LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 22
~ Blood has to be repaid
Leichter Seegang weckte Angelica im Morgengrauen. Ihr Magen fühlte sich seltsam leer an, doch sobald sie sich ein wenig gerührt hatte, begann er zu rebellieren. Schneller, als sie gedacht hatte, sich bewegen zu können, beugte sie sich vor und musste sich übergeben. Als sie fertig war, wischte sie sich den Mund mit einem Zipfel ihrer dünnen Bettdecke ab. „Ich kann mich nicht erinnern, so etwas gegessen zu haben“, murmelte sie überrascht und ließ sich erschöpft wieder zurück sinken.
Doch sobald ihr Kopf das weiche Kissen darunter berührt hatte, schnellte sie wieder hoch. Wo zum Teufel war sie hier nur gelandet? Sie sendete ein stilles Stoßgebet an Gott, dass er sie bitte nicht in Jacks Nähe gelassen hatte, schloss dabei inbrünstig die Augen und faltete die Hände gehorsam zusammen. Als sie fertig war, öffnete sie erst das eine, dann das andere Auge und sah sich aufmerksam um.
Der Raum, in dem sie sich befand, lag zweifellos nicht unter Deck, denn sie konnte durch ein großes Fenster auf den Ozean davor blicken, wie er im Sonnenlicht vor sich hin glitzerte. Die Freude darüber, von dieser verfluchten Insel herunter zu sein, ließ sie beinahe ihre Vorsicht vergessen. Doch sie konnte sich im letzten Moment noch zusammenreißen und erst einmal in Ruhe ihre Gedanken sortieren. Was war das Letzte, woran sie sich erinnern konnte?
Sie wusste noch ziemlich genau, dass sie auf eine Palme geklettert war, um sich eine dieser blöden Kokosnüsse zu besorgen, die sie von unten gesehen hatte. Dabei hatte sie sich ihre Fußsolen aufgeschnitten.
Schnell überprüfte sie ihre nackten Füße, die zu ihrer großen Überraschung jedoch von weichen Verbänden umgeben waren und nur noch leidlich schmerzten. Offenbar hatte sie nicht nur jemand gefüttert, sondern sich auch um ihre Wunden gekümmert. Doch wer besaß so viel Güte, sich um eine Schiffbrüche zu kümmern? Wenn derjenige ein Pirat war, was noch nicht zweifelsfrei widerlegt werden konnte, wusste er garantiert, wieso man sie auf dieser Insel zurückgelassen hatte. Nur Meuterern wurde solch ein Schicksal zuteil. Und wenn derjenige von ihrem möglichen Verbrechen wusste, wieso holte er sich so jemanden nur an Bord?
Sie beschloss, dass sie hier keine Antworten finden würde. Also schlug sie die Decke vollständig zurück, bemerkt dabei, dass man ihr sogar frische Kleidung angezogen hatte, und stellte sich unsicher auf die Füße. Ihre Beine zitterten ein wenig, als sie sie belastete, doch nach einer kurzen Verschnaufpause konnte sie ein paar Schritte wagen.
Offenbar war sie ziemlich kraftlos, obwohl man ihr etwas zu Essen eingeflößt hatte. Doch sie hatte ja keine wirkliche Ahnung davon, wie lange sie bewusstlos auf der Insel gelegen hatte, bevor man sie gefunden hatte.
Ein kurzer Gedanke durchzuckte sie. War da nicht ein kleines Gesicht unter einem großen Hut gewesen? Ein Gesicht, dunkel von der Sonne verbrannt und mit vielen Falten durchzogen, wie bei einem sehr alten Mann...
Sie schüttelte ihren Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Damit konnte sie sich später befassen. Nun musste sie erst einmal herausfinden, auf wessen Schiff sie hier war und wer der Captain war. Und sie musste wissen, ob der Captain wusste, wer sie überhaupt war. Beim Aufstehen fiel etwas vom ihrer Matratze herunter und landete mit seinem leisen Plomp neben ihren nackten Füßen auf dem Boden. Sie drehte sich danach um und erkannte die Puppe, die das Schicksal ihr auf der Insel an Land gespült hatte.
Vorsichtig bückte sie sich danach und hob sie auf. Offenbar war sie völlig unversehrt. Das würde sie bei Gelegenheit ändern, beschloss sie. Wenn sie eine kleine Nadel fand, die sie der Puppe in ihr Strohherz rammen konnte. Oder vielleicht würde sie ihr auch den Arm nach oben verdrehen oder ein Bein. Damit konnte man sich so viele herrliche Dinge einfallen lassen.
Sie steckte das hässliche Ding in ihren Gürtel, dann hangelte sie sich an den Möbeln entlang zur Türe, denn der Seegang, auch wenn er nur sehr leicht war, machte ihren wackeligen Beinen doch sehr zu schaffen. Außerdem wurde ihr schnell schwarz vor Augen, wenn sie sich zu sehr anstrengte. Und mittlerweile verspürte sie auch einen leichten Hunger, obwohl sie sich vor ein paar Minuten noch übergeben hatte. Vermutlich war der deftige Eintopf, den sie zweifelsfrei in den Stückchen erkannt hatte, die sie hochgewürgt hatte, doch etwas zu viel für ihren leeren Magen gewesen. Sie würde es mit ein wenig Pökelfleisch und vielleicht einem Apfel versuchen. Das erschien ihr weniger verfänglich.
Die Tür der großen Kajüte klemmte ein wenig und sie musste sich mit ihrem gesamten Gewicht dagegen stemmen, um sie öffnen zu können. Dann blinzelte sie mit einem Mal in helles Sonnenlicht und sie musste die Hände vor die Augen nehmen, um sich dagegen ein wenig abzuschirmen. Wohlmöglich hatte sie länger geschlafen, als ihr lieb war. So konnte sie auch nicht sehen, wie ein älterer Mann auf sie zugeschlendert kam. Erst, als er das Wort an sie richtete, wurde sie sich seiner bewusst. „Ihr seid aufgewacht, wie schön! Geht es Euch gut?“
Seine Stimme war tief und angenehm. Und ganz tief in ihrem Langzeitgedächtnis regte sich etwas. Sie kannte diese Stimme!
Angelica presste ein paar Mal ihre Lider fest zusammen, bis sich ihre Augen endlich an das helle Licht gewöhnt hatten. Dann betrachtete sie den Mann, der vor ihr stand. Er war gute zehn Zentimeter größer als sie, wirkte aber durch seine leicht gebückte Haltung kleiner, als er tatsächlich war. Sein Gesicht lag im Schatten seines mächtigen Hutes, doch sie konnte trotzdem die drei langen geflochtenen Zöpfe sehen, die von seinem Kinn herab hingen, sowie die dicken Haarsträhnen, die seitlich um sein Gesicht lagen. Im ersten Moment rutschte ihr das Herz ganz tief in ihre Hosen hinein, doch dann fasste sie sich wieder.
„Captain Teague!“, rief sie erfreut aus, den Vater erkennend und nicht den Sohn, wie sie erleichtert feststellte. Sie war zwar immer noch sauer auf Jack, doch eine Konfrontation in ihrer Verfassung würde für sie nicht gut ausgehen. Und wenn sie schon auf ihn treffen musste, wollte sie auch sicher sein, dass sie ihn richtig traf.
Der alte Mann breitete seine Arm aus und sie warf sich hinein. „Was für eine Freude, dich wach zu sehen, kleiner Engel.“ Die Falten gruben sich noch tiefer in seine Wangen ein, als er seinen Mund zu einem ehrlichen Lächeln verzog. Dann löste er die Umarmung wieder und hielt sie ein Stück von sich weg, damit er sie besser betrachten konnte. „Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“
„Dann habt Ihr mich also gerettet.“ Sie war ehrlich erleichtert. „Danke! Ich weiß nicht, wie lange ich noch durchgehalten hätte.“ Und wie, um ihre Worte zu bestätigen, knurrte ihr Magen ziemlich laut.
Edward Teague lachte lauthals, dann führte er sie unter Deck, wo bereits der Tisch für das Mittagessen gedeckt war. Dabei ignorierte er die neugierigen Blicke seiner Mannschaft, die alle zu erfahren hofften, wer denn nun diese wundervolle Frau an Bord der Venganza war. Doch, wie schon so oft in der Zeit, in der Captain Teague dieses Schiff übernommen hatte, mussten sie vorerst im Dunkeln tappen.
Unter Deck staunte Angelica nicht schlecht über die Auswahl, die ihr hier präsentiert wurde. Scheinbar hatten sie erst vor Kurzem einen Hafen angelaufen. Anders konnte sie sich diese Vielfalt nicht erklären. Trotzdem hielt sie sich an ihren Vorsatz und aß nur ein wenig mageres Fleisch und lehnte Wein und Rum ab. „Ich will meinem Magen nicht zu viel zumuten. Der Eintopf, den Ihr mir gegeben habt, kam leider wieder heraus.“ Sie tätschelte sich leicht ihren Bauch zum Beweis ihrer Worte.
Teague winkte ab. „Keine Sorge, das wird schon jemand aufwischen. Aber jetzt sag, kleiner Engel“, und dabei beugte er sich über den Tisch zu ihr hin, „wie bist du auf diese Insel gekommen?“
Sie druckste ein wenig herum, weil sie keine Ahnung hatte, wie der Vater auf die Taten seines Sohnes reagieren würde, doch der Captain kam ihr wie immer zuvor und überraschte sie mit seinem detaillierten Wissen. „Ich weiß, dass Jackie dich ausgesetzt hat, nachdem ihr von der Quelle zurückgekehrt seid. Aber wieso hat er dich nicht mitgenommen?“
Erstaunt sah sie ihn an. „Woher...?“ Doch sie brach die Frage wieder ab, als er nur einen kurzen Blick auf die Voodoo-Puppe in ihrem Gürtel warf. Sie räusperte sich, bevor sie fortfuhr. „Ich vermute, dass er mir nicht mehr traut, nachdem ich ihn erschießen wollte.“ Dabei setzte sie einen überheblichen Ausdruck auf und hoffte, damit ihre Schuldgefühle verstecken zu können.
Mit einem Lauten „Ha!“ lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und lächelte schon wieder. „Das sieht meinem Jungen ähnlich, eine hilflose Frau auf einer einsamen Insel zum Verdursten zurückzulassen, weil er sich vor ihrem Temperament fürchtet. Aber er war ja noch nie besonders einfühlsam.“
Dem musste Angelica wohl oder übel zustimmen. Ihre gemeinsame Vergangenheit hatte ihr schon oft genug gezeigt, wo sie bei ihm dran war. Allerdings war da auch immer noch dieses winzige Bisschen, was sie nie richtig einzuschätzen gelernt hatte. Etwas, das so anders war als der Rest, den Jack Sparrow der Welt zeigte. Was das war, hatte sie aber leider bisher noch nicht herausfinden können. Und mittlerweile wollte sie es auch gar nicht mehr. Nun wollte sie ihm eigentlich nur noch eine Kugel ins Herz jagen.
„Ich sehe schon“, sagte er und wies mit einem seiner krummen Finger auf ihr nachdenkliches Gesicht, „du bist wütend auf ihn. Das kann ich dir nicht mal verübeln. Ich wäre an deiner Stelle auch ziemlich ungehalten.“ Er lehnte sich wieder gemütlich zurück und verschränkte die Hände über seinem Bauch. „Doch wie es das Schicksal so will, braucht Jack Sparrow dich.“
Angelica horchte auf. „Er braucht mich? Wofür sollte er mich schon brauchen können?“ Verächtlich und ungläubig spießte sie eine Tomate auf eine Gabel und beobachtete genüsslich, wie der rote Saft herauslief und sich auf ihrem Teller zu einer Pfütze sammelte.
Anstelle einer direkten Antwort stand Captain Teague auf. Mit ein paar schnellen Schritten war er bei dem einzigen Schrank, der sich in diesem Zimmer finden ließ, und öffnete ihn. Er nahm eine große, bauchige Flasche heraus und stellte sie vor ihr demonstrativ auf den Tisch.
Vor Schreck weiteten sich ihre Augen und sie starrte die Flasche an, als würde sie sie zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Hatte sie noch vor ein paar Sekunden geglaubt, dass dieser Schatz mit dem Tod ihres Vaters verschollen war, wurde sie nun eines Besseren belehrt. Natürlich hatte jemand die Queen Anne‘s Revenge an sich genommen, doch hatte sie noch gedacht, dass es Hector Barbossa gewesen war. Wie war Edward Teague nun in den Besitz dieser Flasche gekommen? Und was hatte Jack mit alledem zu tun?
Ihr schwirrte plötzlich der Kopf, als sie an die Folge dessen dachte, was sich ihr gerade so schamlos auf dem Esstisch präsentierte. Denn wenn es wahr war, was der alte Mann ihr gerade gesagt hatte, dann besaß Jack nicht nur diese eine Flasche, die er vermutlich seinem Vater zur Obhut gelassen hatte. Nein, vermutlich besaß er alle Flaschen. Und sie konnte sich genau vorstellen, was er damit gedachte zu tun.
„Engelchen, er braucht dein Blut.“