LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 21
~ True Love
And I wish you could have let me know
What’s really going on below
Die Arbeit mit Cate war großartig. Joe war zwar nicht die einzige am Set, die sie in den Drehpausen wieder herrichtete, doch sie war die einzige Person, die nur und ausschließlich für das Kleid und dessen Falten zuständig war. Wenn Galadriel sich bewegte, dann mussten der Mantel und das Kleid so fallen, wie es für die Kamera am besten aussah. Und das allein war schon eine Herausforderung.
Ganz nebenbei lernte Joe so auch noch Ian McKellen und Hugo Weaving etwas besser kennen. Die beiden älteren Männer nutzten jede Gelegenheit, um sich einen Spaß zu erlauben. Ob es nur darum ging, ein bisschen herumzualbern, oder darum, jemanden wirklich in die Pfanne zu hauen. Jedes Mal, wenn Joe zu den beiden blickte, musste sie grinsen.
Natürlich schenkte ihr keiner der beiden großartig Beachtung, doch das war schon in Ordnung so. Sie war damit zufrieden, dass sich Cate ab und zu mit ihr unterhielt, wenn sie nicht gerade mit Pete über ihren Text sprach.
Die Szene des Weißen Rates, die Pete aus den Anhängen des Der Herr der Ringe entnommen hatte, forderte von den alteingesessenen Schauspielern eine große Leistung. Nicht nur, dass Sir Christopher Lee auch wieder in die Rolle des Saruman schlüpfen würde, er würde auch noch digital eingefügt werden müssen. Denn der Brite war vor kurzem rüstige 89 Jahre alt geworden und scheute den langen Flug nach Neuseeland etwas. Deswegen hatte man seine Szenen, so wie die Szenen von Sir Ian Holm, der erneut in die Rolle des älteren Bilbos schlüpfen würde, in die Pinewood Studios nahe London verlegt. In Wellington saß folglich nur ein Double, welches den Platz für den Dracula-Schauspieler freihielt.
„Und was ist meine Intention hinter diesem Satz?“, fragte Cate, als Joe sie erneut richtig in Pose drehte. Die Australierin sah den Regisseur fragend an, während eine weitere Person sich an ihren künstlichen Haaren zu schaffen machte. Dabei hielt sie vorsichtig ihr Diadem fest, damit es nicht verrutschte.
Statt Peter antwortete jedoch Ian McKellen. Man hatte ihm seinen Hut genommen, denn er würde nun als Gandalf vor der Herrin von Lórien sprechen. Es sollte nur eine kleine Szene werden, in der Galadriel Gandalf fragte, wieso er den Halbling ausgewählt hatte.
Das hatte sich Joe auch schon immer gefragt, als sie damals in ihrer Kindheit das Buch gelesen hatte. Wie viel einfacher wäre es gewesen, einen Elb mit auf die Reise zu nehmen. Elladan oder Elrohir vielleicht, Glorfindel oder gar Herrn Elrond selbst. Doch vermutlich hätte die Zwerge dann gestreikt und hätte den Elb im Schlaf ermordet und Gandalf gleich mit dazu.
Ein Mensch wäre vermutlich zu auffällig gewesen, zu laut und ungelenk. Außerdem traute die Gemeinschaft um Thorin sich ja kaum selbst über den Weg. Welche andere Rasse in Mittelerde blieb also übrig?
Joe war seit den Filmen von Peter Jackson regelrecht besessen gewesen von der Mythologie Ardas. Sie hatte sich nicht nur Das Silmarillion gekauft und es gelesen, sondern auch viele andere Bücher, die noch zu dieser Reihe zählten. Auch hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sich ein wenig von ihrer visuellen Kunst zu entfernen und das Schreiben zu versuchen. Eine Idee zu einer eigenen Geschichte war ihr gekommen, als sie sich während des ersten Films unsterblich in Legolas verliebt hatte. Sie war damals gerade 21 gewesen, hatte kaum Erfahrung mit Männern gehabt und sich aus dem Schauspieler das Idealbild eines Mannes geformt, der sie verstehen würde.
Eine besondere Faszination in den Filmen aber war von Galadriel für sie ausgegangen und sie hatte sich eine Figur passend dazu ausgedacht: eine jüngere Tochter von Galadriel und Celeborn.
Diese Idee hatte es allerdings nie geschafft, vollständig auf Papier gebannt zu werden. Sie war eher damit beschäftigt gewesen, Zeichnungen der verschiedenen Personen anzufertigen und sie in ihrer Mappe zu sammeln. Irgendwann hatte sie ihre frühen Werke dann in einen Umzugskarton verbannt und seitdem nicht mehr herausgeholt. Vielleicht war jetzt ja wieder die Zeit dafür gekommen.
„Joe?“ Petes Stimme riss sie aus ihren Gedanken heraus. Noch immer fummelte sie an einer bestimmten Falte des silbernen Mantels herum, hatte aber schon unbewusst mehrere Male wieder ihr Werk zerstört. Verwirrt blinzelte sie zu dem Regisseur hoch. „Bist du fertig?“
Ihre Wangen erglühten als sie merkte, dass sie beobachtet wurde, dass sie den weiteren Dreh aufgehalten hatte, und sie beeilte sich, fertig zu werden und von dem erhöhten Podest herunter zu kommen, um nicht in die Linse der Kamera zu geraten. Dabei stolperte sie ziemlich ungeschickt über ihre eigenen Füße und landete genau vor Ian McKellen auf dem Boden.
„Hoppla!“, sagte er. Sofort beugte er sich zu ihr herunter und reichte ihr eine Hand, damit er ihr beim Aufstehen behilflich sein konnte. Als sie wieder stand, sah er sie lächelnd an. „Alles in Ordnung?“
Sie klopfte sich den Staub von ihrer Kleidung, schob ihre Haare wieder hinter ihre Ohren und nickte nur stumm. Schnell huschte sie davon, während sie noch den Blick des Briten auf sich spürte. Sie konnte beinahe seine Gedanken erraten. Unhöfliches Ding, bedankt sich noch nicht einmal! Die Jungend von heute…
Doch sie vergaß das schnell wieder, als sie auf dem Bildschirm nun sah, wie Cate dort oben stand. Sie hatte ihr gesagt, dass sie, wenn sie sich nicht in dem Kleid verheddern wollte, wenn sie sich umdrehte, erst einen Schritt zur Seite machen musste, bevor sie Gandalf mit den Blicken folgte. Dann sollte sich das Kleid eigentlich so hinlegen, dass es gewollt und ästhetisch aussah. Sie legte Zeige- und Mittelfinger über Kreuz, als Pete das Kommando für Licht, Ton und Kamera gab.
Es dauerte eine Weile, bis sie diese kleine Szene im Kasten hatten, da Cate immer wieder vergaß, wo sie zu Anfang gestanden hatte. Das bedeutete, dass Joe das Kleid wieder richtig hinlegen musste, bevor es weitergehen konnte.
Eigentlich hätte sie in ihrem Atelier noch genug zu tun gehabt. Immerhin musste sie noch ein paar elbische Statisten einkleiden. Doch leider hatte Pete mit Richard Taylor gesprochen und Joe noch für eine weitere Weile ausgeliehen. Er hatte ja damals bereits angedeutet, dass er sie vermutlich für den kompletten Dreh beanspruchen würde. Doch irgendwie hatte sie gehofft, dass sie nach ein paar Wochen wieder zurück zu WETA kommen würde. Besonders jetzt, da sie es sich so mit ein paar der Schauspieler verscherzt hatte.
Als sie am Abend nach Hause kam, war Emily noch nicht da. Das Haus war leer, bis auf ihre beiden Katzen, die ihr nun um die Beine strichen und nach Essen verlangten. Sie kümmerte sich um die beiden Stubentiger, dann kochte sie sich selbst etwas. Da sie keine besonders große Lust hatte, etwas wirklich Großes zu kochen, wurden es nur Nudeln mit einer schnellen Tomatensoße. Das ging immer.
Gerade, als sie damit fertig war und sich die erste Portion auf einen Teller lud, ging die Haustür auf. Bevor Joe Hallo sagen konnte, wurde sie aber wieder zugepfeffert. Sie hörte nur einen lauten Knall, dann flogen offenbar Emilys Schuhe, Tasche und Mantel in die offene Garderobe in der Diele und ihre Mitbewohnerin betrat den großen Wohnraum.
Es war schon eine Weile her, dass die beiden beschlossen hatten, es als WG miteinander zu versuchen. Emily drückte nun Miete an Joe ab und sie teilten sich die Haushaltskosten. Bisher funktionierte es wunderbar. Doch irgendetwas sagte Joe, dass das ab heute anders werden würde.
„Hey“, sagte sie daher vorsichtig, „wie war dein Tag?“
Emily schnellte zu ihr herum und warf ihr einen bösen Blick zu. „Was interessiert dich das denn auf einmal?“
Verwirrt ruckte Joe mit dem Kopf zurück. „Ähm“, machte sie nur, zu vor den Kopf gestoßen, um etwas Intelligenteres hervorbringen zu können. Was war denn da los? War vielleicht etwas passiert? Hatte es Ärger im Großatelier gegeben oder war das Stofflager vielleicht abgebrannt? Der allgegenwärtige Gedanke, dass Richard sie feuern würde, übertrug sich auf Emily und sie befürchtete schon, dass ihre neue Freundin nun arbeitslos sein könnte. Und weil ihr nichts Besseres einfiel, hielt sie Emily den vollen Teller hin. „Spaghetti?“
Genervt warf die Schneiderin sich auf das großzügige Sofa und legte die Füße auf den Sofatisch hoch. Es schepperte kurz, als sie das Glas darin traf, doch es kümmerte sie offensichtlich nicht. Zum Glück ging auch nichts kaputt. Doch Joe zuckte zusammen. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Und als Emily sprach, wurde diese Ahnung zur Gewissheit. „Was ist? Hast du ein schlechtes Gewissen, dass du mir dein Essen anbietest? Sonst interessiert es dich doch auch nicht, wie ich mich fühle.“
„Was?“ Joe kam nun überhaupt nicht mehr mit. „Nein!“, stieß sie hervor, merkte, dass das das falsche Wort war, und ruderte zurück. „Ich meine, doch.“ Und dann verlor sie den Faden. Verwirrt sah sie ihre Freundin an. „Ich meine: was?!“
„Was ‚was‘?“
„Was ist los mit dir?“ Jetzt war es raus! Ein wenig stolz auf sich, weil sie diese Frage herausbekommen hatte, ohne blöde zu stottern, kam sie um die Anrichte herum und stellte dabei den Teller ab. Denn scheinbar wollte Emily nichts essen.
Sie wollte wohl eher streiten. Denn sie lehnte sich nun wieder vor, stützte die Ellbogen auf ihren Knien ab und sah Joe schräg von unten an. „Das fragst du ernsthaft?“
„Ähm, ja, offensichtlich.“
Emily stieß einen Laut der Verachtung aus und ließ sich wieder zurücksinken. Sie warf die Unterarme über ihre Augen und stöhnte laut auf. „Prima! Dann werde ich es dir mal für Dumme erklären: das ganze Wochenende über versuche ich dich aufzumuntern, mache dir etwas zu Essen, frage, was los ist, kriege aber doch nie eine Antwort oder ein Dankeschön von dir. Alles, was ich kriege, ist Schweigen.“
Okay, musste Joe innerlich zugeben, da hat sie einen Punkt getroffen.
„Und kaum taucht diese schillernde Gestalt von einer Schauspielerin auf und du öffnest ihr dein Herz, erzählt ihr all das, was dich bedrückt, während ich nur immer wieder ein stummes Kopfschütteln von dir bekomme. Ist dir eigentlich klar, wie sehr du dir mit deinem Verhalten dein Leben verbaust? Du hast keine sozialen Kontakte, weil du Angst vor den Menschen hast. Du wagst dich kaum in die Kantine, weil man dich da in ein Gespräch verwickeln könnte. Und als man dir eine Freundschaft auf dem goldenen Tablett überreicht, weigerst du dich, sie anzunehmen.“ Emily war zum zweiten Teil ihrer Predigt aufgesprungen und mit jedem Wort näher an Joe herangetreten, die mittlerweile zur Theke zurückgewichen war und sich nun dagegen lehnte.
Nun stand ihre Freundin genau vor, sah ihr mit einer stechenden Ehrlichkeit in die Augen und bohrte ihren rechten Zeigefinger über der Stelle in ihre Brust, wo das Herz schlug. „Und deswegen frage ich dich, was mit dir los ist.“
Eine Weile standen sie so da, wobei keine von beiden sich rührte oder etwas sagte. Dann wurde es Emily zu bunt und sie wiederholte die Frage. Die ganze Zeit über ließ sie Joe nicht aus den Augen, die es kaum wagte zu blinzeln.
Sie hatte geahnt, dass solch eine Konfrontation irgendeinmal kommen musste. Eine ihrer Psychiater damals, die sie im Laufe ihres Lebens betreut hatten, hatte ihr prophezeit, dass sie sich nicht ewig hinter ihrem Schweigen verstecken konnte. Irgendwann würde jemand kommen, der das alles durchbrach, der ihre Fassade aus Stille durchschaute und die Frau dahinter sah, die sie war. Doch mit den Jahren war sie so oft auf Ablehnung gestoßen, dass die Fassade mit dem Inneren verschmolzen war. Mittlerweile war sie nicht mehr einfach nur schüchtern. Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie konnte gar nicht mehr offen mit anderen Menschen sprechen.
Tränen sammelten sich in ihren Augen und ihre Knie wurden weich. Sie lehnte sich schwer an die Theke hinter sich, umklammerte den Granit der Arbeitsfläche wie einen Rettungsring in der Hoffnung, dass sie nicht stürzen würde. Sie konnte nur hoffen, dass Emily von ihr abließ, dass ihre Tränen sie vielleicht dazu brachten, noch einmal Mitleid mit ihr zu haben und sie in Ruhe zu lassen.
Doch Emily hatte die Nase voll. Sie wollte das alles nicht mehr. Als sie versucht hatte, mit Joe befreundet zu sein, hatte sie ja nicht ahnen können, dass es ausgehen würde. Diese ganze Situation hing ihr zum Hals heraus. Damals hatte sie noch gedacht, die junge, schüchterne Frau ein bisschen unter ihre Fittiche nehmen zu können, um sie etwas aus der Reserve zu locken. Doch das ganze Unterfangen hatte sich als schwieriger herausgestellt, als es zu Anfang ausgesehen hatte. Joe war so festgefahren in ihren Mustern, weil sie so viele Jahre lang alleine gelebt hatte, dass sie gar nicht mehr anders konnte.
Und damit würde sie nun ein für alle Mal Schluss machen!
Bis in die Haarspitzen wütend und verzweifelt packte die Schneiderin die Blondine bei den Oberarme, griff vielleicht ein bisschen zu hart zu, doch das war ihr in diesem Moment egal. Sie wollte sie nur zur Vernunft bringen, sie so lange anschreien, bis sie endlich dieses Kleine-Mädchen-Muster abschüttelte.
„Hör auf damit!“, sagte Emily laut. Sie packte fester zu, als keine Reaktion kam, und sagte noch einmal, dieses Mal noch lauter: „Du sollst damit aufhören! Hör auf damit, dich ständig hinter dieser dämlichen Fassade zu verstecken, und rede endlich mit mir. Rede, verdammt noch Mal!“
Doch Joe sagte nichts. Ihre Augen hielt sie fest geschlossen, weil sie ihrer Freundin nicht ins Gesicht sehen konnte. Die eigene Scham war so groß, dass sie gar nichts machen konnte, außer wie ein nasser Sack in ihren Armen zu hängen und zu spüren, wie ihr Kopf hin- und hergeworfen wurde. Sie zog sich in ihre eigene Welt zurück, wo sie immer glücklich war, wo sie noch mit ihrer Mutter zusammen war, und fühlte schließlich gar nichts mehr.
Erst, als Emily sie schließlich losließ, spürte sie wieder etwas. Ihre Knie brannten auf einmal wie Feuer und als sie die Augen wieder aufmachte, sah sie, dass sie auf dem Boden zusammengesackt war. Ihre Arme zitterten.
Vor ihr ging Emily ebenfalls in die Knie. Auch sie bebte am ganzen Körper. Ihr Make-up zeigte dunkle Tränenspuren auf ihrem hübschen Gesicht und heftige Schluchzer erschütterten ihre Schultern. Sie hielt ihre eine Hand mit der anderen umklammert und starrte darauf. Da erst wurde Joe bewusst, dass ihre Wange brannte. Hatte Emily sie geschlagen?
Vorsichtig befühlte sie die schmerzende Stelle. Es war kein fester Schlag gewesen, doch er hatte sie aus ihrer Traumwelt herausgeholt. Man hatte sie noch nie geschlagen.
Sie war sich ziemlich sicher, dass manche Leute es liebend gern einmal getan hätten, darunter bestimmt ein paar von ihren Therapeuten. Doch bis heute hatte sich das niemand gewagt. Niemand war bisher so verzweifelt gewesen, dass er zu diesem äußersten Mittel gegriffen hatte. Und was sagte das jetzt über ihre Freundschaft aus?
Hasste Emily sie, weil sie einfach nie im richtigen Moment den Mund aufmachen konnte? Weil sie immer, selbst wenn man sie provozierte, schwieg? Weil diese Stille wie ein großer, unüberwindbarer Burggraben war, der sie und ihre Gefühle umgab? Weil sie nie jemanden an sich heranließ, aus Angst, dass sie wieder verletzt und enttäuscht werden könnte? Oder was war das, was Emily empfand?
Dann plötzlich wurde es ihr klar: Emily tat das alles nicht, weil sie ihr nichts bedeutete. Sie hat es gerade, weil sie ihr etwas bedeutete. War das logisch? Dass sie Joe anschrie und schlug, weil sie sie liebte?
Und als hätte Emily ihre Gedanken gelesen sagte sie plötzlich immer noch unter Tränen und mit erstickter Stimme: „Du bist echt eine miese Freundin, Johanna Taylor.“ Sie lachte kurz trocken auf. „Aber ich liebe dich.“
Tief in Joe drin brach etwas. Es wurde einfach entzweit, wie ein brüchiger, morscher Ast, der vom Wind davongetragen und auf die Straße geschleudert wurde.
Wann hatte ihr jemand diese Worte das letzte Mal gesagt?
Wieder sammelten sich Tränen in ihren Augen. Dieses Mal jedoch war es wie ein Sturzbach, der sich nicht mehr aufhalten ließ. Verzweifelt versuchte sie Halt auf den Fliesen zu finden, doch ihre Finger rutschten immer wieder ab. Ihre Arme gaben nach, konnten sie nicht mehr halten. Sie musste sich mit dem Rücken an die Theke lehnen, um nicht mit dem Gesicht auf den Boden zu klatschen.
Am liebsten hätte sie etwas gesagt, doch sie brachte kein Wort über die Lippen. Sie konnte ihre Freundin nur stumm durch den Schleier von Tränen anstarren. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Womit hatte sie das verdient?
Emily hörte, wie Joe weinte, und sie weinte mit ihr. Ungefragt krabbelte sie auf ihre Freundin zu und setzte sich ihr gegenüber. Sie packte sie wieder bei den Oberarmen, dieses Mal jedoch viel sanfter, und zog sie zu sich heran, bis Joes Kopf an ihrer Brust lag. Ihre Schultern bebten gleichzeitig auf, während sie beide schluchzten. So saßen sie eine Weile auf dem Fußboden vor der Küche und keine bewegte sich.
Irgendwann verebbte das Schluchzen und Emily hob einen Arm. Sie strich Joe damit über den blonden Haarschopf. „Ich weiß“, begann sie vorsichtig, jeden Wort abwägend, „dass es nicht leicht für dich ist. Aber so kann das nicht weitergehen.“
Leicht vor den Kopf gestoßen machte Joe sich los und sah Emily an, die immer noch ihre eine Hand hielt und mit der anderen ihre Wange streichelte.
„Du kannst mich nicht so einfach im Unklaren darüber lassen, was in dir vorgeht, wenn ich deine Freundin sein soll. Ich weiß, wir kennen uns noch nicht so lange, doch ich hab dich ins Herz geschlossen. Und ich möchte, dass es dir gut geht. Ich möchte deine Freundin sein. Aber das geht nur, wenn du mir etwas entgegenkommst. Verstehst du das?“
Stummes Nicken war die Antwort.
„Gut, dann mache ich dir jetzt ein Angebot, das du nicht ablehnen kannst.“ Das Filmzitat entlockte Joe schließlich ein zartes halbes Lächeln mit dem rechten Mundwinkel. Und Emily sagte weiter: „Ich helfe dir bei deinem kleinen Problem und im Gegenzug bekomme ich auch etwas von dir. Einverstanden?“
„Und was willst du von mir haben?“, fragte Joe verwirrt, weil sie sich nicht vorstellen konnte, was sie ihrer Freundin wohl zu bieten haben könnte.
Doch Emily grinste nur verschmitzt. Sie stand auf und hielt Joe ihre Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Die ergriff die dargebotene Stütze, doch bevor die Schneiderin sie auf die Beine ziehen konnte, hielt sie noch einmal inne, sah Joe tief in die Augen und sagte: „Ich will dein Vertrauen. Dass alles, was ich tue, um dir zu helfen, nicht passiert, weil ich dir etwas Böses will, sondern weil ich dir helfen will. Kannst du das? Kannst du mir soweit vertrauen?“
Eine Weile musste Joe darüber nachdenken. Nicht nur, dass Emily auf eine Weise in ihr Leben eingedrungen war, die erhebliche Einbußen für ihre Privatsphäre bedeutet hatte. Jetzt wollte sie auch noch in ihren Kopf eindringen.
Doch andererseits hatte sie keine andere Wahl. Sie mochte zwar ihr altes Leben, doch sie sah ein, dass sie so nicht weitermachen konnte. Sie hatte keine richtigen Freunde bis auf Emily, keine Familie mehr, an die sie sich wenden konnte. Und wenn sie nicht aufpasste, würde sich das an ihrem Arbeitsplatz zu einem echten Problem entwickeln.
Also fasste sie einen schwerwiegenden Entschluss, der ihr ganz und gar nicht leicht fiel. Doch es musste sein. Und so nickte sie auf Emilys Frage hin und dachte still: Ja, ich will ihr vertrauen.
***
Fahl und fast durchscheinend liegt sie vor dir auf diesem Laken. Ihre Hände sind nur noch Haut und Knochen, ihr Gesicht gleicht dem eines Totenschädels. Ihre Wangen sind eingefallen, die Haut beinahe grau, die Augen liegen tief in ihren Höhlen. Doch um ihren grotesk verzerrten Mund spielt ein Lächeln, als sie dich ansieht.
Der Krebs hat sich gezeichnet, hat sie gebrandmarkt wie ein Stück Vieh, sie ausgesaugt und schließlich verbraucht und benutzt wieder ausgespuckt. Sie ist nicht mehr die Frau, die dich großgezogen hat. Und du bist nicht mehr der junge Teenager, der eigentlich noch zur Schule gehen müsste. In diesem Moment, in dem dich deine Mutter mit den glanzlosen Augen ansieht, bist du nur ein kleines Mädchen, unfähig dich zu rühren.
Sie streckt die Hand nach dir aus und du ergreifst sie, hältst sie fest, bis du befürchten musst, ihr die feinen Knochen darin zu brechen. Doch du kannst nicht loslassen, denn du weißt, dass, wenn du es tust, sie garantiert die Augen schließt.
Seit Tagen nun sitzt du schon hier und wachst an ihrer Seite. Du isst kaum, du schläfst nur, wenn sie wach ist und dir schwach über dein Haar streichelt. Denn wenn sie selbst schläft, hast du zu große Angst, dass sie im Schlaf sterben könnte. Doch gerade jetzt, wo es am aussichtslosesten erscheint, lächelt sie, streicht dir sanft über die Wange und eine Träne glitzert in ihrem Augenwinkel. Das scheint alles zu sein, was noch an Flüssigkeit übrig geblieben ist in ihr drin.
Die Chemotherapie hat sie nicht nur ihre wundervolle Figur gekostet. Auch ihr traumhaftes kastanienbraunes Haar ist ihr ausgefallen. Die grünen Augen, die sie dir vererbt hat, sind blasser und kleiner geworden. Es liegt nicht mehr dieses tiefe Feuer darin verborgen. Und doch ist sie noch immer deine Mutter, die kämpft, um bei dir bleiben zu können. Doch du weißt es genauso gut wie sie selbst und wie die Ärzte es wissen: diesen Kampf hat sie schon längst verloren.
„Versprich mir etwas“, flüstert sie heiser, dass du sie kaum verstehen kannst. Doch du nickst unter Tränen, weil du genau weißt, dass nun der Moment gekommen ist. Du weißt es ganz tief in dir drin, obwohl du es nicht akzeptieren willst. Noch kannst du sie nicht gehen lassen.
„Versprich mir, dass du ein gutes Mädchen bleibst. Lass dir von niemandem einreden, dass du schlecht bist. Hörst du?“
Du hast den Kopf gesenkt, weil du das nicht hören willst. Doch sie hebt sanft dein Kinn wieder an, damit du ihr noch einmal in die Augen sehen kannst. „Hörst du?“, wiederholt sie. Aber deine Kehle ist wie zugeschnürt. Du kannst nicht sprechen. Deswegen nickst du nur wieder, obwohl du jetzt schon weißt, dass du dieses Versprechen nicht halten kannst. Dafür fehlt dir das nötige Selbstbewusstsein. Und trotzdem möchtest du ihr diesen letzten Wunsch erfüllen.
Ein letztes Mal streichelt sie deine Wange, bevor ihre Hand neben deinem Gesicht zum Ruhen kommt. Die Sonne ist vor ein paar Stunden untergegangen und draußen ist es dunkel. Du legst deinen Kopf auf das Laken, hörst den schwachen Herzschlag, der von diesen technischen Geräten begleitet und aufgezeichnet wird. Und nur ganz schwach, doch für dich überdeutlich, hörst du ihre letzten Worte, die sie an dich richtet, bevor sie für immer die Augen schließt.
„Ich liebe dich.“