß. „Aber das kann ich doch erledigen!“, erwiderte Andrew schnell und in einem Tonfall, der keine Widerrede erlaubte. Widerwillig ergriff Ben Vittorias Hand, die Andrew ihm hinhielt und er konnte sehen, dass auch ihr nicht gefiel, wie sich der Abend zu entwickeln begann. Aber irgendwie waren sie beide nicht in der Lage, dem Regisseur zu widersprechen. Zum Glück, dachte er, wurde gerade kein langsames Lied gespielt. Vermutlich wäre er schreiend davongelaufen. Doch so war es einigermaßen erträglich.
Stumm tanzten sie eine Weile, beide trotzig und nicht gewillt, dem anderen in die Augen zu sehen. Noch immer lag der kleine Streit vorhin im Kinosaal wie ein dunkles Tuch über ihnen. Und es hätte niemanden überrascht, wenn plötzlich eine dunkle Gewitterwolke über ihren Köpfen aufgetaucht wäre und Blitze geschleudert hätte. Ben dachte an die alten Comics, wo in der Denkblase der betreffenden Person Bomben, Totenköpfe und andere schreckliche Sachen aufgetaucht waren.
Vittoria kochte innerlich. Eigentlich hatte sie gar nicht tanzen wollen, doch irgendwie hatte der Alkohol ihre Toleranzgrenze erheblich sinken lassen. Und jetzt war sie hier mit ihm. Sie verstrickte sich ganz in düstere Gedanke, wie sie ihn am besten erniedrigen konnte, doch schließlich, nach einer kunstvollen Drehung seinerseits, sagte sie erstaunt: „Wo hast du so Tanzen gelernt?“ Er konnte sehen, dass sie wirklich beeindruckt schien und er konnte nicht verhindern, dass seine Brust leicht anschwoll. „Als Spross einer echten Londoner Familie lernt man Tanzen, bevor man Laufen kann“, sagte er mit einem übertrieben arroganten Blick.
Sie knuffte ihn leicht auf die Schulter. „Und ich dachte, ihr reitet, bevor ihr lauft.“ Die schlechte Stimmung war zu ihrem großen Erstaunen plötzlich verschwunden. Die Gewitterwolke hatte sich verzogen.
„Auf Reiten steh ich auch“, sagte er trocken und fing sich gleich noch eine ein, begleitet von einem tadelnden Blick ihrerseits. „Ferkel“, flüsterte sie, in der Hoffnung, dass er es nicht hören konnte. Aber er hörte es doch, überging die Bemerkung aber einfach mit einem weiteren schiefen Grinsen.
Seine Hand lag locker auf ihrer Hüfte, und sie musste sich eingestehen, dass es sich auf eine subtile Art und Weise sogar recht angenehm anfühlte. Abgesehen von der Tatsache, dass sie lieber eine Kröte geküsst hätte, als sich von ihm führen zu lassen. Doch vielleicht konnte sie nachher an einem Weiher noch eine finden, um das nachzuholen. Das würde vielleicht die Erinnerung verdrängen, wie seine bloße Hand, kalt wie ein toter Fisch, in ihrer lag. War er nervös oder schwitzte er immer so beim Tanzen?
Als das Lied zu Ende war, wollte sie sich ihm schon erleichtert und mit einem Seufzer entziehen, doch er hielt sie weiterhin fest. Als er ohne zu stocken vom Discofox in die Rumba überging, zog er sie sogar noch etwas enger an sich heran. Ihre Hüften berührten sich nun beinahe. Verwirrt starrte sie auf den Ansatz seiner Krawatte, als sie merkte, dass sie rot anlief und selber auch anfing zu schwitzen. Sie wollte wieder auf Abstand gehen, doch sein erstaunlich fester Griff ließ das nicht zu. Geschmeidig und mit leicht entrücktem Blick führte er sie über die Tanzfläche.
Ohne es bemerkt zu haben war er in das Lied von den Doors hinübergeglitten. Er liebte das Tanzen, hatte es schon immer geliebt. Damals auf der Schauspielschule war es seine liebste Unterrichtsstunde in der Woche gewesen. Und sie war seltsamerweise eine angenehme Partnerin und gute Tänzerin. Eigentlich konnte er sie überhaupt nicht leiden, aber hierbei schienen sie irgendwie miteinander zu harmonieren. Normalerweise hätte er auch weiterhin an der alten Weisheit festgehalten, dass man beim Tanz seine wahren Gefühle zeigte, doch in diesem speziellen Fall und dieser speziellen Frau gegenüber konnte er sich mit diesem Gedanken keinesfalls anfreunden. Eher wäre er gestorben.
Stumm und Augenkontakt vermeidend tanzten sie weiter, bis das Lied dem Ende zuging. Formvollendet stellte er sein Bein aus und beugte sie über sein Knie dem Boden entgegen. Dabei berührte seine Hand leicht ihren Busen und ihre Gesichter kamen sich so nahe, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Er rechnete fest mit einem erneuten Wutausbruch und schloss in dessen Erwartung die Augen. Für ein paar Augenblicke verweilten sie in dieser Haltung, dann merkte er, dass nichts geschah, und sah sie wieder an.
Erstaunt blickte er in ihre weit geöffneten grünen Augen. Ihre Wangen begannen sich zu röten, als er sie weiterhin unverwandt ansah, und ihr Mund öffnete sich leicht. Er merkte, wie er selber schneller atmete und, ohne es verhindern zu können, fühlte er ein Kribbeln im Bauch. Ihm wurde heiß und seine Knie wurden weich.
Als er sie so im Arm hielt, den Rücken auf seinem Bein ruhend, schoss ihr plötzlich das Blut in den Kopf. Sie konnte nichts dagegen tun, doch sein Blick hielt sie in diesem Moment so gefangen, dass sie nicht fähig war, sich zu rühren. Es war, als wäre sie zu Stein erstarrt, und doch war sie Wachs in seinen Händen. Jetzt hätte er alles mit ihr tun können, dachte sie, und als ob er ihre Gedanken gehört hätte, senkte er plötzlich sein Gesicht zu ihrem hinab, bis sich die kleinen Härchen auf ihren Lippen streiften. Wie ein elektrischer Schlag durchfuhr es sie, dann ließ er ohne Vorwarnung wieder von ihr ab.
Unsicher stellte er sie auf ihre eigenen Beine zurück und dabei stellte sie ungläubig fest, dass sie beide am ganzen Körper zitterten, als hätten sie nicht getanzt, sondern wären einen Marathon gelaufen. Verlegen blickte sie sich um. Dabei merkte sie, dass einige Leute sie anstarrten. Und plötzlich brannte eine Sicherung in ihrem Kopf durch. Ohne auf den Schmerz in ihren Füßen zu achten, denn die Wirkung des Alkohols war auf einmal verflogen, lief sie davon und ließ ihn mitten auf der Tanzfläche allein zurück.
Sie rannte zu den Toiletten und schloss sich in eine Kabine ein. Heftig atmend lehnte sie sich mit dem Rücken an die Tür und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, merkte, dass das durch die Haarklammern und die zwei Tonnen Haarspray nicht möglich war, und fuhr sich über ihr Gesicht. Ihre Finger blieben auf ihren Lippen liegen.
Ganz leicht konnte sie das Knistern noch fühlen, wie es ihre Haut prickeln ließ. Es hatte sich angefühlt wie wenn man mit Ledersohlen über einen Teppich ging und danach die Hand nach der Türklinke aus Metall ausstreckte.
Heftig schüttelte sie den Kopf, um jegliche Gedanken an die letzten drei Minuten zu vertreiben. Ohne sich zu verabschieden schlich sie sich nach draußen, sorgsam darauf bedacht, dass sie niemand sehen oder aufhalten konnte. Sie hätte Andrew und Anna gerne noch einmal in den Arm genommen und sich bei ihnen bedankt. Aber es graute ihr davor wieder den Saal zu betreten. Sie wollte ihm nicht über den Weg laufen.
In der Lobby zog sie sich ihre Schuhe aus, ließ sich ein Taxi rufen und fuhr zurück ins Hotel. Dort packte sie schnell ihre Sachen zusammen, zog sich das Kleid aus, warf es etwas unsanft zurück in den Kleidersack, stopfte es zu den anderen Klamotten in den Koffer und rannte, weiterhin barfuß, jetzt aber mit Jeans und Pullover bekleidet, zur Rezeption ihres Hotels. Sie checkte aus, bezahlte die Rechnung und fuhr zum Flughafen. Dort ließ sie sich ihren Flug umbuchen und saß nur dreißig Minuten später in einer Maschine, die sie wieder nach England brachte.
Jemand rüttelte sie sanft an der Schulter und sie schreckte hoch. Zum Glück hatte sie in all der Eile nicht vergessen, ihre Tabletten zu nehmen. Und die Stewardess war so nett gewesen und hatte sie geweckt, als sie gelandet waren. Nun streckte sich Vittoria und warf einen Blick nach draußen auf das Rollfeld. Sie konnte den Flughafen im Licht der Morgensonne leuchten sehen und atmete erleichtert auf. Es war also doch kein Traum gewesen. Sie war aus New York entkommen.
Als sie auf ihren Koffer wartete, warf man ihr anerkennende Blicke zu. Sie trug noch immer das Make-up der Party und auch ihre Haare sahen noch einigermaßen gut aus. Die silbernen Schuhe taten ihr Übriges. Sie lächelte ein wenig schüchtern zurück, als ein Mann etwa in ihrem Alter sie offen anflirtete. Er half ihr sogar dabei den Koffer vom Band zu holen. Artig bedankte sie sich und ergriff schnell die Flucht. Mit noch mehr Männern wollte sie heute nichts mehr zu tun haben.
Sie nahm sich ein Taxi zu sich nach Hause und stellte, als sie in ihre Straßen einbog, erleichtert fest, dass hier noch alle schliefen. So konnte sie ihre Flucht unbeirrt und unbehelligt fortsetzen. Schnell bezahlte sie den Fahrer und flüchtete nach drinnen. Trotz besserem Wissen hatte sie Angst davor, dass man ihr doch gefolgt sein könnte. Und erst, als die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel, fühlte sie sich wieder sicher.
Völlig erschöpft ließ sie ihren Koffer im Flur stehen, streifte nur ihre Schuhe ab und kroch samt ihren Klamotten in ihr Bett. Erleichtert seufzte sie auf. Und bevor sie noch einen Gedanken an den Abend, an Ben oder den Fast-Kuss verschwenden konnte, war sie auch schon eingeschlafen.