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Kapitel 21

~ Familienbande

 

Endlich schien ich wieder soweit genesen zu sein, dass ich aus dem Bett aufstehen konnte. Meine Beine waren noch schwach, sodass Legolas mich stützen musste, doch sie trugen mich. Etwa zehn Tage nach der schweren Geburt konnte ich wieder die Sonne auf meinem Gesicht genießen. Ich hielt Silme auf dem Arm und wiegte sie leicht. Sie war noch so winzig und zerbrechlich, dass ich es kaum übers Herz brachte, sie jemand anderem zu geben.

 

Unten vor dem Haus setzte ich mich zunächst einmal hin, da mich der Abstieg doch schon sehr angestrengt hatte. Doch mich hatte es einfach nicht mehr länger in der dunklen Stube gehalten. Ich wollte meiner Tochter ihr zu Hause zeigen. „Siehst du dort drüben“, sagte ich und hielt Silme so, dass ihr kleines Köpfchen in die Richtung des Taniquetil zeigte. „Dort haben einst die Valar gelebt. Nun sind sie aus dieser Welt entrückt. Doch wir beten noch immer zu ihnen, in der Hoffnung, dass sie eines fernen Tages wieder zu uns sprechen werden.“

 

Eine Weile saß ich so vor unserem Haus und zeigte meiner Tochter das, was man von der Bank aus erblicken konnte. Doch schon bald erhielt ich Gesellschaft. „Herrin!“, rief Delia aus. Sie war eine groß gewachsene Elbe mit grünen Augen, die uns gelegentlich im Haushalt aushalf. Sie lebte alleine und genoss daher von Zeit zu Zeit die Gesellschaft einer großen Familie. „Wieso seid Ihr auf den Beinen, Herrin? Denkt Ihr denn, dass es klug ist, so früh das Bett zu verlassen?“

 

„Delia“, sagte ich und sah sie tadelnd an. „Denkst du nicht, dass ich alt genug bin, selbst zu entscheiden, ob es mir wieder gut geht? Ich werde mich schon nicht überanstrengen.“ Widerwillig zog sie sich zurück. Sie maß mich mit einem undurchdringlichen Blick, den ich nicht deuten konnte. Manchmal sah sie mich so an, dann wusste ich nicht, was ich über sie denken sollte. Es war, als würde sie etwas vor mir verbergen. Doch was hätte das sein können?

 

Am Nachmittag, als Silme oben in ihrem Bettchen lag und schlief, saß ich wieder vor unserem Haus. Legolas hatte sich neben mich gesetzt und mein Kopf ruhte auf seiner Schulter. Unsere beiden älteren Töchter hatten sich Stühle nach draußen geholt und waren mit Hausarbeiten beschäftigt. Mîram saß am Spinnrad, während Nefertirî bereits Vorbereitungen für das Abendessen traf. Heute würden wir mehr sein als sonst. Gimli hatte sich angekündigt, genauso wie meine Cousine mit ihrem Gemahl und ihrem Sohn. Außerdem hatten wir nun einen Gast, den wir ebenfalls verköstigen mussten.

 

Umsonst hatten wir ihm dieses Angebot jedoch nicht gemacht. Sahîrim sollte von nun an dafür Sorge tragen, dass unser Garten bestellt wurde. Und so hatte er sich sein Hemd ausgezogen und bearbeitete mit einer Hacke unser Gemüse.

 

„Traust du ihm?“, fragte ich meinen Gemahl und streichelte seinen Unterarm. Er überlegte für eine Weile, dann sagte er: „Nein, das tue ich nicht. Aber Nefertirî tut es und ich möchte ihrem Urteil vertrauen.“

 

Ich musste lächeln. „Das bedeutet, dass du ihr die Schuld geben wirst, sollte er sich als treulos erweisen?“ Er bewegte sich so, dass ich meinen Kopf heben und ihn ansehen musste. Sein Blick schien zu sagen, dass er mich für verrückt hielt. Doch dann änderte sich seine Stimmung. „Daran hatte ich bisher nicht gedacht“, sagte er, „aber es scheint mir eine gute Idee zu sein.“

 

Spielerisch schlug ich ihm auf die Brust. Dann sank ich an seine Schulter zurück und genoss seine Gegenwart. Ich mochte es, wie er nach Wald und Bäumen duftete, wie sein starker Arm sich um mich schloss und mir Sicherheit gab, und wie ich scheinbar nur dafür geschaffen war, in seinen Armen zu liegen. Es kam mir vor, als hätte es nie anders sein sollen.

 

Und während Legolas und ich damit zufrieden waren, wie es war, warf unsere älteste Tochter dem Fremden immer wieder verstohlene Blicke zu. „Wenn du so weitermachst, schneidest du dich noch in den Finger“, flüsterte Mîram Nefertirî zu. Die hielt augenblicklich inne und sah auf ihre Hände hinab. Seit nun beinahe zehn Minuten schon schälte sie eine einzige Kartoffeln, die nicht nur keine Schale mehr hatte, sondern auch schon ziemlich klein geworden war. Nicht mehr lange, und sie würde sogar zu klein zum Zerstampfen sein.

 

„Du hast ihn gern, oder?“ Nefertirî sah ihre Schwester an und wurde gleich rot, als sie merkte, dass die sie die ganze Zeit über beobachtet hatte, wie sie Sahîrim beobachtet hatte. „Ja“, flüsterte sie daher, aus Angst, er könne ihre Antwort hören. „Warum sagst du es ihm denn nicht? Mir scheint, dass er dich auch gern hat.“

 

Nefertirî blickte auf und genau im selben Moment sah auch Sahîrim sie an. Ihre Blickte trafen sich für einen Augenblick, dann wandten beide zugleich ihr Gesicht wieder ab, um die Schamesröte darin zu verbergen.

 

„So einfach ist das nicht“, zischte Nefertirî ihrer Schwester zu. „Du kannst nicht einfach zu einem Jungen hingehen und ihm sagen, dass du ihn gern hast. Was würde er denn dann von mir denken?“ Es schien, als müsse Mîram eine Zeit lang überlegen. Doch sie konnte nichts Verwerfliches an diesem Gedanken finden. War sie vielleicht noch zu jung, um so etwas wissen zu können? Dabei hatte sie immer gedacht, es wäre einfach, hatte man erst einmal denjenigen gefunden, dem man sein Herz schenken konnte. Doch offenbar war dem nicht so.

 

Anstatt auf ihre Frage zu antworten, sagte Mîram daher: „Ich finde, ihr würdet gut zusammen aussehen. Er ist groß und scheint auch stark zu sein. Wenn etwas geschehen sollte, könnte er dich sicherlich beschützen.“

 

Darüber schien Nefertirî noch nicht nachgedacht zu haben. Hatte sie sich nicht immer einen Elb gewünscht, der so stark war, dass er sie vor allem bewahren konnte? Konnte Sahîrim wohlmöglich dieser Elb sein?

 

Doch dann schüttelte sie den Kopf. Er wusste wahrscheinlich genauso wenig vom Leben wir ihr Vetter Thalion. Der war zwar nun erwachsen, spielte jedoch noch immer mit Holzschwertern und schlug imaginäre Gegner in die Flucht. Noch nie hatte er gegen einen wirklichen Feind gekämpft. Doch hatte Sahîrim das? Wusste sie das?

 

Wenn sie es sich eingestand, wusste sie gar nichts über den Fremden. Viel hatten sie in den letzten Tagen nicht miteinander geredet. Die meiste Zeit hatte sie damit verbracht, ihn aus der Ferne heimlich zu beobachten. Vielleicht fand sie ihn auch nur so faszinierend, weil er etwas völlig Neues verkörperte. Er schien so gar nicht in die Gesellschaft unseres Dorfes zu passen. Und doch war es, als würde er schon immer zu uns gehören. Er aß mit uns an einem Tisch, sprach mit uns, als kenne er uns schon sein ganzes Leben, und tat jede Arbeit, die Legolas ihm auftrug, ohne einen finsteren Blick oder ein böses Wort.

 

Als wir abends an dem großen Tisch in unserem Haus saßen, musste ich mich erst einmal in Ruhe umblicken. Hier saß nun jeder, der mir mehr bedeutete, als alles andere. Man hatte mich an das Kopfende des Tisches gesetzt, damit ich genug Platz hatte, Silme zu füttern. Rechts neben mir saß Legolas, der seinen alten Freund Gimli an seiner Seite hatte.

 

Für die meisten Elben war es in den ersten Jahren ein schrecklicher Frevel gewesen, einen Zwerg nach Valinor gebracht zu haben. Doch nachdem sie erkannt hatten, dass die Valar selbst ihm diese Ehre erwiesen hatten, hatten sie ihn so schnell in ihre Herzen geschlossen, wie ich damals in Bruchtal.

 

Zu meiner linken Seite saßen meine Töchter. Mîram hatte sich als letzte zu uns gesetzt, da sie mir noch ein Tuch für Silme hatte bringen müssen. Nun reichte sie Thalion die Schüssel mit dem frischen Gemüse. Er, wie auch alle anderen langten herzhaft zu und bald waren die Schüsseln leer, aber die Teller voll.

 

„Onkel Gimli“, rief Mîram plötzlich, „lass noch etwas für die anderen übrig.“ Ich blickte auf seinen Teller und konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Dort türmten sich so viele Speisen, als fürchtete er, dass es morgen schon nichts mehr geben könnte. Der Zwerg wurde unter seinem Bart rot und schob sich verlegen ein Stück Fleisch in den Mund. „Ich bin eben kräftig und brauche viel Essen“, grummelte er, dann langte er nach seinem vollen Bierkrug und nahm einen tiefen Schluck. An seinem Oberlippenbart blieb ein wenig Schaum hängen und nun mussten wir alle über ihn lachen.

 

Und während ich Silme in den Armen hielt und sie wiegte, tauschen meine Töchter ihr Gemüse aus. Mîram hasste Möhren, wohingegen Nefertirî keine Erbsen mochte. Da ich beides aber in einem Topf kochte, sortierten sie das Ungeliebte auf ihrem Teller immer aus und tauschten es nachher gegenseitig aus. So konnte jeder das essen, was er gerne hatte.

 

Nach dem Essen räumten die Mädchen den Tisch ab, während die beiden Jungen Wasser vom Brunnen holten und es zum Spülen erhitzten. Gemeinsam wuschen sie nun das schmutzige Geschirr und die gebrauchten Töpfe ab, wuschen den Tisch ab und stellten alles wieder an seinen Platz.

 

Mein Gemahl und ich nahmen unterdessen neben dem Kamin Platz. Mir bot Legolas den bequemen Sessel an, in welchen ich mich auch gleich mit Silme setzen, während er sich zu meinen Füßen niederließ. Gimli nahm den anderen Sessel in Beschlag und Ithil-dî und Telperion holten sich Stühle, um sich zu uns zu setzen.

 

„Wie ich sehe, geht es dir wieder besser, liebste Cousine“, sagte Ithil-dî und drückte meinen rechten Unterarm liebevoll. Ich wusste, dass sie sehr viel für mich und meine jüngste Tochter getan hätte. Sie hatte mir und meinem Kind das Leben gerettet. Und auch wenn ich vermutlich nicht mehr schwanger werden konnte, hatte ich dieses Opfer nur zu gern gebracht. Vor allem, da ich nun schon drei so wundervolle Töchter hatte.

 

„Dank dir“, erwiderte ich daher und hielt kurz dankbar ihre Hand. „Wenn du nicht gewesen währst, wären Silme und ich wohl nicht mehr am Leben.“

 

Legolas sah mich glücklich an. „Deswegen, Ithil-dî, bin ich dir zum größtmöglichen Dank verpflichtet. Sollte es etwas geben, was ich für dich tun kann, lass es mich wissen. Und wenn es in meiner Macht steht, werde ich dafür Sorge tragen, dass sich dein Wunsch erfüllt.“ Meine Cousine lächelte ihn, vielleicht sogar ein wenig belustigt, an. „Was anderes könnte ich mir wünschen“, sagte sie, „als den treusten Mann an meiner Seite und den stolzesten Junge der Stadt? Einzig euer neuer Untermieter könnte ihm nun Konkurrenz machen. Woher kommt der junge Sahîrim eigentlich?“

 

„Das weiß niemand so genau“, schaltete sich Gimli nun ein. Er stopfte sich seine Pfeife, doch ich warf ihm einen vielsagenden Blick zu, deutete auf meine neugeborene Tochter und er packte den Tabak wieder weg. „Wir haben ihn gefragt, doch er möchte es nicht sagen.“

 

„Nun“, sagte Telperion und blickte dabei sehr nachdenklich in die Küchenecke, wo sich unsere Kinder immer noch damit beschäftigten, alles wieder in Ordnung zu bringen. „Wohlmöglich war es für ihn nicht gerade eine fröhliche Erfahrung und er möchte nicht über die schlechten Zeiten sprechen. Denn so, wie ich ihn nun sehe, scheint er hier sehr glücklich zu sein.“

 

Da musste ich ihm Recht geben. Als Sahîrim zu uns gekommen war, wirkte er merkwürdig scheu. Nicht, dass es ihm an Selbstvertrauen gemangelt hätte, das konnte man nun wahrlich nicht behaupten. Es wirkte auf mich eher so, dass er ständig einen Tadel erwartete, bei allem, was er tat. Diese Art war zwar nicht verschwunden, doch dieses Misstrauen schien schwächer geworden zu sein, seit Legolas ihn für seine gute Arbeit in unserem Garten öfter gelobt hatte. Was mochte der Junge durchgemacht haben, frage ich mich?

 

„Nein!“, rief Mîram lachend aus und zog damit die Aufmerksamkeit von uns allen auf sich. „Der Topf gehört doch nicht dorthin.“ Sahîrim hatte den größten Topf, den wir besaßen, auf das kleine Bord neben dem Waschtisch stellen wollen. Dort wäre er vermutlich sofort wieder heruntergefallen, weil sein Boden zu groß für das schmale Brett war. Doch da Mîram ihre Hände bis zu den Ellbogen im Spülbecken hatte, nahm Nefertirî ihm den Topf ab und stellte ihn unter das Brett in ein Regal, ganz nach unten.

 

Als sie ihm den Topf aus den Händen genommen hatte, hatten sich ihre Finger ganz kurz berührt und es schien ihr, als habe sie sich an dieser Stelle verbrannt, so sehr prickelte ihre Haut. Doch es war nicht unangenehm. Es war eher ein Gefühl, nach dem sich ihr Körper zu sehen schien, denn sofort fing ihr Herz an wie wild zu pochen.

 

Auch bei Sahîrim war eine Veränderung zu sehen. Bei dieser flüchtigen Berührung war der verletzte Gesichtsausdruck, den Mîrams scherzhaft gemeinter Tadel bei ihm hinterlassen hatte, augenblicklich gewichen und hatte einem glasigen Blick Platz gemacht. Als Mutter versetzte mir dieser flüchtige Augenblick zwischen den beiden einen ungewollten Stich ins Herz. War meine Kleine wirklich schon so erwachsen?

 

Nachdem die Küche und der Essbereich wieder sauber waren, kamen unsere Kinder zu uns an den Kamin. Mîram setzte sich zu Legolas, der sie gleich auf seinen Schoß zog und ihr einen Kuss auf ihren Schopf gab. Thalion setzte sich zwischen die Stühle seiner Eltern auf das Fell, welches vor dem Kamin lag und Nefertirî setzte sich neben meinen Sessel. Nur Sahîrim stand ein wenig unschlüssig vor unserer kleinen Gruppe.

 

„Du kannst dich ruhig zu uns setzen, Jungchen“, sagte Gimli, während er auf seiner kalten Pfeife herumkaute. „Wir beißen nicht.“ Er zwinkerte ihm zu, doch Sahîrim zögerte noch immer. Seine Augen schienen nach einem geeignet Platz Ausschau zu halten, konnten jedoch keinen finden. Erst als meine Älteste ein Stück zur Seite rückte, setzte er sich in Bewegung. Etwas unsicher ließ er sich zwischen die beiden Sessel sinken und achtete sorgsam darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen, als hätte er meine Gedanken gelesen.

 

„Also“, sagte Telperion nach einer Weile. „Wo hast du vorher gelebt, Sahîrim? Und wer hat dir diesen außergewöhnlichen Namen gegeben?“

 

Er schien eine Weile über die Antwort nachdenken zu müssen, als hätte er Angst, er könnte uns zu viel verraten. Dann hob er den Kopf und lächelte. „Meine Mutter hat mir diesen Namen gegeben. Mein Vater hat mir erzählt, dass sie bei meiner Geburt gestorben ist. Ich habe sie leider nie kennenlernen können.“

 

„Und nun lebst du alleine mit deinem Vater dort draußen?“, fragte Ithil-dî und ich ahnte, was in ihrem Kopf vorging. Vermutlich hatte sie dieselben Gedanken wie ich. Aber Sahîrim sagte: „Nein, ich habe einen Bruder.“ Und das entspannte uns etwas.

 

Wir saßen noch eine Weile beisammen und unterhielten uns. Bald rückte Sahîrim auch ein wenig aus dem Fokus unseres Interesses und wir sprachen sehr schnell nur noch über belanglosere Dinge. Und ich fühlte mich so glücklich wie lange nicht mehr. Die Idylle meiner Familie kam mir nun so heilig vor, wie nur irgendetwas. Selbst Caeya hätte mir nicht wichtiger sein können. Und in diesem Moment schwor ich mir selbst, dass ich alles tun würde, um dieses Glück zu erhalten. Ich würde niemals zulassen, dass jemand meiner Familie schaden würde. Nicht heute, nicht morgen und auch an keinem anderen Tag.

 

Zu dieser Stunde ahnte ich noch nicht, wie viel mich dieser Schwur tatsächlich einmal kosten sollte.

© by LilórienSilme 2015

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