LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 22
~ Kriegsrat
Nachdem sein Sohn davongeritten war, sah Delos ihm noch eine Weile nach. Seine Gedanken kreisten so schnell, dass er sich nicht dazu entschließen konnte, was er nun tun sollte. Es schien alles wichtig zu sein und doch war es das wiederum nicht.
Er zwang sich zur Ruhe. Er musste nun einen klaren Kopf bewahren, musste vernünftig entscheiden, was getan werden musste. Und er musste an alle Eventualitäten denken. Darauf kam es nun an.
Es war noch früh am Morgen, die Sonne war noch nicht vollständig aufgegangen. Und als er in sein Haus zurückkehrte, kam Díhena gerade die Treppe zu den Schlafgemächern herunter. Ihr Gesicht war blass und sie wirkte erschrocken. „Die Betten der jungen Herren sind leer“, sagte sie. „Wo sind Eure Söhne, mein Herr? Habe ich nicht gesehen, wie Carim in der Nacht zurückkehrte?“
„Kümmere dich nicht darum“, sagte Delos und machte eine wegwerfende Handbewegung. Er trank seinen Pokal leer, der noch auf dem Tisch stand. „Hol mir Tarias und Oranor. Ich möchte sie augenblicklich sprechen.“ Wenn sie an diesem Wunsch etwas merkwürdig fand, ließ sie sich nichts anmerken. Sie verbeugte sich knapp und eilte hinaus.
Wenig später kehrte sie mit den gewünschten Elben zurück. Beide waren noch nicht angemessen gekleidet für eine Ratssitzung und wirkten ein wenig verwirrt, doch sie grüßten Delos höflich. „Setzt euch“, sagte er und deutete auf zwei Stühle. Er ließ sich ihnen gegenüber nieder und betrachtete sie über den Tisch hinweg. „Kann ich euch etwas zum Trinken anbieten?“ Als sie verneinten, schickte er Díhena weg. Er konnte sich keine weiteren Ohren leisten.
Nur widerwillig verließ Díhena das Haus. Hatte sie es sich wohlmöglich eingebildet, dass ihr kleiner Herr nach Hause gekommen war? Doch das konnte nicht sein. Sein Bett hatte ausgesehen, als hätte er noch in der Nacht darin gelegen. Doch wieso war er schon wieder verschwunden? Hatte Delos ihn gezwungen, die Nacht auf den Klippen zu verbringen, wie er es früher getan hatte, wenn sie unartig gewesen waren?
Sie schämte sich dafür, dass sie nicht mehr für die beiden da gewesen war. Vielleicht hätte sie mehr tun können, als ihnen nur Geschichten zu erzählen und ihnen das Essen zu bereiten. Doch dann schallt sie sich selbst eine Närrin. Gegen Delos‘ Willen hatte sie noch nie etwas ausrichten können. Wie konnte sie sich einbilden, dass sich das geändert hätte.
Mit gesenktem Kopf kehrte sie dem Herrenhaus den Rücken und machte sich auf den Weg zum Brunnen. Wenn er ihr nicht verriet, was geschehen war, würde sie es spätestens mit allen anderen erfahren. Dass Delos nach Tarias und Oranor hatte schicken lassen, konnte nur bedeuten, dass etwas Großes bevorstand.
Im Haus herrschte Schweigen, seit Díhena es verlassen hatte. Und als es zu drückend wurde, ergriff Oranor schließlich das Wort. „Nun“, sagte er. „Warum hast du uns zu dieser unrühmlichen Stunde aus unseren Häusern holen lassen?“ Seine blauen Augen funkelten im Schein des Feuers. Die Läden waren noch immer geschlossen und es herrschte eine stickige Atmosphäre.
Delos lehnte sich vor, verschränkte die Hände ineinander und sah beide nacheinander eindringlich an. Der jüngere von ihnen, Tarias, hatte sich mit verschränkten Armen zurückgelehnt. Seine dunklen Augen lagen tief in den Höhlen und sein Gesichtsausdruck ließ sich schwer deuten. „Es ist an der Zeit, dass wir das in die Tat umsetzen, wovon wir seit Jahren nur gesprochen haben.“
„Was soll das bedeuten?“ Oranor war sichtlich verwirrt. Er hatte nie sonderlich schnell begriffen, um was es ging. Doch in Tarias‘ Gesicht kehrte nun Leben ein. „Und du meinst deine Worte ernst, Delos?“, fragte Tarias. „Ich bin nicht so früh aufgestanden, um mir erneut irgendwelche Geschichten von dir anzuhören. Zu oft schon hast du mit deinen Reden die Leute in Unruhe versetzt. Wenn du jetzt weitersprichst, verlange ich von dir, dass es die Wahrheit ist. Und dass es bald geschieht.“
Delos erhob sich abrupt. Er stemmte die Hände vor sich auf die Tischplatte und beugte sich so weit vor, wie das Holz es zuließ. „Dieses Mal ist es ernst.“ Und er erzählte ihnen, dass Carim auf dem Weg war, um eine Botschaft zu überbringen, die dafür sorgen könnte, dass es zu einem Krieg kam.
„Aber“, sagte Oranor, „wir sind nicht auf einen Krieg vorbereitet. Unsere Männer können kaum mit einem Schwert umgehen. Geschweige denn, dass wir für jeden von uns ein Schwert hätten. Das ist Wahnsinn.“
„Es ist notwendig“, sagte Delos ruhig, obwohl sein Herz wie wild gegen seinen Brustkorb klopfte, als würde es ihn sprengen wollen. „Habt ihr es nicht auch satt, dass wir hier am Rande der Welt leben? Das Meer spült die Klippen, auf denen wir hausen, immer weiter aus. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie irgendwann einmal einstürzen. Und während wir hier sprechen, sitzen die Caradhrim gemütlich in ihren befestigten Häusern, essen das Obst, was ihnen vom Baum direkt in den Mund fällt, und trinken Wein direkt von den prallen Reben. Und was bleibt für uns? Die Verbannung!“
Tarias legte die Hände flach auf seine Knie. Er begegnete Delos‘ Blick gelassen. „Haben wir uns nicht damals selbst für dieses Leben entschieden? Ich für meinen Teil bin dir freiwillig gefolgt.“ „Und warum bist du mir damals, vor so vielen Jahre, gefolgt?“
Darüber musste Tarias nicht lange nachdenken. Noch immer stieg Wut in ihm hoch, wenn er an die Demütigung zurückdachte, die er hatte ertragen müssen. Seine Fingerknöchel knackten. Delos hatte Recht, musste er sich eingestehen. Doch waren sie schon bereit dafür?
„Es versetzt dich genauso in Aufruhe wie mich, Bruder“, sagte Delos. Er entfernte sich vom Tisch, trat an den Kamin heran und stemmte einen Arm gegen die Mauer über der Feuerstelle. Die Flammen brannten nicht sehr heiß, doch sie erwärmten sein Gesicht. „Die Vergangenheit kann nicht geändert werden. Doch wir können uns für diese Schmach rächen. Und das werden wir tun.
Wenn mein Sohn erst einmal zurückkehrt, wird er uns etwas mitbringen, was uns die Entscheidung bringen kann. Und bis dahin müssen wir vorbereitet sein. Lasst alles Metall einschmelzen, was wir nicht benötigen: Arbeitsgeräte, Eimer, Töpfe. Und dann lasst Waffen daraus machen. Geht in den Wald und besorgt das beste Holz, um Bögen und Pfeile daraus zu machen. Wir werden uns rüsten. Und wenn Carim wieder da ist, ziehen wir in den Krieg.“
Seine Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Sofort konnte er den Glanz in den Augen der beiden Elben sehen. Sie erhoben sich, stellten sich grade und aufrecht hin, legten ihre rechte Faust auf ihr Herz und verbeugten sich leicht vor ihm. Dann verschwanden sie, um seine Befehle an alle Ohren im Dorf zu tragen.
Noch bevor die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, klirrten die Ambosse unter den Hammerschlägen, die Metall in Form brachten. Kinder liefen umher, jagten Hühner und wilde Tauben, um Federn für Pfeile zu gewinnen. Die Frauen trugen Eimer voll Wasser vom Brunnen zu den Schmiedestellen, um das heiße Metall herunter kühlen zu können.
Zufrieden betrachtete Delos die jungen Männer, die sich vor ihm auf dem Übungsplatz versammelt hatten. Alle, die nicht als Handwerker gebraucht wurden, hatten sich hier eingefunden, damit er ihnen zeigen konnte, wie man kämpft. Einige waren schon älter, etwa so alt wie er selbst. Andere waren im Alter seiner Söhne. Doch wenn er ihnen zeigen konnte, wie man ein Schwert führte, dann würden sie zu Kriegern werden, die das friedliche Volk am Fuße des Pelóri das Fürchten lehren könnten.
Eine Woche lang trainierte er mit ihnen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, bis ihre Muskeln schmerzten und sie ihre Waffen kaum noch halten konnten. Erst dann gönnte er ihnen einen ganzen Tag Ruhe. Und sich selbst auch.
Er kehrte in sein Haus zurück, als die Sterne bereits am Firmament leuchteten, und ließ sich erschöpft in seinen Sessel am Feuer sinken. Er rief nach Díhena, doch sie antwortete nicht. Wo steckte dieses Weib, wenn er sie einmal wirklich nötig hatte?
Widerwillig erhob er sich, ging nach oben in die Zimmer seiner Söhne, durchsuchte das gesamte Haus und alle Nebengebäude, doch seine Dienerin war nicht aufzufinden. Nur eine Stallmagd war da. Diese wies er gleich an, ihm ein Bad vorzubereiten. Sie nickte ergeben und eilte schon mit zwei Eimern davon.
Als er endlich in dem heißen Wasser lag und seine Verspannungen sich ein wenig lösten, hatte er genug Ruhe, um über die vergangenen Tage nachzudenken. Viel hatte sich in der kurzen Zeit verändert. Doch bereit waren sie noch nicht.
Was ihn jedoch mehr beunruhigte, war, dass Carim noch nicht wieder zurückgekehrt war. Hoffentlich hatte es keine Schwierigkeiten bei dem Raub gegeben. Wenn man ihn entdeckt hatte, war sein ganzes Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Daher war es so wichtig, dass alles nach Plan lief.
Seufzend ließ er sich zurücksinken. Wenn sein Sohn sich nicht allzu dumm anstellen würde, sollte es jedoch gelingen. Und wenn es gelang, dann war ihm der Sieg gewiss. Er sah sich bereits, wie er im Triumph nach Valmar zurückkehrte, in die Stadt, die ihm so viele Jahrhunderte eine Heimat gewesen war und aus der er vertrieben wurde, von einer völlig Fremden.
Er hatte einmal, vor langer Zeit, Geschichten über mich gehört. Doch er wusste nicht, ob sie der Wahrheit entsprachen. Wie konnte es sein, dass eine einzige Elbe so sehr das Schicksal eines ganzen Volkes beeinflussen konnte? War es tatsächlich wahr, dass ich gegen Orome, den großen Jäger, gekämpft hatte, wenn auch nur zum Spaß?
Doch Delos schüttelte den Kopf. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Geschichten der Wahrheit entsprachen. Auch wenn er wusste, dass Mittelerde ein Ort voller Kriege gewesen war, die vor allem Melkor entfacht hatte mit seinem bösen Willen. Doch dieses Land war für ihn so weit weg, wie die Unterwelt selbst.
„Mein Herr“, erklang eine dünne Stimme von jenseits der Türe, die das Badezimmer vom Rest des Hauses abtrennte. Die Magd, die Delos das Bad bereitet hatte, betrat schüchtern den Raum. „Ihr habt mich gerufen?“
Delos erhob sich aus dem Wasser. „Ja, Nella. Bereite mir eine Mahlzeit vor. Ich muss bei Kräften sein, wenn mein Sohn zurückkehrt. Hast du Díhena gefunden?“
Nella wandte sich respektvoll ab, als er sich trocknete und einen Mantel überwarf. „Nein, Herr“, sagte sie leise. „Es scheint, als sei Díhena wie vom Erdboden verschluckt. Ich konnte sie weder im Haus, noch am Brunnen, noch in ihrem Zimmer finden. Ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist. Und niemand hat sie gesehen, Herr.“
Er überlegte eine Weile. Doch dann entschied er sich, dass es nicht wichtig war. „Nun gut“, erwiderte er schließlich, knotete den Mantel zu und ging an Nella vorbei aus dem Zimmer. „Dann wirst du von nun an mein Haus sauber halten, mir Mahlzeiten kochen und meine Kleidung sauber halten.“
„Ja, mein Herr. Das werde ich.“ Insgeheim hasste sie Díhena dafür, dass die alte Matrone einfach verschwunden war. Sie hatte Delos immer unheimlich gefunden. Und nun musste sie den Platz der Alten einnehmen und ihm an ihrer Stelle dienen. Sie hätte sich weit Besseres vorstellen können. Doch es blieb ihr leider keine andere Wahl.
Als Delos gegessen hatte, trat er an das große Fenster neben der Türe. Sein Blick blieb auf den Horizont gerichtet, in der Hoffnung, er würde bald die Silhouette seines Sohnes auftauchen sehen. Doch stattdessen blickte er in ein dickes Wolkengebilde. Fröstelnd zog er den Mantel enger um seine Schultern. Einen Sturm hatte es seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben.
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Namensbedeutung:
nella- - Glocken erklingen lassen
Pelóri - Die Pelóri (Quenya für „Umringende Höhen“) waren ein gewaltiger Gebirgszug, der von Norden nach Süden im Osten Amans verlief.