LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
~ Reifende Idee
Am Abend des zweiten Tages, als Carim aus Valmar zurückkehrte, sah er die vertraute Umgebung seines Dorfes wieder. Sofort zog sich seine Brust zusammen und am liebsten wäre er augenblicklich umgekehrt. Doch der Gedanke an Sahîrim, wie er mit meiner Tochter vor unserem Haus gesessen und gelacht hatte, schmerzte zu sehr. Es schmerzte ihn mehr, als zu seinem Vater zurückkehren zu müssen.
Carim wartete, bis es dunkel wurde, dann führte er sein Pferd ins Dorf hinein. Die Hufe machten seltsam gedämpfte Geräusche, die von den Wänden der Häuser widerhallten. Er dachte, dass er damit wohlmöglich sofort jeden aus dem Schlaf gerissen hätte, doch genauso wie am Abend seiner Flucht hörte ihn niemand.
Erst, als er endlich die Stalltür hinter sich geschlossen hatte, atmete er auf. Er brachte das Pferd in seine Box, rieb es gründlich trocken und verstaute das Sattelzeugs wieder an seinem ursprünglichen Ort. Die ganze Zeit über verbot er sich selbst, an seinen Bruder zu denken. Doch immer wieder tauchte das Bild eines lachenden Sahîrims vor seinem inneren Auge auf und ließ ihn zusammenzucken. Wieso nur hatte er ihn so schnell vergessen können? So viele Jahre hatten sie gemeinsam unter dem Vater gelitten und nun war das alles nichts mehr wert.
Eine Träne stahl sich aus seinen Augen, doch er wischte sie entschlossen weg. Er würde keine Schwäche zeigen. Nicht jetzt, wo sein Bruder weg war und er sich dem Vater endlich würde beweisen können.
Als er die Türe seines Hauses leise öffnete und hineintrat, war drinnen nur das schwache Glimmen des Feuers zu sehen. Es tauchte alles in eine unwirkliche Dunkelheit, die jedoch noch genug Licht zuließ, dass man die Umrisse der Möbel erkennen konnte. Es war noch alles so, wie er es verlassen hatte. Nichts deutete darauf hin, dass er vier Tage fort gewesen war.
„Wo bist du gewesen?“ Die Stimme seines Vaters tauchte aus dem Nichts auf. Sie klang scharf, wie die frisch geschliffene Klinge eines Messers. Delos trat aus dem Schatten der Treppe heraus und ging auf seinen Jüngsten zu. Er hatte darauf gehofft, dass seine beiden Söhne klug genug wären, von alleine nach Hause zurückzukehren. Doch offensichtlich hatte sich sein Jüngster als der Intelligentere erwiesen.
Er musste zugeben, dass ihn das überraschte. So, wie er Carim immer behandelt hatte, hatte er geglaubt, dass er der Erste sein würde, der Reißaus nahm. Doch scheinbar hatte er Sahîrim über- und Carim unterschätzt. Würde Carim vermutlich derjenige sein, der seine Rache vollenden würde?
Der junge Elb knickte unter dem Blick seines Vaters ein. Die kalten Augen bohrten sich in seine strahlend blauen und seine Knie gaben nach. Verzweifelt versuchte er, seine Haltung zu bewahren, doch es gelang ihm nicht. Die Tränen, die er auf dem Ritt so mühsam zurückgehalten hatte, strömten jetzt aus ihm heraus, und er wäre vor Scham am liebsten vom Erdboden verschluckt worden.
„Vater“, schniefte er. „Es tut mir so leid, Vater! Sahîrim hat sich in der Nacht davongeschlichen und ich bin ihm gefolgt, weil ich hoffte, ihn wieder zurückholen zu können. Doch als ich ihn fand, war es bereits zu spät. Die Carahrim haben ihn...“
Delos hielt inne. War er vor einem Augenblick noch so erbost über diesen Gefühlsausbruch gewesen, dass er seinen Sohn an Ort und Stelle hätte wund prügeln wollen, verflog seine Wut mit dem nächsten Atemzug. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte er und in seiner Stimme schwang die Warnung mit, ihm kein einziges Wort zu verschweigen.
Carim begriff. Mit dieser kleinen Lüge hatte er ein Kartenhaus aufgebaut, was, wenn es einstürzte, ihn unweigerlich begraben und vermutlich auch zum Tode verurteilen würde. Er hatte nun die Wahl: er konnte seinem Vater die Wahrheit sagen, dass Sahîrim freiwillig in Valmar geblieben und dort scheinbar glücklich war; oder er konnte die Wahrheit ein wenig ausdehnen und sie zu seinem Vorteil zu nutzen.
Entschlossen erhob er sich, seine Beine zitterten zwar noch etwas, doch er ignorierte es. „Sie müssen ihn verzaubert haben, Vater. Ich sah ihn, wie er mit einer jungen Elbe zusammensaß und sein Blick wirkte entrückt, als habe man ihm einen Schleier auf die Augen gelegt. Er bewegte sich unter ihnen, als würde er bereits zu ihnen gehören. Ich wagte nicht, mich ihm zu nähern, aus Angst, er könne mich wohlmöglich töten.“
Delos stutzte. „Wieso hätte er so etwas tun sollen?“, fragte er und zog seine Augenbrauen so weit zusammen, dass sie einen einzigen Strich bildeten. Falten zeichneten sich auf seiner sonst makellosen Stirn ab. Schon lange hatte er nicht mehr solch eine Regung in seinem Gesicht zugelassen. Er hatte eine Maske getragen, geschmiedet von seinem Hass auf die Götter und ihren Günstling.
Sein Sohn schluckte. Einerseits wollte er es nicht wagen, noch mehr von der Wahrheit abzuweichen. Er hoffte, Worte nutzen zu können, die ihn nicht zum Lügen zwingen würden. Doch andererseits war er so unsagbar wütend auf seinen älteren Bruder, dass sein Ärger seine Zunge wie von selbst zu lockern schien. „Ich habe keine Ahnung, wie mächtig der Zauber der Carahrim ist. Vielleicht ist er ja so mächtig, dass er ihn seine Familie vergessen lässt.“
„Vielleicht spielt er aber auch nur seine Rolle“, sagte Delos mehr zu sich selbst, als zu seinem Sohn. Diese Möglichkeit bestand ebenfalls. Vielleicht hatte Sahîrim ihn gar nicht verraten, sondern handelte nur nach seinem Willen. So viele Jahre hatte er ihn auf diesen einen Kampf vorbereitet, hatte seinen Körper und seinen Geist bis zur Erschöpfung gebracht, nur damit er bestehen und Milui rächen würde. Er konnte sich kaum vorstellen, dass es etwas gab, dass ihn die Pflicht seiner Familien gegenüber so leicht vergessen ließ.
„Was wollen wir nun tun, Vater?“, fragte Carim und blickte besorgt auf. Delos war so schweigsam, dass es ihm Angst machte. Es wäre ihm fast lieber gewesen, sein Vater würde ihn anschreien oder seiner Wut auf andere Weise Luft machen. Doch er blieb ruhig, wandte sich von seinem Sohn ab und trat ans Feuer. Die Glut beleuchtete sein Gesicht auf unheimliche Weise von unten, sodass es aussah, als würden die Höhlen seiner Augen völlig leer sein. Nur ein leichtes Glitzern war in der Schwärze zu erkennen.
Seine Finger fuhren über das Holzsims des Kamins. Es war von Sahîrim glatt geschmirgelt und bemalt worden. Und er war einmal sehr stolz auf die Arbeit seines Sohnes gewesen. Jetzt fühlte es sich nur noch rau und leblos unter seinen Fingern an, als hätte es seinen Wert mit einem Schlag verloren. Und da wusste er, was er zu tun hatte, doch er zögerte noch. War es wirklich an der Zeit dafür?
Delos drehte sich wieder um. Sein Gesicht lag nun im Schatten. „Du wirst noch einmal nach Valmar reiten, mein Sohn“, sagte er so leise, dass Carim ihn beinahe nicht verstehen konnte. Doch selbst wenn er laut und deutlich gesprochen hätte, hätte er an den Worten gezweifelt. Er wollte schon fragen, wieso, da sprach sein Vater weiter. „Du wirst eine Botschaft für mich überbringen, die sehr wichtig ist. Denn vielleicht ist das alles nur ein großer Irrtum und es lässt sich leicht aufklären. So müssen wir uns nicht in größere Gefahr begeben, als notwendig.“
„Vater, ich verstehe das nicht“, sagte Carim und sah Delos unsicher an. „Das musst du auch nicht, mein Sohn“, antwortete dieser mit ungewöhnlich sanfter Stimme. So liebevoll wie seit Jahren nicht mehr nahm Delos seinen Sohn bei den Schultern und sah ihm in die blauen Augen, die ihn so sehr an seine geliebte Frau erinnerten. Jedes Mal, wenn er hinein sah, versetzte es ihm einen Stich und er wurde schmerzlich daran erinnert, was er verloren hatte. Doch bald würde das alles nicht mehr zählen.
Als Carim endlich vor Erschöpfung eingeschlafen war, erhob sich Delos vom Lager seines Sohnes. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er ihn oder Sahîrim das letzte Mal zu Bett gebracht, einen von ihnen zugedeckt und bei ihnen gewacht hatte, bis sie ins Land der Träume hinübergegangen waren. Vermutlich hatte er es nie getan. Doch es war auch nicht wichtig.
Diese zunächst unglücklich erscheinende Fügung hatte ihm etwas in die Hand gegeben. Er hatte immer gespürt, dass Sahîrim ihm nicht vollständig gehorchte. Etwas in ihm hatte ständig dagegen gehalten, wenn er ihm Befehle erteilt hatte. Doch sein ungewöhnlich wacher Verstand hatte ihn stets davor bewahrt, seinem Vater zu missfallen und damit dessen Zorn auf sich zu ziehen.
Bei Carim war es nun anders. Sein Jüngster war zutiefst enttäuscht worden von demjenigen, den er bisher für seinen engsten Vertrauten gehalten hatte. Tiefer konnte der Stachel des Verrates nicht sitzen. Und es gab nur eine Heilung dafür.
Wie von selbst fanden Delos‘ Hände in der Dunkelheit ein Stück Pergament, eine Feder und sein Tintenfass. Er trug seine Schreibutensilien an den Tisch, dann schürte er das Feuer, sodass er sehen konnte, was er schreiben musste.
Die Worte, die er nun verfasste, mussten wohl bedacht sein. Sollten sie in die falschen Hände geraten, könnte dies den Kampf zu früh auslösen. Er würde noch nicht bereit sein dafür. Erst musste etwas geschehen, was dafür sorgte, dass sein Gegner geschwächt war. Dann erst würde er einen Angriff wagen.
Als er fertig war, faltete er das Pergament sorgsam zusammen. Er ließ auf das eine Ende ein bisschen Kerzenwachs tropfen, dann drückte er seinen Ring in die noch feuchte Versiegelung. Er verstaute das kostbare Gut in einer kleinen Tasche, die er mit Proviant für etwa eine Woche füllte. Sollte etwas schief gehen oder die Überbringung länger dauern, als gedacht, musste sein Sohn gut versorgt sein. Falls er erwischt wurde, sollte schließlich nichts auf ihn selbst zurückfallen. Auch das wäre für die Ausführung seines Plans fatal.
Am Morgen, als die Sonne endlich über dem Horizont aufging und Carim in die Stube hinunterkam, saß Delos noch immer am Tisch. Die Kerzen waren beinahe vollständig heruntergebrannt und nur sein unruhiges Trippeln der Finger auf dem Holz zeugten davon, dass er in dieser Nacht nicht ein Auge zugetan hatte.
Dieser Vergleich hinkte natürlich ein wenig, da Elben zum Schlafen ohnehin nicht die Augen schlossen, sondern sich auf den Rücken legten und ihren Blick in den Himmel richteten. Früher hatten sie meist im Freien geschlafen, um die Sterne auch noch im Traum sehen zu können. Doch mit der Zeit hatten sie auch über ihre Betten ein Dach gebaut, um gegen das Wetter geschützt zu sein. Mit offenen Augen schliefen sie jedoch immer noch.
Carim fühlte sich erschlagen. Der viertägige Ritt auf dem Rücken eines Pferdes war ihm nicht gut bekommen. Es kam ihm vor, als hätte er überhaupt nicht geschlafen. Noch müde setzte er sich neben seinen Vater und sah ihn an. „Vater, hast du denn überhaupt nicht schlafen können? Ist dir das Herz so schwer?“
Erst antwortete Delos nicht. Er konnte sich nur mit Mühe beherrschen, seine Vorfreude zu verbergen. In den Stunden der Nacht hatte er genug Gelegenheit gehabt, über seine jetzige Lage nachzudenken. Und er war zu dem Schluss gekommen, dass es nicht besser für ihn hätte laufen können. Hatte er gestern noch seine Frau dafür gehasst, ihm zwei Söhne geschenkt zu haben, dankte er ihr nun im Stillen dafür.
„Der Schlaf wollte mich in dieser Nacht nicht finden“, sagte er stattdessen und fuhr sich einmal mit der Hand durch sein Gesicht. „Zu viel ist mir durch den Kopf gegangen.“ Er erhob sich und ging zu der gepackten Tasche hinüber. „Und ich habe eine Tasche mit Proviant für dich bereitet. Du wirst noch nach dem Frühstück aufbrechen und die Botschaft überbringen.“
„Aber Vater!“ Carim fuhr von seinem Stuhl hoch. Entsetzt sah er Delos an. Er würde nicht noch einen so langen Ritt überstehen, das wusste er. Und er sagte es seinem Vater auch. Doch dieser winkte unwirsch ab. „Ich habe keine Zeit, mich mit deinen unwichtigen Beschwerden auseinander zu setzen“, sagte er, besann sich jedoch gleich wieder. Wenn er Carim jetzt verärgern würde, könnte das sein Vorhaben gefährden.
Er setzte ein sanftes Lächeln auf. „Hör mir genau zu, mein Sohn. Diese Botschaft ist äußerst wichtig für uns. Wenn sie nicht schnellstmöglich überbracht wird, könnte das großes Unglück für uns bedeuten. Ich bitte dich daher, noch heute reiten. Du wirst sehen, es ist die Mühe wert.“
Als Carim seinen Blick senkte und auf seine Füße starrte, wusste Delos, dass er gesiegt hatte. Ohne ein weiteres Wort bereitete er seinem Sohn ein großzügiges Frühstück zu, ließ ihm jedoch kaum Zeit, es zu verspeisen. Noch bevor er den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte, überreichte Delos ihm die Tasche und schob ihn nach draußen. Als Carim das Pferd seines Bruders gesattelt hatte, hing er sich die Tasche um den Hals und ritt zum Eingang ihres Hauses zurück.
„Mach mich stolz, mein Sohn“, sagte Delos und klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken.
„Wie soll ich die Frau erkennen, der ich die Botschaft überbringen soll?“ Unsicherheit schwang in seiner Stimme mit und am liebsten wäre er wieder vom Pferd gestiegen und hätte sich in seinem Zimmer unter seiner Decke versteckt. Doch sein Vater zählte nun auf ihn und er wollte ihn nicht enttäuschen. Nicht so, wie Sahîrim sie beide enttäuscht hatte.
Delos sah den inneren Kampf in seines Sohnes Augen. Doch er ignorierte es. „Sie hat das dunkelste Haar, welches du jemals gesehen hast, und ist von hoher Statur. Vermutlich überragt sie die meisten Elben um einen halben Kopf. Du solltest sich also leicht ausfindig machen.“
Und noch bevor Carim protestieren oder Zweifel äußern konnte, schlug Delos dem Pferd auf das Hinterteil. Es machte einen Satz nach vorne und sprengte los. Nach nur wenigen Augenblicken war sein Sohn nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne. Zufrieden lächelnd wandte Delos sich seinem Haus zu und ging hinein. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich sein sehnlichster Wunsch endlich erfüllen würde.