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Kapitel 20

 

~ Carry on Wayward Son

 

Though my eyes could see, I still was a blind man 

Though my mind could think, I still was a mad man 

I hear the voices when I'm dreaming

 

Der Montagmorgen verlief erstaunlicherweise einigermaßen zwischenfallfrei. Nachdem Joe beinahe das gesamte Wochenende in ihrem Zimmer verbracht und Emily vergeblich versucht hatte, aus ihrer Freundin herauszubekommen, was denn eigentlich passiert war, waren beide irgendwie froh, dass sie wieder arbeiten gehen konnten. Denn das implizierte, dass sie sich endlich, ohne erst einen Grund erfinden zu müssen, aus dem Weg gehen konnten.


Als Emily an diesem Tag in die Küche kam, war Joe auch schon weg. Sie hatte das Fahrrad genommen und Emily das Auto dagelassen. So konnte sie direkt zum Art Department durchfahren und lief nicht Gefahr, von jemandem angehalten und ausgefragt zu werden, was denn am Freitag nur los war. Dass ihr jemand vor den Reifen springen würde, hielt sie eher für unwahrscheinlich. Sie war aber sichtlich erleichtert, als sie die Tür ihres Ateliers endlich hinter sich schließen konnte.

Ein paar Stunden später, Joe brach vor Aufregung gleich der Schweiß aus, klopfte es dann. Nun kam der Moment, auf den sie so lange gewartet hatte, auf den sie monatelang hingearbeitet hatte. Gleich würde sich entscheiden, ob sie auch alles richtig gemacht, oder ob sie vielleicht sogar kläglich versagt hatte.

Jeder normale Mensch hätte gesagt, dass er alles gegeben hatte, und dass das, was nun kam, nicht mehr in seiner Macht lag. Bei Joe sahen die Gedankengänge ein bisschen anders aus. Sofort malte sie sich, obwohl sie es immer wieder zu unterdrücken versuchte, das Allerschlimmste aus: dass Cate Blanchett das Kleid nicht passen könnte; dass ihr das Kleid nicht gefiel; dass ihr das Kleid zwar am Bügel gefiel, aber an sich selbst nicht; dass das Kleid bei der ersten Anprobe sofort in seine Einzelteile zerfiel, weil Joe es nicht gründlich genug zusammengenäht hatte. Und alle diese Ideen endeten früher oder später damit, dass sie ihre Sachen packen und am selben Tag noch nach Hause geschickt wurde.

Daher wartete, als Fran Walsh, Peter Jacksons Ehefrau, nun mit Cate und ein paar anderen Leuten das Atelier betrat, ein völliges Nervenbündel auf die Delegation. Von Pete wusste Fran, dass Joe ein wenig schüchtern war. Daher hatte sie sich bereits vorab ein bisschen informiert, was mit dem Kleid so los war. So würde sie vielleicht Cates bohrendsten Fragen beantworten können.

Zunächst allerdings musste die erste Barriere überwunden werden: die Begrüßung.

Mit einem breiten Lächeln, was vermutlich selbst die Sonne zum Verblassen gebracht hätte, schwebte Cate Blanchett scheinbar auf einer Wolke die Stufen zu Joe herunter und streckte ihr ihre Hand entgegen. Jemand musste ihr gesagt haben, dass sie die Designerin war.

Nur sehr zögerlich ergriff Joe die dargebotene Hand, weil sie fürchtete, dass ihre Handflächen schweißnass sein könnten. Doch wenn sie es waren, ließ sich die Australierin nichts anmerken. Sie lächelte unbeirrt weiter. „Hallo, ich bin Cate“, sagte sie mit einer Stimme, die viel tiefer war als erwartet. „Und du musst Johanna sein.“

Sofort erglühten ihre Wangen und sie musste den Blick senken, weil sie nicht mehr in diese blauen Augen sehen konnte. Cate trug bereits ihre Ohren und die Perücke, was sie ein wenig fehl am Platz wirken ließ. Doch das machte überhaupt nichts. Es war eher so, dass die Umgebung falsch wirkte, und nicht die Frau selbst. Wie eine Königin war sie einfach da. Sie füllte den kleinen Raum mit den hellen Wänden und dem Teppich mühelos aus, als wäre das alles nichts und diese Umgebung nur für sie gebaut worden.

Nervös strich sich die Designerin eine Haarsträhne hinters Ohr. „Joe“, hauchte sie, entzog der Dame ihre Hand und versteckte sie schnell in den Tiefen ihrer Hosentasche.

„Es freut mich sehr, Joe. Und ich bin wahnsinnig gespannt auf das Kleid!“

Fran lachte leise im Hintergrund. „Das sind wir alle, glaube ich.“ Sie hatte Ann als Verstärkung mitgebracht. Die ältere Designerin ergriff nun das Wort, indem sie den Raum mit den Augen absuchte, die noch abgedeckte Puppe fand und schließlich verkündete: „Dann wollen wir doch mal sehen, wie es dir passt, Cate!“

Sie klatschte erfreut in die Hände und schickte alle männlichen Hilfen und sämtliche Kameras nach draußen, denn es würde ein wenig dauern, bis sie Cate in das Kleid gehüllt hatten. Mit dem zarten Stoff mussten sie sehr vorsichtig sein.

Es dauert fast eine Stunde, dann klopfte es ungeduldig an der Tür. Ein Kamerateam für die Making-off-Aufnahmen wollte hinein. Und da alles verdeckt und am richtigen Platz war, öffnete Fran ihnen.

Joe versteckte sich sofort in einer Ecke hinter dem Vorhang, der eher ungenutzt und unmotiviert den oberen Bereich mit der Eingangstür vom unteren Bereich mit dem großen Arbeitstisch abtrennte. Sie wollte auf gar keinen Fall, dass ihr Gesicht irgendwo auftauchte. Am liebsten hätte sie das ganze Theater Ann überlassen, doch die hatte das strickt abgelehnt, weil es immerhin ihr Meisterwerk war und sie es auch präsentieren sollte. Also hatte Joe hier zu sein, ob sie wollte oder nicht.

Sie fing vor Nervosität gleich wieder auf ihrer Unterlippe zu kauen an. Als sie sich aber dabei erwischte, hörte sie sofort auf. Sie wollte den bestmöglichen Eindruck hinterlassen. Dafür hatte sie sich extra in ihre beste Jeans geworfen und eine leichte Bluse mit einer Strickjacke angezogen. Das Schickste, was ihr Kleiderschrank zu bieten hatte, und was nicht sofort overdressed wirkte. Dazu trug sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, hatte sich die Nägel gefeilt und sogar ein wenig Make-up aufgetragen. Doch ihre gesamte Mühe verblasste, als sie Cate das erste Mal in dem Kleid sah.

Mit offenem Mund vergaß sie ganz, dass so viele Leute im Raum waren, als die blonde Australierin mit den Elbenohren die drei Stufen hochstieg und sich dann umdrehte, sodass ihr silberner Mantel sich elegant um ihre Füße wickelte.

Ganz und gar hingerissen stöhnte Ann auf. „Es sieht wunderschön aus“, hauchte sie, während Fran gar nichts sagen konnte. Auch die restlichen Anwesenden verstummten und sahen nur dabei zu, wie Joe nun aus ihrem Versteck kam und auf den Mantel zuging. Sie nahm eine Falte des zarten Stoffes zwischen die Finger und legte ihn ein wenig zur Seite. Das führte dazu, dass der Mantel nun in völlig symmetrischen Lagen ruhte.

Zutiefst beeindruckt legte Ann ihrer jungen Kollegin eine Hand auf die Schulter, als die sich wieder aufgerichtet hatte, um ihr Werk aus nächster Nähe zu begutachten. „Das ist wirklich ein Kunstwerk geworden, Kleines“, sagte sie und drückte ihre Schulter leicht.

„Danke“, flüsterte Joe und wollte sich schon wieder wegduckten. Doch in diesem Moment bewegte Cate sich wieder und der Zauber des perfekten Arrangements war verflogen. Verzückt beugte sich die Australierin zu der Neuseeländerin herunter. „Es sieht wirklich toll aus, Joe. Ich danke dir!“ Sie reichte ihr erneut die Hand.

„Etwas fehlt noch“, sagte Joe schnell, bevor sie wieder in Verlegenheit kommen konnte. Sie hatte sich das zusammen mit Ann überlegt, weil sie Galadriel einen majestätischen Gang verleihen wollten. Deswegen hatten sie zusammen mit dem Schuster etwas anfertigen lassen.

Sie kehrte aus den Tiefen ihrer Vorräte mit einem übergroßen Schuhkarton zurück, der ein Paar Plateauschuhe enthielt. Diese waren gute neun Zentimeter hoch und vorne abgerundet, damit man den Fuß besser abrollen konnte. Schüchtern streckte Joe sie Cate entgegen. „Die gehören noch dazu.“

Mit etwas Hilfe gelang es schließlich Fran, Cate die Schuhe anzulegen. Die machte ein paar wacklige Schritte damit und entschied, dass sie nicht darin laufen wollte während des Films. Das entlockte sogar Joe ein Lächeln.

Es folgten noch ein paar Aufnahmen mit der Making-off-Kamera, jemand schoss ein Foto, Cate probierte noch die anderen Outfits an, dann knisterte Frans Walkie Talkie. „Ich muss los“, verkündete sie schlicht, warf allen einen entschuldigenden Blick zu und ließ Cate mit Joe und Ann alleine.

Als die Tür hinter dem Haufen, der das Atelier gerade verlassen hatte, zufiel, atmete Joe erleichtert auf. Nun war es nur noch Cate, über die sie sich Sorgen machen musste. Ann würde ihr beinahe alles verzeihen, so wie sie im Moment guckte. Ihr Blick war noch ganz entrückt von dem, was sie soeben alles gesehen hatte. Vermutlich würde sie Joe nie mehr als die Unerfahrene bezeichnen, denn mit dieser wundervollen Robe für die Herrin der Galadhrim hatte sie sie ganz klar übertroffen.

Mütterlich legte sie Joe eine Hand auf den Arm, als die sich gerade daran machen wollte, ein paar Nadeln zu lösen. „Geht es dir gut?“ Sie wirkte wirklich besorgt, denn ihr waren ganz sicher die kleinen Augen nicht entgangen, mit denen Joe den gesamten Vormittag schon geguckt hatte, als hätte sie am Wochenende nicht genug Schlaf bekommen.

Joe nickte nur stumm, was Cate dazu brachte, sich umzudrehen, weil sie mit dem Rücken zu den beiden stand. „Stimmt etwas nicht?“

„Nein!“, riefen beide schnell aus, eine überraschter als die andere, dass Joe tatsächlich von ganz allein gesprochen hatte.

„Gut“, sagte Cate. Sie bekam nicht mit, dass zwischen den beiden eine stumme Zwiesprache gehalten wurde, in welcher Ann Joe versuchte zu überreden, ihr zu erzählen, was denn nur los war. Die weigerte sich aber und war dankbar, dass Cate fortfuhr: „Ich hab nämlich ziemlichen Hunger. Und in einer Stunde muss ich schon am Set sein. Würde es einem von euch etwas ausmachen, mich in die Kantine zu begleiten? Ich würde das Kleid ungern aus- und wieder anziehen müssen. Das dauert vermutlich viel zu lange und ich sterbe wirklich vor Hunger.“ Dabei hörte sie sich so verzweifelt an, dass Joe fast selbst Hunger bekam.

Daher bekam sie nicht mit, wie Ann sich innerlich die Hände rieb, als sie sagte: „Natürlich! Joe wird mit Ihnen gehen.“

Die Angesprochene riss die Augen auf. Nein!, formte sie mit ihren Lippen, doch Ann ließ sich nicht erweichen. Anstatt Joe zu antworten sagte sie: „Sie kennt sich einfach am besten mit dem Kleid aus. Sie wird aufpassen, dass es nicht kaputt geht oder verschmutzt wird. Am besten legen wir Ihnen eine Decke um, damit auch wirklich nichts passieren kann.“

Bitte, tu mir das nicht an!, flehte die Jüngere in Gedanken. Das kann ich nicht. In der Kantine treffe ich bestimmt auf Richard oder Graham. Oder noch schlimmer: auf Dean! Den könnte ich jetzt wirklich überhaupt gar nicht gebrauchen.

Doch alles Zetern half nichts. In weniger als fünf Minuten hatten sie Cates Schuhe wieder getauscht, ihr eine Decke übergeworfen, und nun waren sie und Joe unterwegs zur Kantine am anderen Ende des Studiogeländes. Dabei musste die Designerin nun penibel darauf achten, dass der Stoff des Kleides auch ja nicht den Boden berührte. Dazu hielt sie ihn wie eine Schleppe nach hinten weg und hielt ihn so hoch sie es mit ihren kurzen Armen schaffte. Auf halbem Weg mussten sie allerdings eine Pause einlegen, weil Joe der Stoff langsam zu schwer wurde.

Nach dem dreifachen der normalen Zeit hatten sie es endlich geschafft. Vorsichtig drapierte Cate sich auf einen Stuhl, zog einen zweiten heran, auf den Joe den Rest des Kleides ablegen konnte, und orderte bei ihr etwas zu Essen. Die holte ihr das Essen gern, denn so liefen sie am wenigstens Gefahr, dass etwas schief lief.

Ganz in Schweiß gebadet kehrte sie nach wenigen Minuten mit gleich zwei Tablettes an den Tisch zurück, stellte sie erleichtert ab und wäre am liebsten sofort unter den Tisch abgetaucht. Sie schaffte es gerade noch so, nichts zu verschütten, denn gerade war Aidan durch die Tür gekommen, hatte einen prüfenden Blick in den Raum geworfen und sie natürlich entdeckt. Ihr blieb aber auch wirklich nichts erspart heute!

Resignierend nahm sie Platz und schaufelte sich gleich, unter den verwirrten Blickten Cates, zwei große Löffel des Chilis in den Mund. Bis Aidan an den Tisch gekommen war, konnte sie kaum noch sprechen. Doch er schenkte ihr auch zuerst gar keine Beachtung, sondern wandte sich an die andere Dame am Tisch. Galant wie immer nahm er ihre rechte Hand in seine, führte sie an seine Lippen und deutete einen Handkuss an. „Mrs. Blanchett, es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Aidan Turner. Ich spiele Kíli. Zu Ihren Diensten.“ Er verneigte sich noch einmal kurz.

„Mr. Turner“, erwiderte sie, „die Ehre ist ganz meinerseits, einen so zauberhaften jungen Mann wie Sie kennenzulernen. Sie werden mir hoffentlich verzeihen, wenn ich nicht aufstehe. Aber sollte dieses Kleid beschädigt werden, wird mich die junge Dame mir gegenüber vermutlich auf Lebenszeit hassen.“ Sie zwinkerte Joe kurz zu zum Zeichen, dass sie das nicht ernst meinte.

Das lenkte jedoch nun Aidans volle Aufmerksamkeit auf die junge Designerin. Ohne zu zögern zog er sich einen Stuhl heran, drehte ihn um und setzte sich rittlings darauf. Die Arme stützte er auf der Rückenlehne ab und sah Joe darüber hinweg prüfend an. Die vermied vehement Augenkontakt und war immer noch ziemlich damit beschäftigt zu testen, wie viel Chili man wohl auf einmal essen konnte.

Als er das eine Weile schweigend beobachtet hatte, fragte er: „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Dabei wirkte er eher belustigt als ernst. Und doch konnte Joe die leichte Besorgnis in seiner Stimme nicht ignorieren.

„Mh-hm“, machte sie nur und fuhr fort sich vollzustopfen. Eigentlich schmeckte das Essen gar nicht. Doch sie aß lieber diesen Fraß, als sich für Freitag erklären zu müssen. Denn so, wie Aidan guckte, hatten weder Richard noch Emily etwas erzählt. Und grade wusste sie nicht, ob sie dankbar dafür sein sollte oder wütend, weil das nur diese Situation hier provoziert hatte.

Der junge Ire seufzte tief. Er wusste nicht einmal, wieso er das Gespräch gesucht hatte, wenn er es recht bedachte. Eigentlich hätte ihm klar sein müssen, dass er aus ihr nichts herausbekommen würde. Doch seine durchweg positive Einstellung sorgte jedes Mal wieder dafür, dass er in so etwas hinein geriet. Dabei wollte er ihr doch nur helfen. Wenn sie sich aber so verschloss, konnte er gar nichts für sie tun. Daher richtete er sich wieder auf, schlug mit der flachen Hand kurz auf den Tisch, nickte Cate zu und verschwand wieder, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Erstaunt blickte Cate ihm hinterher. „Was war das?“ Langsam drehte sie sich zu Joe wieder um, darauf bedacht, ihre Perücke nicht durcheinander zu bringen. Man hatte ihr die langen Haare mit einem feinen Stück Stoff umbunden, damit es keine Knoten bekam. Doch es ziepte mit jeder Bewegung, sodass sie sich nur sehr bedacht bewegte. Als ihre blauen Augen jedoch die Grünen der Designerin fanden, wünschte sie fast, sie hätte nicht gefragt. Die junge Frau sah sie so beschämt an, dass sie es sogar fast gar nicht mehr komisch fand, dass sie die Backen voll hatte und aussah wie ein Waschbär.

Sofort fühlte sie sich verantwortlich für Joe. Besorgt legte sie ihr eine Hand auf den Arm. „Hey, Kleines, ist alles in Ordnung mit dir?“

Es dauerte ein bisschen, bis Joe den Rest des Chilis gekaut und heruntergeschluckt hatte, erst dann konnte sie traurig den Kopf schütteln und sagen: „Nein, seit ich hier arbeite, ist nichts mehr in Ordnung.“

Das hatte härter geklungen, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte. Sie liebte ihre Job hier. Das einzige, was sie daran störte, waren die Menschen, die ihr hier ständig über den Weg liefen, sie fragten, wie es ihr ging und sich in ihr Leben einmischten. Wäre Emily nicht gewesen, hätte sie sich das ganze Theater mit Mike ersparen können, dass Emily bei ihr eingezogen und sie am Freitag zu diesem blöden Barbecue geschleppt hatte. Und dann hätte sie auch Robert und Richard, Dean und Aidan, Graham und den ganzen Rest dieser bekloppten Zwerge nicht kennengelernt.

Andererseits mochte sie ja ein paar von ihnen ganz gerne. Graham immerhin hatte sich nicht an diesem lächerlichen Gespräch beteiligt, während Richard nicht nur ihre Privatsphäre zutiefst verletzt hatte, sondern auch ihr kleines Herz. Dabei hatte sie ihn irgendwie wie eine Vaterfigur betrachtet. Das hatte sie allerdings nun hinter sich. Immerhin war sie bisher auch ohne eine Familie ganz gut zurechtgekommen. Wieso sollte das nicht auch weiterhin so gut klappen?

Sie gab sich sofort selbst die Antwort, denn jetzt, da sie einmal ein Stück von Freundschaft und Familiensinn gekostet hatte, wollte sie diese Gefühle eigentlich nicht mehr missen. Aber musste das denn auch wieder mit Schmerz einhergehen? Musste das alles immer so furchtbar kompliziert sein?

Ohne dass sie es recht wollte, begann sie auf einmal, Cate ihr Herz auszuschütten. Sie wusste nicht, wieso sie der fremden Frau so sehr vertraute, doch schon, als sie das Atelier betreten und ihr sofort die Hand gegeben hatte, ohne jemand anderen zu beachten, hatte sie die Ältere in ihr Herz geschlossen. Es kam ihr beinahe so vor, als würde sie sie schon ihr Leben lang kennen, obwohl sie sich heute zum ersten Mal begegnet waren.

Natürlich hatte sie Galadriel stets bewundert in den Filmen. Sie hatte ihre grandiosen Auftritte geliebt und sich über jede Szene mit ihr damals gefreut. Vielleicht fühlte sie sich deswegen so sehr mit ihr verbunden.

Leider kam sie nicht mehr dazu, ihr alles zu erzählen, denn eine Assistentin von Carolynne Cunnigham, Petes persönlicher Assistentin, kam, um sie ans Set von Bruchtal zu holen. Hugo Weaving und Sir Ian McKellen warteten bereits auf sie.

Ohne mit der Wimper zu zucken trug Cate der Assistentin auf, ihre Tabletts zu entsorgen, was Joe mit einem verwunderten Blick quittierte, und drückte der Designerin wieder die Schleppe von Kleid und Mantel in die Hände. Dabei zwinkerte Cate ihr zu. „Ich brauche dich, um den Stoff zu halten. Außerdem hast du noch nicht zu Ende erzählt. Komm, wir müssen uns beeilen.“

Total aus den Socken gehauen folgte sie der Schauspielerin. Doch sie fand erst nach einer kurzen Weile die Sprache wieder. Und während sie erzählte, fiel ihr gar nicht auf, dass Emily an ihnen vorbeiging und hörte, wie Joe Cate alles erzählte.

Auch, dass Aidan und Dean am Eingang der Kantine zusammenstanden und redeten, als sie sie passierten, bekam sie nicht mit. Ihre Augen waren ganz und gar auf Galadriel gerichtet, der ihre volle Aufmerksamkeit galt. Der Figur und vor allem der traumhaften Bekleidung.

Aidan stieß Dean in die Seite, als die beiden blonden Frauen an ihnen vorbei waren. Sie würden heute mit der 2nd Unit und Andy eine Szene mit den Trollen drehen, da Pete in Bruchtal gebraucht wurde. Und weil beide für die Mittagspause weder abgeschminkt noch entkleidet werden mussten, hatten sie ein bisschen mehr Zeit als ihre Kollegen.

„Hast du das gehört, Deano?“, fragte Aidan und sah Joe hinterher. Irgendwie mochte er die Kleine, obwohl sie ein sicheres Gespür dafür hatte, wie sie Mitleid in den Menschen erregen konnte. Das mochte er eigentlich gar nicht. Doch bei ihr wusste er, dass es nicht gespielt war. So viel hatte er von ihr schon mitbekommen.

Dean knibbelte gelangweilt an seinen künstlichen Fingern herum. „Was denn?“, sagte er nur und sah nicht einmal auf.

So wie auch Aidan war ihm aufgefallen, dass Joe es mit ihren tellergroßen Rehaugen irgendwie immer schaffte, dass sich alle Leute für sie interessierten. Und das, obwohl sie gar nicht gern im Mittelpunkt stand. Doch die Leute hier am Set waren nicht gewillt, jemanden in seinem Schneckenhaus zu lassen, weil sie alle sehr aufgeschlossen und freundlich waren. Er hatte noch nie ein ganzes Studio voller Wohltäter erlebt und langsam kotzte ihn das wirklich an.

Gut, sie hatte ein großes Talent für tolle Kostüme. Die Art, wie sie Galadriel mit dieser Robe in Szene gesetzt hatte, war schon ziemlich außergewöhnlich. Das musste sogar er als eingefleischter Zwerg zugeben. Aber war das wirklich ein Grund, sie immer und überall zu behandeln wie ein rohes Ei? Musste sie nicht eigentlich auch mal selber die Zähne zusammenbeißen und sich durchsetzen? Wieso breitete man vor ihr immer den roten Teppich aus und sah es ihr nach, dass sie diese und jene Schwäche hatte?

Machte ihn das Ganze vielleicht so fuchsig, weil er es selbst nicht so leicht hatte? Weil man ihm gesagt hatte: Friss oder stirb!? 

Er wusste es nicht. Und eigentlich wollte er darüber auch gar nicht nachdenken. Bestimmt war sie nicht so, wie sie war, weil sie es immer leicht hatte. Aber er war ganz und gar dagegen, dass man es ihr jetzt, wo sie eine erwachsene Frau war, immer noch so leicht machte. Am liebsten hätte er sie gepackt und so lange geschüttet, bis sie Vernunft annahm.

Aidan holte ihn aus seinen trüben Gedanken heraus, als er sagte: „Ich hab nicht alles verstanden, aber am Freitag muss wohl ziemlicher Mist passiert sein. Sie hat ein Gespräch mit angehört, was ihr gar nicht gefallen hat. Dein Name ist dabei gefallen.“ Lauernd sah er seinen Filmbruder an, doch der zuckte nur mit den Schultern. „Und?“

„Willst du dazu nichts sagen? Ich finde, du könntest mir ruhig erzählen, was da los war. Immerhin ist sie aus meinem Haus abgehauen. Sie war mein Gast.“

Dean klopfte Aidan spielerisch auf die Schulter. „Mach dir doch nicht gleich ins Hemd wegen ihr. Sie ist nur ein verschrecktes Kind, was im Körper einer erwachsenen Frau steckt. Wenn sie nicht ihre kleine Begabung hätte, würde sie hier garantiert untergehen. Pete nimmt sie doch nur so sehr in Schutz, weil Richard Taylor nicht ohne sie arbeiten könnte.“

Der Dunkelhaarige zog eine Augenbraue nach oben. „Ach“, meinte er, „und deswegen ist es in Ordnung, sie zu beleidigen?“

„Ich hab sie nicht beleidigt!“ Er hob die Hände abwehrend vor sich in die Luft. „Ich hab an dem Abend nicht einmal mit ihr gesprochen. Ich weiß gar nicht, was das soll. Wenn sie direkt rumheult, wenn man ihr die Wahrheit sagt, dann sollte sie vielleicht mal aus ihrer Traumwelt aufwachen.“ Und nach einer ziemlich langen Pause, in der keiner der beiden etwas sagte, fügte er noch hinzu: „Lass uns lieber zurück ans Set gehen, sonst wird Andy noch sauer, dass wir zu spät sind. Und du weißt ja, dass sich Mark und Jed dann sicher wieder irgendwelche dummen Sprüche einfallen lassen werden.“

Und weil Aidan wenig Lust hatte, mit Dean weiter über das Thema „Joe“ zu sprechen, folgte er ihm. Doch er schwor sich, dass er nach Drehschluss zu Richard gehen und rauskriegen würde, was da am Freitag passiert war.

© by LilórienSilme 2015

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