LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 21
~ Bore, but a Woman
Wie drei aus der Bahn geworfene Planeten kreisten zwei Freundinnen und eine Verkäuferin um Vittoria herum, die bereits nach den ersten zehn Minuten ins Schwitzen gekommen war. Die Premiere rückte in greifbare Nähe und daher hatten es sich Anna und Megara nicht nehmen lassen, sie in der Kleiderfrage zu beraten, da sie beide genau wussten, dass sich Vittorias Geschmack auf Jeans und Pullover beschränkte.
Mittlerweile waren sie bereits im fünften Laden und sie hatte gefühlte fünfhundertsechsunddreißig verschiedene Kleider angehabt, die alle aber entweder zu lang oder nicht lang genug, zu eng, zu weit, zu hässlich, zu prunkvoll oder zu schlicht gewesen waren. Was sie von manchen der Modelle gehalten hatte, hatte man sie gar nicht erst aussprechen lassen, weil das die biederen Verkäuferinnen sicher zum Erröten gebracht hätte und man sie nach dem zweiten Fluch vermutlich aus dem Laden geworfen hätte. Also stand sie nun missmutig da und ließ etwas ungern an sich herumzupfen.
„Wie findest du das?“, fragte Meg und Vittoria antwortete erst gar nicht, weil ihre Meinung hier offenbar überhaupt nicht gefragt war. Stattdessen antwortete Anna, dass rot wohl nicht ganz ihre Farbe wäre, sie aber unbedingt vorher noch mal auf die Sonnenbank gehen musste, weil sie doch ein wenig arg blass wirkte.
Vittoria seufzte tief. Wieso konnte sie nicht einfach eine chice Bluse anziehen und eine Jeans mit hohen Schuhen? Schuhe besaß sie wirklich genug. Sie zog sie nur zu selten an. Meistens trug sie lieber Turnschuhe. Und mit Sicherheit hatte sie es bereits verlernt, in hohen Absätzen eine Treppe zu gehen. Aber sie war trotz allem sehr stolz auf ihre Sammlung von inzwischen achtundvierzig Paar. Meistens kaufte sie sie nur, weil sie ihr besonders gut gefielen oder weil sie zum Rest ihres gigantischen Schuhschranks passten. Aber jetzt verfluchte sie sich selber, dass sie nicht wenigstens ab und zu mal einen davon ausgeführt hatte.
Als man das fünfhundertsiebenunddreißigste Kleid auch ausgeschlossen hatte, hellte sich das Gesicht der steifen Verkäuferin plötzlich auf. Sie entschuldigte sich und kehrte kurz darauf mit einem Kleidersack zurück. Und es sah nicht so aus, als würde sich darin etwas befinden. Jedenfalls konnte es unmöglich genug Stoff sein, um zumindest ihre Blöße zu bedecken.
„Was halten die Damen denn davon?“, sagte sie und zog an dem Reißverschluss. Vittoria konnte grünen Stoff aufblitzen sehen, aber das war auch schon alles. Sofort drückten sich Meg und Anna davor und ließen ihr keine Chance mehr, einen intensiven Blick auf das Kleid zu werfen. Grün gefiel ihr nämlich ausgesprochen gut.
Sie konnte erstaunte Ausrufe und begeistertes Kichern hören. Und nach einer Weile riss ihr endlich der Geduldsfaden. Sie stemmte die Hände in die Hüften und tippelte energisch mit dem rechten Fuß auf dem Boden herum. „Darf ich vielleicht auch etwas dazu sagen?“, zischte sie, doch irgendwie erzielte ihre Wut nicht die gewünschte Wirkung. „Hey ihr da!“, rief sie und endlich drehte sich jemand zu ihr um.
Anna warf ihr ein Lächeln zu, das unmöglich etwas Gutes bedeuten konnte. Und auch Meg sah nicht so aus, als würde sie ihre beste Freundin davon kommen lassen. „Mach die Augen zu“, sagte sie, „wir ziehen dich an.“
Widerwillig ließ sie es geschehen. Sie hatte sowieso keine andere Wahl. Also streifte sie das andere Kleid ab, warf es der Verkäuferin zu und schloss die Augen. Sie spürte, wie jemand ihre Füße nacheinander anhob, um sie in das Kleid zu stecken, und wie kühler glatter Stoff ihre unrasierten Beine hochgezogen wurde. Ihre Arme wurden durch kleine Schlaufen gesteckt und als der Stoff schließlich auf ihren Schultern zur Ruhe kam, kam sie sich ziemlich lächerlich vor. Um genau zu sein hatte ihre Schamgrenze einen neuen Höhepunkt erreicht. Oder Tiefpunkt. Je nachdem wie man es sehen wollte.
Wieder hörte sie erstaunte Ausrufe und langsam fragte sie sich, ob sie vielleicht nicht mehr war, als eine lebendige Barbiepuppe. Genervt verlagerte sie das Gewicht von einem Bein aufs andere. „Darf ich jetzt vielleicht wieder die Augen aufmachen? Langsam komme ich mir ziemlich dumm vor.“ Sie hörte ein leises Ja und beschloss, dass es das gewünschte Zeichen war.
Doch als sie die Augen öffnete, musste sie erst mal suchen, bevor sie sich überhaupt fand. Rund um sie herum waren zwar Spiegel aufgebaut, wie es sich für eine ordentliche Anprobe in einem Kaufhaus gehörte, das etwas auf sich hielt, aber irgendwie schien keiner davon ihr Spiegelbild wiederzugeben. Sie zählte vier Frauen, aber wo war sie?
„Wo hast du die Dinger nur so lange versteckt?“, sagte Anna und tippte auf ihren Brustansatz. „Die sehen wirklich toll aus! Ein tolles Dekollete, das muss man dir lassen. Du könntest es ruhig ein wenig öfter herausholen und zeigen.“ Vittoria sah an sich herunter, als sie die Berührung spürte, und sah wieder den grünen Stoff. Dann begriff sie. Die Frau in dem hellgrünen Kleid ihr gegenüber war sie. Es sah ihr gar nicht ähnlich, so etwas zu tragen. Aber auch sie selber musste sagen, dass es ihr stand. Auch wenn sie nicht direkt eine antike griechische Göttin war.
Meg ging ein paar Mal um ihre Freundin herum und beäugte sie von allen Seiten. Der atemberaubende Rückenausschnitt schrie ja förmlich… Tja, wonach wusste sie selbst nicht so genau, aber Vic konnte froh sein, dass sie so eine tolle Rückseite hatte. Kurz über ihrem Po endete der tiefe Fall des Stoffs, der nur durch ein silbernes Band, was einmal unter ihrer Brust entlang lief und sich auf dem Rücken wieder traf, in Form gehalten wurde. Die schmalen Träger waren ebenfalls mit Silber abgesetzt und sorgten nicht nur dafür, dass die Farbe ihrer Haut strahlte, sondern auch dass ihre Brüste perfekt zur Geltung gebracht wurden.
„Ist es nicht ein bisschen zu lang?“, fragte Vittoria, als sie an sich herunter blickte und ihre Füße nicht fand. Doch man erklärte ihr, dass sie mit ein paar hohen Schuhen kein Problem haben würde, auf den Saum zu treten. Die kleine Schleppe würde sie beim Gehen auch nicht behindern. Allerdings bezweifelte Vic ein wenig, dass sie mit den mörderisch hohen Absätzen, die sich inklusive Plateausohle zwar nur auf etwa acht Zentimeter beschränkten, das für eine Person mit Schuhgröße siebenunddreißig dreiviertel allerdings schon einem Stelzenlauf gleich kam, elegant über den Teppich würde gehen können.
Abends, als sie wieder alleine in ihrem Haus war, saß sie auf der Couch, hatte die Beine unter sich gezogen, und dachte über den Tag nach. So etwas hatte sie vorher noch nie erlebt. Natürlich war sie mal mit Meg shoppen gewesen, aber gleich zwei Freundinnen zu haben, die einen berieten, war eine völlig neue Erfahrung für sie gewesen. Sie nippte an ihrem Tee und starrte weiterhin auf die gegenüber liegende Wand. Am liebsten hätte sie Meg die Karte für die Premiere in die Hand gedrückt und wäre einfach zu ihren Eltern gefahren, um sich dort in ihrem Kinderzimmer zu verkriechen. Doch das kam irgendwie nicht in Frage.
Als sie an den Flug nach New York dachte, drehte sich ihr wieder der Magen um. Wieso nur konnte die Premiere nicht hier in London stattfinden? Musste es unbedingt New York City sein? Klar, sie war noch nie dort gewesen und es war mit Sicherheit eine wunderschöne und ziemlich aufregende Stadt, aber es bedeutete für sie, wieder in ein Flugzeug steigen zu müssen. Und sie hasste Andrew dafür, dass er ihr das antat, schon wieder.
Die Feier würde am siebten Mai steigen und das bedeutete, dass sie mindestens zwei Tage vorher anreisen musste, damit sie genug Zeit hatte, sich von den Tabletten zu erholen, die sie sich selbst verabreichen würde, um den Flug heil zu überstehen. Zum Glück reiste sie dieses Mal alleine, weil die anderen erst kurz vor knapp dort ankommen würden. Aber das konnte sie sich nicht erlauben. Und das konnte sie dem Rest der Welt erst recht nicht antun. Es wäre sicher ein gefundenes Fressen für die Presse, wenn sie mitten auf dem roten Teppich zusammen brechen oder sich übergeben würde. Oder sogar beides. Die Titelseiten waren ihr dadurch sicher.
Schließlich entschied sie ins Bett zu gehen. Sie kuschelte sich in die Kissen und versuchte nicht daran zu denken, was sie in weniger als zwei Wochen erwarten würde. Vielleicht hatte sie Glück und es würde gar nicht so schlimm werden, wie sie es sich ausmalte. Aber trotz allem träumte sie in der Nacht von nichts anderem als brennenden Flugzeugen und einem tiefen Fall.
Und während Vittoria dem Flug mehr oder weniger entgegen fieberte, saß Ben vor seinem Computer und las seine Emails. Das Meiste hatte er bereits geschafft, aber es wartete immer noch eine ganze Menge Arbeit auf ihn. Zum Glück war er schon bei einigen Vorsprechen gewesen und hatte eine wirklich große Sache an Land gezogen. So konnte er mit ruhigem Gewissen zur Premiere fliegen, wissend dass ihn, wenn er wieder in London war, ein großes Projekt erwartete, worauf er sich auch schon angemessen freute.
Der sechste Mai begann für ihn recht spät. Er hatte beschlossen, ordentlich auszuschlafen, bevor er sich in den Flieger setzte. Deswegen hatte er den Flug erst für nachmittags gebucht. Vor dem Jetlag hatte er ein wenig Bammel, aber auch das würde er schon überstehen, sagte er sich selbstbewusst und packte seinen Anzug vorsichtig in seinen Koffer. Seiner Meinung nach hatte es viel zu lange gedauert, bis er einen passenden gefunden hatte, aber irgendwie war sein Bruder nie ganz zufrieden mit dem gewesen, was er anhatte. Dass es auch immer ein neuer sein musste für jeden Anlass. Er fand, es war Zeit- und Geldverschwendung. Bald würde sein Schrank überquellen.
Als er in New York landete, war es gerade mal kurz vor fünfzehn Uhr. Zum Glück hatte er im Flugzeug ein kleines Nickerchen halten können. So fiel es ihm nicht ganz so schwer, bis zum Abend auszuhalten. Er vertrieb sich die Zeit damit, sich den Big Apple ein wenig anzusehen.
Hier war alles größer und teurer, als er es aus London gewohnt war. Wenn er in England ein unglaublich hohes Haus sah, dann war es hier in New York gerade mal eins von den kleineren Gebäuden. Selbst die Straßen waren breiter, geordneter und lauter. Alles war mindestens fünf Nummern gigantischer und es gab immer etwas zu sehen. Er hielt sich nicht damit auf, sich bei irgendwelchen Sehenswürdigkeiten anzustellen. Dazu hätte er sowieso nicht die Zeit gehabt. Aber das musste er auch gar nicht. Es genügte ihm völlig, einmal die 5th Avenue rauf und einmal runter zu gehen. Das alleine bot ihm Attraktionen genug.
Als er wieder im Hotel war, fiel er augenblicklich in sein Bett und wachte erst auf, als am nächsten Morgen das Telefon auf seinem Nachttisch schrill bimmelte. Verschlafen tastete er nach dem Hörer und es überraschte ihn keineswegs Wills Stimme am anderen Ende zu hören. „Du alte Schlafmütze!“, rief er. „Raus aus den Federn. Es ist fast Mittag.“
Mit fast Mittag meinte er, dass es längst nach zwölf war. Also schob er sich widerwillig aus dem Bett, als er einen Blick auf die Uhr warf, ließ sich ein Frühstück aufs Zimmer bringen und öffnete Will wenig später die Tür. „Morgen“, gähnte er ihm entgegen.
„Wie lange warst du denn gestern noch wach?“, fragte der Jüngere. Er war bereits seit einer Woche hier und hatte sich die Stadt ausführlich ansehen können. Deswegen war es auch kein Wunder, dass er in der Stadt, die nie schlief, schon seit fast sechs Stunden auf den Beinen war.
Ben schaute erneut auf die Uhr und versuchte zurückzurechnen. Aber ohne Kaffee wollte sein Gehirn nicht wirklich arbeiten. Also zuckte er nur mit den Schultern und beäugte das amerikanische Frühstück kritisch. „Keine Bohnen“, sagte er, als er gründlich unter jedem Toast nachgesehen hatte. Aber da er seit gefühlten zwanzig Stunden nichts mehr gegessen hatte, war es ihm dann auch egal. Nach der dritten Tasse Koffein schien sein Kopf endlich das zu machen, was er wollte.
„Hast du die anderen schon getroffen?“, fragte er und biss in einen Pancake. Irgendwie war ihm das alles zu süß. Aber wer konnte schon sagen, wann er wieder etwas zu Essen bekam? Da wollte er lieber vorsorgen.
Will blätterte lustlos in der Zeitung, die man mit dem Frühstück gebracht hatte. „Nein. Die anderen sind auch erst gestern oder vorgestern angekommen. Zumindest hab ich das so gehört. Vic soll allerdings schon seit drei Tagen hier sein. Aber sie hat ihr Zimmer wohl bisher noch nicht verlassen. Ich nehme mal an, dass es die Nachwirkungen des Fluges sind. Die Arme. Muss schrecklich sein mit Flugangst.“
Ben zuckte desinteressiert mit den Schultern. Vittorias Schicksal ging ihn nichts an. „Und wann müssen wir wo sein?“, fragte er, als er erneut auf die Uhr sah. Will tat es ihm gleich und sagte, nachdem er kurz überlegt hatte: „In drei Stunden werden wir abgeholt und zum Theater gefahren. Schaffst du das?“
Der Ältere versuchte ihm einen Schlag auf den Hinterkopf zu verpassen, aber seine Koordinationsfähigkeiten waren noch nicht ganz ausgeschlafen. Er verfehlte Will nur um ein paar Zentimeter. „Natürlich schaff ich das!“, rief er aus, als er einen Apfel in die Richtung des anderen warf, der sich gerade noch rechtzeitig retten konnte, indem er lachend die Zimmertür von außen zumachte.
Also stieg Ben erst einmal in die Badewanne und genoss das Gefühl von warmem Wasser auf seiner Haut. Sorgfältig rasierte er sich und versuchte danach seinen ordentlich gewachsenen Haaren eine halbwegs anschauliche Lage zu verpassen. Das dauerte länger, als er eingeplant hatte, aber zum Glück musste er sich weder schminken noch in ein Kleid zwängen. Er schlüpfte nur in seinen Anzug, band sich die schwarze Krawatte, die Jack zwar für übertrieben hielt, ihm aber hervorragend gefiel, und schnürte sich seine neuen Schuhe zu. Er warf noch einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, dann nahm er den Fahrstuhl in die Lobby.
Dort wartete Will bereits auf ihn. Auch er trug einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und einer dunklen Krawatte. Vielleicht hätten sie sich besser vorher abgesprochen. Doch dann schüttelte er den Kopf. Er war doch kein Mädchen. „Was ist mit dem Rest?“, fragte er den Jüngeren, als er auf ihn zukam.
„Skandar holt uns mit der Limousine ab“, sagte Will und warf einen prüfenden Blick auf seine Uhr. „Wie die Mädels hinkommen, weiß ich nicht. Aber wahrscheinlich fahren sie auch zusammen. Ich bin schon gespannt, was sie anhaben werden.“ Er lächelte schief.
Ein Page kam durch die große Drehtür herein und sagte ihnen, dass man sie bereits draußen erwartete. Die beiden warfen sich einen viel sagenden Blick zu, dann folgten sie dem etwas aufgeregt wirkenden Pinguin ins Freie. Skandar hatte sich lässig an die Seite des schwarzen Cadillacs gelehnt und grinste sie breit an. Er trug Chucks, eine dunkle Jeans und einen dunklen Pullover, unter dem der hellblaue Kragen eines Hemds hervorlugte. „Oh man“, sagte er, als die beiden auf ihn zukamen. „Ihr seht aus, als würdet ihr zu einer Beerdigung gehen.“
„Quatsch nicht“, sagte Will, „sondern steig lieber ein. Wir sind sowieso schon zu spät dran.“ Alle drei grinsten sich an, schlugen sich kurz freundschaftlich auf die Schultern, dann stiegen sie nacheinander ein.
In London wären sie mit dem Leichenwagen sicherlich aufgefallen, dachte Ben, als sie durch die Straßen fuhren und niemand ihnen Beachtung schenkte. Hier war so etwas offenbar schon gang und gebe. Allerdings richteten sich plötzlich alle Augen auf sie, als sie vor dem Ziegfeld Theatre zum Stehen kamen. Jemand öffnete ihnen galant die Türe und sie kletterten mehr oder weniger elegant in der umgekehrten Reihenfolge wieder aus dem hinteren Teil des Wagens heraus.
Als sie draußen waren, richtete Ben seine Krawatte und knöpfte seine Jacke wieder zu. Dann setzte er ein strahlendes Lächeln auf und ging an den Rand des Teppichs. Hinter einer Absperrung warteten hunderte Fans und jeder von ihnen rief etwas. Er konnte kaum ein Wort verstehen, aber er liebte diesen Rummel. Er schrieb ein paar Autogramme, ließ sich mit ein paar Leuten fotografieren, schüttelte unzählige Hände und kam so nur langsam voran. Immer wieder warf er einen kurzen Blick auf die Uhr und sah sich um. Doch von den anderen war nichts zu sehen.
Schließlich erreichte er den Abschnitt, an dem die ganzen Fotografen warteten. Hier hatten sich bereits die beiden Zwergendarsteller Peter und Warwick eingefunden und redeten aufgeregt mit Andrew. An einer roten Wand dahinter hingen in regelmäßigen Abständen die Filmposter, die Kaspian in der Mitte zeigten. Er überlegte kurz, ob er wirklich so aussah und so böse gucken konnte, dann wurde er auch schon von Peter gepackt und zur Begrüßung in Höhe der Oberschenkel fest umarmt.
Andrew wirkte etwas nervös, als er ständig Blicke in Richtung der Straße warf. „Wo bleiben die drei denn?“, sagte er sichtlich genervt. Es war zwar allgemein bekannt, dass Frauen immer zu spät kamen, aber so spät?
Endlich kam wieder Bewegung in die Menge am Rand und er sah Georgie und Anna hinter einer Biegung auftauchen. Georgie wirkte in ihrem weiß-rosa Kleid fast erwachsen. Und Anna sah einfach bezaubernd aus in ihrer wallenden roten Robe. Als die beiden bei den Männern ankamen, überschlugen sich beinahe alle vor Begeisterung. Anna errötete höflich und winkte schnell ab. „Lasst uns die Fotos machen“, sagte sie und stellte sich in Position zwischen Ben und Will. Beide legten jeweils einen Arm um sie und von den Fotografen kamen begeisterte Rufe.
Als ein paar Bilder geschossen waren, löste sich Anna jedoch wieder von den beiden. „Wo ist Vic?“, fragte sie Georgie, doch die Jüngere zuckte nur mit den Schultern. Irgendwo mussten sie die Drehbuchautorin ja verloren haben. So groß war der rote Teppich nicht. Anna ging ein paar Meter zurück und späte umher. Schließlich fand sie die Italienerin, die ein wenig verloren auf die Fragen eines Reporters zu antworten schien. Eine Strähne hatte sich bereits aus ihrer schönen Hochsteckfrisur gelöst und fiel ihr locker über die Schulter. Anna stellte fest, dass es so in der Tat noch besser aussah.
Schnell stellte sie sich neben die Ältere und legte Hilfe gebend einen Arm um ihre Taille. „Geht es dir gut?“, flüsterte sie und zog sie lächelnd von dem Reporter weg. Vittoria nickte zögerlich. Sie hasste es, wenn alle sie so anstarrten. Am liebsten wäre sie wieder in das Auto gestiegen und zurück zum Hotel gefahren. Das war einfach nicht ihre Welt. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn und drohte ihr Make-up zu verwischen, was drei Stunden gedauert hatte, bis es so aussah wie jetzt. Ihre Haare, die man glatte vier Stunden bearbeitet hatte, machten jetzt schon wieder was sie wollten. Das Kleid war ihr plötzlich viel zu eng, sodass sie kaum Luft bekam, und sie hatte Angst, jeden Moment über ihre eigenen Füße zu stolpern, weil die Absätze ihrer silbernen Schuhe einfach viel zu hoch waren.
Zum Glück konnte sie sich ein wenig bei Anna abstützen, als sie sie zu den anderen führte. So lief sie nicht Gefahr, sich vollständig zu blamieren. Und zuerst schenkte ihr auch niemand Beachtung, als Anna sie einfach zwischen den Rest stellte, weil jeder irgendwie damit beschäftigt war, gut auf den Bildern auszusehen oder irgendwelche Späße mit jemand anderem zu machen. Doch dann erkannte Andrew sie.
Sein Blick fiel auf Vittoria und sie warf ihm noch eine flehende Mine zu, dass er bloß den Mund halten und niemanden auf sie aufmerksam machen sollte, doch es war zu spät. „Mensch, Vittoria“, sagte er begeistert. Bisher kannte er sie nur in Jeans und Pullover, aber in diesem Kleid wirkte sie beinahe wie ein Fleisch gewordener Männertraum. Sie hatte nicht so viel Grazie und Eleganz wie Anna, aber sie strahlte, trotz dass sie sich sichtlich unwohl fühlte, doch eine gewisse angeborene Würde aus.
Sofort richteten sich alle Augen auf sie. Wieder brach ihr der Schweiß aus und die Röte schoss ihr in die Wangen. Sie versuchte cool zu wirken, aber es gelang ihr nicht so richtig. Also gab sie es auf und ergab sich in ihr Schicksal. Sie würde hier sowieso nicht eher rauskommen, bis Anna ihren Willen hatte und sie zusammen auf einem Foto waren.
Als Andrew Vittorias Namen gesagt hatte, registrierte Ben erst, dass er einen Arm um sie gelegt hatte. Sie hatte sich zwischen ihn und Skandar geschoben und sich ziemlich klein gemacht. Dabei war sie eigentlich gar nicht zu übersehen. Seine Augen wanderten von ihren kunstvoll hochgesteckten Haaren zu ihrem Gesicht, was er noch nie mit Schminke gesehen hatte (durch die Wimperntusche und den Lidschatten wirkten ihre Augen riesig und strahlend), weiter runter zu ihrem Dekollete, was er aus Schamgefühl schnell wieder verließ, über ihre schmale Taille bis hin zu den Füßen, die in zierlichen silbernen Schuhen steckten, wo vorne noch ihre silbern bemalten Fußnägel herausguckten.
War das dieselbe Vittoria, die er auch kannte? Die, die ihn immer wieder beleidigt und angeschrien hatte? War das dieselbe keifende, nervige Drehbuchautorin, die er in Neu Seeland und in Prag erlebt hatte? Irgendwie konnte er das nicht glauben. Aber als er ihr in die Augen sah, bestand kein Zweifel mehr. Trotz ihres Unwohlseins flackerte immer noch dieses Feuer in den grünen Augen auf, was hoch loderte, sobald sie wütend wurde. Und Gott wusste, wie oft er das schon erlebt hatte.
Er starrte sie immer noch an, als sie bereits gemeinsam in den Saal gingen und ihre Plätze einnahmen. Seine Füße folgten ihr wie automatisch und als sich Skandar neben sie setzten wollte, verpasste er ihm einen Schubs und jagte ihnen einen Sitz weiter. Er wollte sich die Verwandlung von Vittoria genau ansehen. Ihm war vorher irgendwie nicht so richtig klar gewesen, dass sie auch eine Frau war. Der Vergleich vom hässlichen Entlein und vom schönen Schwan kam ihm daher auch nicht so ganz passend vor. Es verhielt sich hier eher wie bei einem kleinen unauffälligen Spatz, der plötzlich feststellte, dass er Flossen hatte, unter Wasser atmen und viel besser schwimmen konnte, als alle anderen.
Vittoria bekam von all dem nichts mit. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt nicht hinzufallen. Noch immer hatten sich ihre Füße nicht an die hohen Absätze gewöhnt und sie war ziemlich erleichtert, als sie sich endlich hinsetzen durfte. Andrews Rede bekam sie gar nicht mit, denn das Gefühl, als der Schmerz nachließ, war viel zu schön. Erleichtert entfuhr ihr ein Seufzen und sie widerstand nur schwer dem Drang, aus den Schuhen zu schlüpfen und sich die Sohlen zu massieren. Als der rote Vorhang auf der Bühne schließlich bei Seite glitt und die Leinwand entblößte, richtete sich ihre Konzentration auf den Film. Gespannt lauschte sie der Anfangssequenz des Hauptmusikthemas und lächelte erwartungsvoll, als sie die erste Einstellung sah.