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Kapitel 22

 

~ Misery

 

Sometimes these cuts are so much

Deeper then they seem

You'd rather cover up

 

Der Tag, um das neue Vertrauen Joes in ihre Freundin Emily zu erproben, kam für ihren Geschmack viel zu schnell. Mittlerweile waren die Dreharbeiten schon fast drei Monate weit fortgeschritten und viele neue Freundschaften hatten sich unter den Schauspielern gebildet. Neue Mitglieder der Crew hatten sich mit alten angefreundet, die schon damals bei der Mittelerde-Trilogie mitgewirkt hatten, und alte Freundschaften waren aufgefrischt worden.


Da Emily noch zu jung war, um bei Der Herr der Ringe schon angestellt gewesen zu sein, hatte sie sich dank ihrer offenen und lockeren Art aber schnell mit anderen aus dem Art Department zusammengetan. Das wollte sie nun auch für Joe tun.

Die Designerin sah dem ganzen sehr skeptisch entgegen, hatte sich doch seit ihrem Ausspruch vor ein paar Tagen nicht viel ereignet. Sie hatten die Dreharbeiten für Bruchtal zwar abgeschlossen, doch genauso wie Ian McKellen würde man Cate Blanchett und Hugo Weaving auch noch eine Weile brauchen. Joes Arbeit aber war erst einmal als Erfüllt betrachtet worden und Pete hatte sie fürs Erste zurück in ihr Atelier geschickt, wo sie sich mit Feuereifer an die Entwürfe zu Rüstungen für Elbenkrieger aus dem Düsterwald gemacht hatte. Da man diese vorerst noch nicht benötigte, hatte sie noch etwas Zeit damit gelassen. Nun musste sie sie aber bald fertig bekommen.

An so einem Tag, es war donnerstags und das Wetter zeigte sich typisch neuseeländisch für diese Jahreszeit, saß sie gebeugt über ihrem Tisch, hatte sich einen Haufen Stifte, Pinsel und Farben zurecht gelegt und zeichnete eifrig. Draußen nieselte es bereits seit zwei Tagen und die Temperaturen waren mittlerweile unter die 10-Grad-Marke geklettert. Doch um die Heizung anzumachen war es noch zu warm. Deswegen hatte sie sich in einen kuscheligen Kapuzenpulli gehüllt und die Ärmel fast bis zu den Schultern hochgekrempelt, um vernünftig arbeiten zu können.

Sie war gerade dabei, Legolas‘ Rüstung den letzten Schliff zu verpassen, als es an der Tür klopfte. Sie schaute auf, als Richard Taylor den Raum betrat. Er wirkte müde und abgespannt, hatte Ringe, die er versuchte hinter seiner Nickelbrille zu verbergen, und die Falten um seinen Mund waren tiefer geworden. So sehr der Leiter von WETA seine Arbeit auch liebte, es schlauchte ungemein. Doch das nahm er liebend gern in Kauf.

Er kam auf Joe zu, die ihn anlächelte. „Na, wie läuft es mit den Elben?“ Er beugte sich über den Tisch und inspizierte die frische Zeichnung. Sie drehte sie ein bisschen weiter zu ihm hin, damit er sich nicht ganz so verdrehen musste. Eine Weile sagte er nichts, dann jedoch meinte er: „Das gefällt mir gut!“

Joe lächelte. „Danke“, sagte sie leise.

„Wie kommst du voran?“ Richard schritt ein bisschen durch das Atelier und sah sich um. „Hast du noch viel zu tun?“

Sie selbst sah sich nun auch um, betrachtete ihre Entwürfe und Werke, die sie in den letzten Tagen gemacht hatte, und überlegte kurz. „Nein“, sagte sie schließlich. „So langsam habe ich, denke ich, alles. Es sei denn, du oder Bob und Ann habt noch Änderungen, die ihr vorschlagen wollt.“

Er drehte sich wieder zu ihr um, die Stirn in Falten gelegt. Sein sonst eher weich wirkendes Gesicht sah etwas härter aus als früher. „Dann schlage ich vor, dass wir morgen früh eine Besprechung abhalten unter uns vieren, und dann entscheiden wir, wie weit wir damit sind. Ist das in Ordnung für dich?“

Im Prinzip hatte sie da nichts gegen, doch ihr graute davor, was danach passieren würde. Eigentlich wollte sie auch gar nicht danach fragen, doch ihre Neugier war einfach zu groß. Deswegen sagte sie: „Und was tue ich, wenn wir tatsächlich fertig sind?“

Richard zuckte nur lässig mit den breiten Schultern. „Entweder wir finden eine neue Aufgabe für dich oder ich überlasse dich wieder Pete. Ich brauche keine drei Leute, die die Handwerker überwachen. Die Leute wissen mittlerweile ganz genau, was sie mit euren Entwürfen anzufangen haben. Bei Fragen sind Bob und Ann dann immer noch da. Du kannst gern wieder zurück zum Set.“

Weil sie nicht so richtig wusste, was sie dazu sagen sollte, sagte sie nichts, sondern nickte nur stumm. Seit dem Grillabend bei Aidan hatte sie weder Richard noch die anderen wiedergesehen. Sie wollte es auch gar nicht. Vermutlich hatten sie sie mittlerweile schon vergessen, die stumme Blonde, die nie ein Wort sagte und ständig rot anlief. Wer würde sich auch schon an sie erinnern?

Graham jedoch erinnerte sich sehr gut daran. Als er am nächsten Donnerstag in der Maske saß, betrachtete er neugierig seine Hände. Es faszinierte ihn immer wieder, wie groß die Prothesen waren und wie schlecht er damit umgehen konnte. Er versuchte ein Glas zu greifen, scheiterte aber kläglich und kippte sich den Inhalt über den Bart. Zum Glück war es nur Wasser gewesen und seine Maskenbildnerin zog nur missbilligend die Augenbrauen zusammen, während sie ihm ein Handtuch reichte.

Dann polterte es plötzlich und Aidan betrat den Trailer von Graham und Ken, den sie sich außerdem noch mit John und Peter teilten. „Hey Großer!“, rief der junge Ire und kam, bereits in vollem Kíli-Kostüm zu Graham, um ihm die Hand zu geben. Doch da der Schotte seine Handprothesen trug, verfehlte er die Hand des Jüngeren um Haaresbreite. Stattdessen stand er auf und gab Aidan eine Kopfnuss, Stirn und Stirn.

Der taumelte geschlagen zurück und fasste sich an den Kopf, wo ihn der harte Schädel getroffen hatte. „Au!“, beschwerte er sich. „Machst du jetzt einen auf Viggo?“

Graham lächelte nur. Auch er wusste ganz genau, woher diese Kopfnüsse kamen. Die Stuntleute hatten ihn darauf gebracht. „Was willst du?“, fragte er.

„Weißt du, was Sonntag für ein Tag ist?“, stellte Aidan die Gegenfrage und sah seinen Gegenüber abwartend an, der gerade noch ein zweites Mal abgepudert wurde, damit auch die echte Haut genauso aussieht wie die künstliche.

„Der 19.?“

John am anderen Ende des Trailers stieß ein schnaubendes Lachen aus, was Graham nur die Augenbrauen zusammenziehen ließ. „Hab ich etwas verpasst?“, fragte er lauernd.

Aidan warf sich in die Brust. „Meinen Geburtstag!“, rief er eifrig aus und streckte die Arme weit aus. „Und ihr seid alle eingeladen.“ Sein Grinsen wurde breiter, als er seine vier Kollegen ansah. „Ab 15 Uhr bei mir. Und falls ihr nicht wissen solltet, was ihr mir schenken könnt: Geld geht immer.“ Er zwinkerte der Jüngsten der Visagistinnen noch einmal kurz zu, bevor er aus dem Trailer in den Nieselregen hüpfte und verschwand. Die älteren Herren schüttelten nur lächelnd die Köpfe.

Der junge Wuschelkopf, der vom Alter her eindeutig das Küken der Gruppe war, tauchte als letztes am Set auf. Obwohl er am wenigstens in der Maske zu sitzen hatte, hielt er sich immer bis zum Schluss in der Kantine auf, um vielleicht doch noch einen Happen zu essen, bevor er vor die Kamera musste. Wenn er während des Drehs Hunger bekäme, wäre das für ihn kaum auszuhalten.

Auch dieses Mal kam er kauend an, die letzten Reste des Frühstücks noch hinunterschluckend, bevor ihn jemand entdecke. Dafür aber entdeckte er jemanden. Eine kleine, blonde Gestalt kehrte ihm den Rücken zu und drückte sich am Rand des Sets herum. Sie befanden sich in den Minen von Moria, die vollgestopft waren mit Orks. Er schlich sich an Joe heran und tippte ihr auf die rechte Schulter, während er nach links schwenkte.

Sie jedoch fiel auf diesen alten Trick nicht herein, drehte sich gleichzeitig um und krachte mit Aidan Stirn an Stirn zusammen. Sie traf genau seine Beule.

Erschrocken heulten beide auf. Joe stellte schnell fest, dass es nur der Schreck gewesen war, doch ihr Kollisionspartner murrte immer noch und hielt sich die Hände vor die schmerzende Stelle. „Nicht schon wieder“, keuchte er. „Das war dieselbe Stelle. Aua…“

Seine Mundwinkel wanderten nach unten und sie hatte auf Anhieb Mitleid mit ihm. Sie streckte die Arme nach seinen Fingern aus und löste sie von seinem Kopf. „Lass mal sehen“, sagte sie, ehrlich besorgt. Und als sie die kleine Beule da, die sich schon langsam bildete, fügte sie noch hinzu: „Oh nein, das tut mir wirklich schrecklich leid! Tut es sehr weh?“

Er merkte schnell, dass sie sich ehrlich um ihn sorgte. Deswegen drückte er ein bisschen auf die Tränendrüse. „Ja, ziemlich“, jammerte er etwas übertrieben und zog die Mundwinkel noch ein Stückchen weiter herab. Sein schauspielerisches Talent kam ihm dabei zugute. Und dass sie keine Ahnung hatte, wie sehr er diese Situation gerade ausnutzte.

Bevor sie jedoch noch etwas sagen konnte, rief Pete ihn: „Hey, Turner! Schieb deinen Arsch hierher! Wir wollen anfangen.“ Dabei kicherte er und nahm seinen Worten die Schärfe. Vermutlich hätte er nicht einmal jemanden anschreien können, wenn er es wirklich verdient hätte.

Joe wollte ihn aber so nicht gehen lassen. Immerhin war sie dafür verantwortlich, dass er jetzt ein Ei mit sich herumtrug. Seine Maskenbildnerin würde sie vermutlich dafür hassen. Doch diese eingebildeten Mädchen, die sich für etwas Besseres hielten, weil sie den Stars so nahm kamen, mochte sie ohnehin nicht besonders. Sie redeten nie mit den Leuten aus dem Art Department, geschweige denn mit den Leuten aus dem Atelier. Wenn man sie in der Kantine antraf, blieben sie meistens unter sich und begnügten sich damit, die Hauptdarsteller von weitem anzuschmachten.

Ein paar war es schon gelungen, ihnen ihre Telefonnummern unterzujubeln, doch da die meisten der Zwerge schon etwas älter und teilweise sogar mit Familie gesegnet waren, blieben eigentlich nur Adam, Richard, Dean und Aidan übrig, wobei Adam aufgrund seiner Sexualität bei den Frauen zumindest ebenfalls ausschied. Aidan als der Jüngste und seiner Meinung nach auch der Hübscheste war dabei vermutlich auch der Beliebteste.

Zum Glück interessierte Joe das nicht sonderlich. Sie bedeutete ihm nur, er solle noch kurz warten, dann eilte sie davon, um ihm einen Eisbeutel zu holen. Mit dem kam sie auch keine zwei Minuten später wieder zurück. Sie schlitterte gerade noch so in die Stage rein, bevor das rote Licht anging und sie das Studio nicht mehr hätte betreten dürfen. Dann wartete sie am Rande der Szene, bis die erste Klappe fiel.

Dabei bemerkte sie, dass Richard ihr während der Besprechung merkwürdige Blicke zuwarf, während Graham ihr fröhlich zuwinkte. Sie erwiderte die Geste kurz, dann drückte sie sich wieder in den Schatten und wartete.

Als Pete zu einer kleinen Pause rief, kam sie direkt auf Aidan zu und hielt ihm den Eisbeutel hin. Er lächelte sie begeistert an. „Danke!“, sagte er und drückte sich das Teil direkt auf seine Beule. Das ließ ihn aber das Gesicht verziehen, weil es wohl doch mehr schmerzte, als er zunächst angenommen hatte.

„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte sie. Dabei schob sie seine Hand vorsichtig bei Seite, um sich das Malheur noch einmal anzusehen. Mit dem Tauwasser hatte er einen Teil seiner Schminke abgewaschen und nun konnte man sehen, wie sich die Ränder der kleinen Erhebung blau verfärbten. „Oh je…“

„Oh je? Was heißt hier ‚oh je‘?“ Nervös blickte Aidan sich nach einem Spiegel um, fand aber nur eine verspiegelte Oberfläche. Er beugte sich tief darüber und stöhnte dann auf. „Oh je…“

„Sag ich ja!“ Joe wollte wieder nach der malträtierten Stelle tasten, doch eine andere Hand schob sich dazwischen. „Nicht anfassen!“, piepste eine Stimme. „Ich mach das schon.“

Joe sprang sofort zur Seite, als hätte man ihr einen Schlag in die Rippen verpasst. Sie errötete unweigerlich und drückte sich sofort wieder zurück in den Schatten. Aidan hatte gar keine Chance, sich zu wehren, als seine für sein Make-up Verantwortlich gleich an ihm herumpinselte.

Genervt rollte er mit den Augen. „Lass das, Katy.“ Er wollte ihre Hände einfangen und sie davon abhalten, noch mehr Unheil zu stiften, doch sie ließ nicht mit sich verhandeln. Als sie ihn wieder hergerichtet und von ihm abgelassen hatte, suchte er vergeblich nach Joe. Kurz bevor Pete wieder das Zeichen zur Aufnahme gab, ging der junge Ire auf Richard zu. „Hast du Joe gesehen? Sie war eben noch hier.“

Doch der große Brite zog nur seine Stirn in Falten und schüttelte den Kopf. Er war in sich gekehrt, wie vor jeder Szene, hatte sich ein bisschen an den Rand zurückgezogen und versuchte sich voll und ganz in Thorin Eichenschild zu verwandeln. Dabei wollte er eigentlich nicht unbedingt gestört werden. Dass Aidan nun auch noch ausgerechnet das Thema Joe ansprach, machte es irgendwie noch schwieriger, sich zu konzentrieren.

Seit diesem besagten Freitags-Barbecue hatte er die junge Designerin nicht mehr gesehen. Weder sie hatte ihn aufgesucht, noch er sie. Eigentlich hatte er vorgehabt, mit ihr über den Vorfall zu sprechen, dass er vermutlich mehr den Mund hätte aufmachen sollen, es ihm aber in dieser Situation einfach zu müßig erschienen war sie zu verteidigen, da er ja gar nicht gewusst hatte, dass sie zuhörte. Doch dann dachte er noch einmal genauer darüber nach. Wenn er wirklich der ehrenhafte Kerl war, für den er sich hielt, dann hätte er sie auch dann verteidigt, wenn sie nicht einmal auf demselben Kontinent wie er wäre.

Doch aus irgendeinem Grund hatte er nichts gesagt. Jedenfalls nicht viel. Dabei hatte er vorher noch gedacht, dass er sie fast ein bisschen wie eine Tochter betrachtete. Hatte er sich damit vielleicht etwas überschätzt? Sollte er doch lieber wieder auf Abstand zu ihr gehen?

Aber das hatte ja auch nicht funktioniert. Es hatte nur sein schlechtes Gewissen gefördert, weil er sich so feige verhalten hatte. Das war eigentlich nicht seine Art. Wenn er jemanden mochte, - und Joe mochte er, so viel stand für ihn fest – dann tat er normalerweise alles für diese Menschen. Wieso sonst hätte er noch mit seiner Ex-Freundin befreundet sein sollen, wenn sie ihm nicht als Person wichtig wäre? Und Joe war ihm ebenfalls wichtig geworden.

So ganz konnte er sich das immer noch nicht erklären, wieso er sie so schnell in sein Herz geschlossen hatte, doch mittlerweile hatte er sich damit abgefunden. Und als Aidan ihn so ansah, fasste er den Entschluss, endlich mit der Kleinen zu reden.

Sein beherztes Vorhaben wurde jedoch wieder bis zur Mittagspause von der Klappe unterbrochen. Als er dann endlich gehen konnte, wollte sich mit Aidan zusammentun und Joe suchen, doch der junge Wirbelwind war schon weg. Daher zog er Dean zu sich heran. „Hast du deinen Bruder gesehen?“, fragte er, während er ihm einen Arm um die Schultern legte.

Das gestaltete sich als nicht ganz so leicht, da Fíli ziemlich breite Schultern hatte und Thorin in seinen Bewegungen durch das ganze Kostüm etwas eingeschränkt waren. Außerdem rochen beide schon reichlich nach Schweiß und Silikon, sodass Richard schnell wieder von Dean abließ.

Der blonde Kiwi zuckte die Schultern. „Er hat etwas davon gesagt, dass er seine Beule behandeln lassen wollte. Graham muss ihm ganz schön eine verpasst haben.“ Dean kicherte schadenfroh. Auch er war schon Opfer von Grahams Attacken geworden. Manchmal hatte er das Gefühl, dass der große Schotte nicht ganz sauber tickte. Dann schien etwas in seinem Kopf durchzubrennen und plötzlich trug er einen wie einen Sack Mehl auf dem Rücken kopfüber durch die Gegend. Oder er rammte Peter Hambleton spielerisch seinen großen Streithammer in den Bauch.

Richard hielt erstaunt inne. „Ich dachte, er wäre mit Joe zusammengestoßen und hätte davon die Beule bekommen.“

„Joe? Die kann doch keiner Fliege etwas zuleide tun.“

„Ich glaube auch nicht, dass es beabsichtigt war.“ Richard stieß ein tiefes Brummen aus, was Dean nicht ganz einordnen konnte. Sollte er jetzt besser die Klappe halten oder war Richard mehr sauer auf sich selbst?

Deswegen sagte er lieber nichts und sie gingen schweigend zur Kantine, um etwas zu essen. Dort trafen sie auch auf Aidan, der es sich bei Joe und Emily am Tisch gemütlich gemacht hatte. Joe saß zwischen den beiden und hätte sich wohl am liebsten in ihrem Mittagessen vergraben, so wie sie in die Schüssel schaute. Über ihren Kopf hinweg unterhielten sich die anderen beiden ausführlich.

Als Aidan seine Kollegen sah, winkte er ihnen zu. Und da sie ihn auch gesehen hatten, hatten sie nach der Essenausgabe keine andere Wahl als zu ihnen zu stoßen. Missmutig setzen Dean sich so weit von Joe entfernt, wie er nur konnte. Auf diese Art von Unterhaltung – nämlich eine nicht vorhandene – hatte er keine große Lust. Viel lieber hätte er mit Adam und den anderen besprochen, was sie Aidan am Sonntag zum Geburtstag schenken sollten.

Richard setzte sich genau gegenüber von Joe hin. Verlegen schaute sie auf seinen Mund, als er sie begrüßte und sie nur ein geflüstertes Hallo zustande brachte. Dann widmete sie sich wieder ihrem Essen.

Der Thorin-Darsteller wollte gerade zu einer Entschuldigung ansetzen, als Aidan ihm ins Wort fiel. „Sagt mal, wann habt ihr eigentlich Geburtstag?“ Dabei sah er die beiden Frauen am Tisch an.

Emily sagte wie aus der Pistole geschossen: „19. Dezember“, während Joe nur wieder errötete. Sie hätte das Thema lieber wieder fallen gelassen, doch sie hatte Emily etwas versprochen. Also räusperte sie sich und sagte leise: „Ich hatte schon.“

Ihre Freundin glotzte sie aus großen Augen an. „Hä?“, machte sie. „Wann denn?“

Es war ihr eindeutig unangenehm, darüber zu sprechen. Das konnte jeder sehen. Und zu gern hätte Richard sie auch wieder in Schutz genommen. Doch da er sich noch nicht bei ihr entschuldigt hatte, wagte er nicht so ganz etwas zu sagen, aus Angst, dass sie es wieder falsch auffassen könnte. Er wollte sie schließlich auch nicht bevormunden.

Die Antwort von Joe warf sie aber alle ein bisschen aus der Bahn. „Am 24. Mai.“ Und ein paar Sekunden lang sagte keiner ein Wort, bis Aidan sich als erster gefasst hatte. „Aber das war doch erst vor vier Wochen! Und dann sagst du nichts? Das hätten wir doch feiern können.“ Er wirkte ganz begeistert von seiner Idee, doch ein Blick auf Emily, die unmerklich ihren Kopf schüttelte, brachte ihn wieder zur Vernunft, und er widmete sich wieder seinem Essen. Stumm schnitt er sich ein Stück von seinem Fleisch ab und stopfte es sich in den Mund.

Ihre Freundin jedoch legte ihr besorgt eine Hand auf den Unterarm. „Wieso hast du denn nichts gesagt? Das wusste ich ja gar nicht.“

Doch die Designerin zuckte nur hilflos mit den Schultern. „Ich hab nicht mehr dran gedacht.“

„Wie kann man denn an seinen eigenen Geburtstag nicht denken? Das geht doch gar nicht.“ Richard verpasste Dean, der gesprochen hatte, unter dem Tisch einen Tritt gegen sein Schienbein, doch der zuckte kaum merklich. Vermutlich hatte Richard nur seinen dicken Stiefel getroffen. „Ist doch wahr!“, empörte er sich kurz, bevor er sich ebenfalls wieder seinem Essen widmete und Aidan mit einer kleinen Geste zu verstehen gab, wie bescheuert er das Ganze fand.

Die Mundwinkel des Iren ruckten kurz nach oben, doch dann wurde er wieder ernst, als er hörte, was Joe antwortete. Sie atmete kurz tief durch, denn das, was nun kam, war nicht leicht für sie. Doch sie spürte, wie Emily ihr unter dem Tisch eine Hand auf den Oberschenkel legte, um ihr zu zeigen, dass sie für sie da war. Und dass sie ihr vertrauen konnte, dass sie den Männern gegenüber ruhig ihr Herz ausschütten konnte. Und besonders ihr gegenüber.

„Meinen letzten Geburtstag hab ich mit zwölf gefeiert“, sagte sie. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln, doch sie blinzelte sie entschlossen weg. „Ein paar Monate später ist meine Mutter dann an Krebs gestorben. Weil ich noch zu jung war, um alleine zu leben, bin ich von verschiedenen Heimen zu irgendwelchen Pflegefamilien gewandert und da hatte ich immer das zweifelhafte Glück, dass man meinen Geburtstag vergessen hat, weil ich nie etwas gesagt habe. Doch ich wollte auch nie feiern. Und als ich dann alt genug war, um alleine zu leben, gab es niemanden mehr, mit dem ich hätte feiern können.“ Sie sah kurz auf und blickte einem nach dem anderen am Tisch für einen kleinen Moment in die Augen. Dabei wagte sie ein winziges ironisches Lächeln. „Und das ist die traurige Geschichte des armen Waisenkindes.“

Eine Weile herrschte Schweigen am Tisch, sodass es ihnen vorkam, als würde sich eine Blase über sie legen, der sie von allem anderen Krach in der Kantine abschirmte. Dann griff Richard nach ihrer Hand.

Sie spürte die seltsame Berührung des Silikons auf ihrer Haut und hätte ihren Arm gern wieder zurückgezogen, weil sie es so seltsam fand, doch ein Blick in die blauen Augen des Briten ließen sie innehalten. Sie drückten so viel Schmerz und Mitgefühl für sie aus, dass sie fast wieder weinen musste. „Es tut mir leid“, sagt er und drückte ihre Finger.

Normalerweise hasste sie es, wenn jemand Mitleid mit ihr hatte. Doch bei Richard war das irgendwie anders. Er schien direkt auf den Grund ihrer Seele schauen zu können, genauso wie Emily es konnte. Ihnen konnte sie glauben, wenn sie sagten, dass es ihnen Leid tat.

Doch bevor die Stimmung weiter kippen konnte, schaltete sich Aidan, der selbsternannte Spaßbeauftragte ein. Er klatschte in die Hände, genau in dem Moment, in dem Richard Joes Hand wieder losließ. „Dann feiern wir am Sonntag einfach doppelt so viel und holen alles das nach, was die gute Joe bisher verpasst hat.“ Seine gute Laune brachte sogar Joe dazu, sich schließlich auf Sonntag zu freuen. Und mit einem Lächeln kehrten sie alle wieder ans Set zurück.

© by LilórienSilme 2015

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