LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 2
~ We can work it out
Try to see it my way
Only time will tell if I am right or I am wrong
While you see it your way
In den nächsten Wochen und Monaten verging die Arbeit wie im Flug. Joe nahm nun nicht mehr an den morgendlichen Besprechungen teil, weil sie dazu ohnehin nichts beizutragen hatte. Stattdessen gab sie Richard jeden Abend ihre aktuellen Entwürfe mit, schrieb ihm kurz auf einem Zettel auf, was sie sich dazu dachte, und legte es in sein Büro. Er konnte es dann am nächsten Morgen Peter vortragen. So konnte sie den Regisseur und ihren direkten Vorgesetzten zwar auf dem Laufenden halten, musste sich aber nicht dieser unangenehmen Situation aussetzen, in der sie etwas hätte sagen müssen.
Dafür kam sie jedoch mit ihrer Arbeit sehr gut voran. Bald hatte sie die Kostüme für die Elben fertig entworfen und konnte sich daran machen, erste Muster zusammen zu schneidern. Natürlich hatte sie noch keine konkreten Maße nehmen können, weil noch keiner der Darsteller wirklich gecastet, geschweige denn eingetroffen war, doch sie konnte zumindest die Kleider locker zusammen stecken, ohne sie nähen zu müssen.
Zufrieden betrachtete sie einen Mantel, den sie für Thranduil gemacht hatte, und zupfte den Stoff an den Schultern der Puppe, auf der der Mantel hin, zurecht. Der silbergrünen Stoff wirkte jedoch viel zu schwer für einen Elben. Dazu musste sie sich etwas anderes einfallen lassen.
Noch ganz in Gedanken versunken hörte sie gar nicht, wie Beverley, eine ihrer Kolleginnen und eine der besten Schneiderinnen hier, hinter sie trat und begutachtete, was sie da gerade gemacht hatte. Die ältere Frau hatte bereits bei zwei von den Narnia-Filmen mitgewirkt und verstand sich hervorragend auf fantastische Kostüme. Allerdings war sie keine Designerin. Doch sie hatte ein gutes Auge. Außerdem mochte sie die stille, blonde junge Frau, die Peter direkt vom College geholt hatte, und fand die meisten ihrer Entwürfe auch wirklich gut. „Vielleicht“, setzte sie leise an, weil sie Joe nicht erschrecken wollte, „solltest du es mehr wie ein Teil des Waldes wirken lassen.“
Joe zuckte trotzdem kurz zusammen, als sie die Stimme hinter sich hörte. Sie war so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass sie nichts um sich herum wahrgenommen hatte. Das passierte ihr öfter. Wenn sie etwas wirklich mochte, dann war es ihre Arbeit. Darin konnte sie vollkommen aufgehen und versinken, wie in einer anderen Welt.
Die junge Frau drehte sich um und sah Beverley direkt an. Das war nicht etwas, was sie sehr häufig tat. Grundsätzlich vermied sie eigentlich lieber den Augenkontakt mit anderen Menschen, weil sie sich dadurch viel zu sehr unter Beobachtung fühlte. Doch Beverley hatte etwas gesagt, was sie auf eine Idee gebracht hatte. Sie lächelte.
„Wow“, sagte Beverley, als sie sah, wie Joe den Mund zu einem ihren seltenen Grinsen verzog. „Scheinbar hab ich dich auf eine Idee gebracht.“ Joe nickte. „Na gut, dann lasse ich dich wieder in Ruhe arbeiten.“
Eigentlich hatte Beverley sie fragen wollen, ob sie mit ihr zusammen zum Mittagessen in die Kantine ging, doch wenn die Blonde so sehr in ihrer working zone war, verspürte sie wohl nur selten Hunger. Außerdem hatte Joe sich noch nie mit in die Kantine begeben. Sie hatte immer eine Sammlung von Tupperschüsseln dabei, die mit allerhand leckeren Sachen gefüllt waren, die sie über den Tag verteilt hier in ihrem Atelier verspeiste. Und doch konnte Beverley sich nicht dazu durchringen, sie völlig in Ruhe zu lassen. Deswegen war sie vermutlich auch die einzige, zusammen mit Emily, die die junge Frau ab und zu besuchten.
Am liebsten hätte Joe sich bei ihrer älteren Kollegin bedankt, doch sie konnte ihr nur dankbar zunicken. Auch wenn sie schon ein bisschen Vertrauen zu ihr gefasst hatte, war sie immer noch eine Fremde für sie. Allerdings hoffte sie, dass sie irgendwann mal ihre Schüchternheit würde überwinden können. Denn manchmal kam ihr ihr Körper wie ein kleines Gefängnis vor, das sie einfach nicht verlassen konnte, obwohl sie ihre Strafe schon längst abgesessen hatte.
Später, als Joe die Puppe wieder von dem Stoff befreit und ihn vor sich auf dem großen Tisch ausgebreitet hatte, bereute sie, dass sie nichts gesagt hatte. So gerne würde sie den Menschen manchmal sagen, was sie dachte, über die Menschen selbst, über sich, über ihre Arbeit. Doch immer wieder passierte es, dass sich die Sätze, die sie sich noch Sekunden zuvor in ihrem Kopf zurecht gelegt hatte, einfach weggewischt wurden und nur ein dämlicher Laut aus ihrem Mund kam, der nicht gerade dafür sorgte, dass man sie für besonders intelligent hielt. Früher in der Schule hatten die Lehrer sie sogar für zurückgeblieben gehalten und ihrer Mutter geraten, sie in eine Sonderschule zu stecken. Doch Maria Taylor hatte an ihre Tochter geglaubt. Sie hatte immer gewusst, das Joe nicht dumm oder arrogant, sondern einfach nur schüchtern war.
Später, als sie älter wurde, war ihr Problem besser geworden. Doch das lag leider nicht daran, dass sie endlich vernünftig hätte sprechen können. Es lag wohl eher daran, dass nun auch ihre schriftlichen Noten in der Schule bewertet wurden. Das hatte ihre Lehrer schließlich doch davon überzeugt, dass sie kein Fall für die Geschlossene war. Und so hatte sie sogar eines der begehrten Stipendien erhalten, die von der Auckland University vergeben worden waren.
Das hatte leider nicht dazu beigetragen, ihre Beliebtheit zu steigern. Im Gegenteil, man war ihr sogar noch mehr aus dem Weg gegangen als vorher. Nur ihre beste Freundin Denver war immer an ihrer Seite gewesen, bis auch sie erwachsen wurde und ihrem Traum nachging.
Joe war schließlich alleine zurück geblieben, in dem Haus, das ihre Mutter ihr vererbt hatte und was sie endlich hatte beziehen dürfen, nachdem sie volljährig geworden war. Doch die Erinnerungen hatten sie schnell eingeholt und bald hatte sie begriffen, dass sie nicht in Auckland bleiben wollte. Sobald ihr Studium beendet gewesen war, hatte sie die Stadt an der Spitze der Nordinsel verlassen und war in die Hauptstadt Wellington gezogen. Dort hatte sie dann auch den Job angeboten bekommen und es erschien ihr nun wie ein Zeichen, dass sie genau in die Stadt gekommen war, in der sie dann später Arbeit gefunden hatte.
Nur ihre beiden Kater hatten es ihr noch übel genommen, dass sie ihr altes Zuhause hatten aufgeben müssen. Doch zumindest der kleine Rooney hatte sich schnell an das neue Häuschen mit dem kleinen Garten und der grünen Umgebung gewöhnt. Der etwas ältere Kaiser war noch zwei Monate lang schlecht auf sie zu sprechen gewesen, hatte absichtlich direkt neben das Katzenklo gemacht und mit seinen Brekkies Fußball in der Küche gespielt. Daraufhin hatte sie ihn zwei Tage lang im Keller eingesperrt, bis er reumütig an der Türe gekratzt und nach Liebe gebettelt hatte. Danach war alles wieder gut gewesen.
Die Erfahrung mit ihren Katzen hatte sie auch auf die Idee gebracht, den Elbenkönig so elegant darzustellen. Aus den Büchern wusste sie, dass Thranduil ziemlich arrogant wirkte, so wie Katzen eben auch. Zumindest war ihr der Vater von Legolas immer so vorgekommen. Deswegen stellte sie sich ihn als einen groß gewachsenen Mann vor, der seine Schultern immer grade hielt, den Rücken durchstreckte und das Kinn ein wenig nach oben reckte.
Das wiederum hatte sie dazu verleitet, seinem Kostüm einen hochgestellten Kragen zu verpassen, sodass er sein Kinn gar nicht absetzten konnte, selbst wenn er es wollte. Außerdem hatte sie leichte Schulterpolster eingearbeitet, die seine kerzengerade Haltung noch ein bisschen mehr betonen sollten.
Doch als sie den Stoff nun betrachtete, war ihr klar, dass noch etwas fehlte. Sie legte ihre Stirn nachdenklich in Falten und kletterte auf den kleinen Hocker, den man ihr zur Verfügung gestellt hatte. Normalerweise war der nicht nötig, um sein Werk von oben zu betrachten, doch Joe war gerade mal knapp über einsfünfzig groß und konnte noch nicht einmal die Mitte des Tisches sehen, wenn sie sich nicht auf die Zehenspitzen stellte.
Vorsichtig strichen ihre Finger über den gemusterten Stoff. Sie hatte lange danach gesucht, und als sie ihn endlich gefunden hatte, hatte sie gewusst, dass sie ihn für das Kostüm für Thranduil verwenden würde. Richard war ebenfalls begeistert gewesen. Hoffentlich würde er es auch noch sein, wenn sie den Stoff nun in dünne Bahnen schnitt.
Mit der Schere trennte sie ganz langsam die Nähte wieder auf, die sie die letzten zwei Wochen gesetzt hatte, und ärgerte sich ein bisschen über sich selbst, dass sie das nun tun musste. Doch zum Glück zerstörte sie ja nur ihre eigene Arbeit und nicht auch noch die von anderen.
Das war auch ein Vorteil ihrer Schüchternheit: niemand wollte gerne mit ihr zusammen arbeiten, weil sie den meisten Menschen das Gefühl gab, man musste ihre Gedanken lesen können. Das stimmte auch zum Teil, aber auch nur, weil sie unfähig war, anderen Menschen ihre Gedanken laut mitzuteilen. Manche der Mitarbeiter bei Weta hatten Richard sogar schon gefragt, ob sie stumm war, weil sie einfach nie mitbekommen hatten, dass sie redete.
Als sie mit dem Auseinanderschneiden fertig war, legte sie die Teile wieder sorgfältig nebeneinander. Nun kam ihr zugute, dass sie mehr Stoff verwenden hatte, als sie eigentlich benötigte. Denn jetzt war es ihr möglich, die verschiedenen Stoffbahnen so zusammen zu nähen, dass eine dicke, gut sichtbare Naht entstand, die später für das Muster sorgen würde.
Sie arbeitete sorgfältig und lange. Erst, als Richard zu ihr nach unten kam und demonstrativ auf die Uhr schaute, registrierte sie, wie spät es war. Sie hatte ihm noch nicht ihre Notizen für die morgige Besprechung auf den Schreibtisch gelegt!
Nervös hätte sie beinahe ihre Arbeit, die sie in den Händen hielt und begutachtet hatte, fallen gelassen. Doch sie fasste sich gerade noch rechtzeitig. „Ähm, hallo“, stammelte sie. Dabei legte sie die Stoffreste vorsichtig ab.
„Es ist schon nach acht“, sagte Richard. Dabei sah er sie an, wie ein Vater vermutlich seine kleine Tochter ansehen würde, wenn er sie mit der Taschenlampe unter der Bettdecke noch spät beim Lesen erwischt hatte. „Du solltest nach Hause gehen. Morgen kommen die ersten Darsteller an und wir müssen die endgültigen Maße nehmen.“
Oh Gott!, schoss es ihr durch den Kopf. Das hab ich ja total vergessen! „Äh, kann - kann das denn nicht...“, begann sie, konnte aber den Satz nicht zu Ende sprechen. Eigentlich hatte sie fragen wollen, ob das nicht jemand anderes für sie übernehmen konnte, doch sie wusste genau, dass Richard Nein sagen würde. Nicht, weil er sie quälen wollte, sondern weil er wusste, dass sie eine Perfektionistin war. Nur, wenn sie die Maße selbst nahm, konnte sie am Ende auch wirklich sicher sein, dass sie richtig waren. Und wenn sie doch falsch waren, war es wenigstens ihre eigene Schuld und sie musste keine Konfrontation mit jemand anderem suchen, der das für sie gemacht hatte.
Ihr Chef kam die drei Stufen zu ihr herunter, die ihren Arbeitsbereich vom Flur trennten, und blieb vor ihr stehen. Er überragte sie gleich um mehrere Köpfe. „Ich weiß, dass dir das Umbehagen bereitet“, sagte er und legte ihr seine großen, gut gepflegten Hände auf die schmalen Schultern. „Aber wenn du dich dadurch besser fühlst, können wir den Schauspielern ja sagen, dass du wirklich stumm bist.“
Damit entlockte er ihr ein Lächeln. „Na, siehst du! Es geht doch.“ Er rieb ihr spielerisch mit der Faust über ihr Kinn, dann warf er einen Blick über ihre Schultern. „Ist das Thranduils Mantel?“
Joe nickte unsicher. Würde er es mögen oder würde er ihr sagen, dass sie den teuren Stoff ruiniert hatte? Bang geworden trat sie von einem Fuß auf den anderen und wartete auf seine Reaktion. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob es ihm gefiel, doch sie traute sich nicht.
Richard strich mit den Fingern über die dicken Nähte, dann hob er vorsichtig das Teilstück hoch und hielt es gegen das Licht. Die Nähte waren perfekt, kein Licht fiel hindurch. Anerkennend nickte er. „Es sieht aus, wie ein Blatt“, sagte er schließlich. Und als er es selber aussprach, wurde ihm die Idee dahinter deutlich. „Ja, das ist gut! So unterstreichst du die Verbundenheit mit der Natur noch deutlicher.“
„Thran-“, sie biss sich auf die Zunge, „Thranduil bedeutet lebhafter Frühling.“ Ihre Worte warten so leise, dass er sich zu ihr herunterbeugen musste. „Das hab ich von einem der Sprachwissenschaftler gehört.“ Dabei errötete sie wieder schrecklich, was nur noch mehr dazu führte, dass sie sich schämte. Doch zum Glück waren sie hier unten alleine.
„Hast du schon einen Entwurf für seine Krone?“ Ihm gefiel die Idee, den Mantel wie ein Blatt geädert zu sehen. Das war einer der Gründe, warum er Joes Entwürfe so sehr mochte. Und vielleicht hatte sie ja sogar schon einen Plan, wie das Gesamtkonzept wirken sollte.
Zielsicher zog sie eine Zeichnung von John Howe aus einer Klarsichthülle heraus. Es waren nur ein paar einzelne Bleistiftstriche, doch Richard erkannte sofort, was damit gemeint war. Er sah einen stilisierten Kopf, dem nicht weiter Beachtung geschenkt worden war. Nur die Augen waren noch herausgearbeitet worden. Seine Stirn legte sich in Falten, die allerdings nicht tief waren, als er die Krone betrachtete.
Nun war es an Joe, eine Erklärung abzugeben. Sie hatte sich diese Zeichnung von John ausgeborgt, als er sie für das Storyboard hergegeben hatte. Peter hatte nichts dagegen gehabt, doch sie hatte versprechen müssen, sie vorsichtig zu behandeln und nachher wieder zurückzugeben.
„John wollte ihm ein Geweih geben“, kicherte sie, als sie auf die Stelle zeigte, an der es deutlich zu sehen war. Irgendwie erinnerte sie dieser König an eine Figur aus del Toros Hellboy - Die goldene Armee. „Aber ich finde nicht, dass das zu den Waldelben passt. Immerhin tragen sie Schmuck und Schwerter. Sie sind keine Elfen oder Feen, sondern stolze Geschöpfe, die mit der Natur verbunden sind. Aber sie sind nicht Teil von ihr, wie bei Eragon. Weißt du, was ich meine?“
Richard nickte nur stumm. Er wollte ihren ungewöhnlichen Redefluss nicht unterbrechen oder gar zum Versiegen bringen, indem er etwas Falsches sagte. Hätte er sich nicht so gut im Griff gehabt, hätte er sie vermutlich völlig entgeistert angestarrt, weil er bisher selten erlebt hatte, dass sie mehr als fünf Wörter aneinanderreihen konnte.
„Deswegen habe ich die Idee mit dem Geweih ein bisschen abgewandelt.“ Dabei holte sie eine weitere Zeichnung hervor, dieses Mal jedoch eine von ihren. Darauf hatte sie Thranduil nicht nur bereits den Blatt-Mantel verpasst, sondern auch eine Krone angedeutet. „Im Buch trägt er eine Krone aus Blättern. Aber es ist Herbst, als die Zwerge auf ihn treffen. Also sind die Äste in seiner Krone leer, nur ein paar rötliche Blätter hängen noch daran.“
„Und diese seitliche Befestigung?“
Joe errötete noch ein bisschen mehr. „Na ja“, sagte sie, „das erschien mir praktischer für seine Frisur zu sein. Ich hab mich dabei ein bisschen an Legolas aus den anderen Filmen orientiert und mir überlegt, dass auf so einer glatten Haarpracht einfach keine Krone halten würde. Und eine andere, die einfach nur auf dem Kopf sitzt, ist zu schwer für das restliche Design.“
Anerkennend nickte er, dann sagte er: „Darf ich das mitnehmen?“ Dabei hielt er ihre Zeichnung hoch. Völlig verblüfft konnte sie ihn nur mit großen Augen ansehen, was er als Zustimmung verstand. Vorsichtig steckte er sie daraufhin ein und wollte schon die Stufen wieder nach oben und zum Ausgang gehen, als er sich aber noch einmal umdrehte. „Mach heute nicht mehr allzu lange. Du solltest morgen fit sein. Und vergiss dein Maßband und dein Notizbuch nicht!“
Dann verschwand er, blind nach hinten winkend, durch die Türe. Joe blieb alleine mit ihren Gedanken zurück. Eine Weile starrte sie noch auf die Türe, durch die Richard verschwunden war, dann stand sie einfach auf, griff nach ihrer Jacke und machte sich ebenfalls auf den Weg nach draußen.
Vor dem Workshop auf dem Parkplatz war ihr Auto eines der letzten. Sie erkannte keines der anderen wieder, doch das hatte nichts zu sagen. Sie redete kaum mit ihren Kollegen. Woher sollte sie da wissen, wem welches Auto gehörte? Deswegen warf sie ihre Handtasche nur auf den Beifahrersitz und startete den Motor.
Richard hatte Recht. Morgen würde vermutlich ein langer Tag werden. Und es würde für sie schon schwer genug werden, wenn sie mit den Darstellern sprechen musste, um sie anzuweisen, damit sie vernünftig Maß nehmen konnte. Mit gemischten Gefühlen fuhr sie nach Hause. Einerseits war sie sehr aufgeregt, weil es nun mal etwas Besonderes war, an diesem Werk mitzuarbeiten. Doch andererseits hatte sie auch wieder Angst davor, dass sie etwas versauen würde. Sie konnte daher nur hoffen, dass das Fettnäpfchen, in das sie morgen als erstes treten würde, nicht allzu groß war.
***
Das Model auf dem kleinen Podest dreht sich genervt herum. Ihre Augen rollen nach oben und bringen damit ihren Unmut zum Ausdruck, dass sie seit einer gefühlten Ewigkeit hier herumsteht und nichts passiert. Ihr linker Fuß tippelt unruhig auf dem Holz herum, aus dem das kleine Podest gemacht ist. „Und wie lange, glaubst du, soll ich meine Zeit noch hier vergeuden?“
Ihre Stimme schneidet durch die stille Luft im Atelier und lässt dich zusammenzucken. Du hast gerade versucht, das Maßband wieder aufzurollen, doch es gleitet dir durch deine zittrigen Finger und entrollt sich nun schon zum zweiten Mal. „Es tut mir leid“, flüsterst du eingeschüchtert. Diese große Frau mit den wunderschönen dunklen Haaren und den strahlend blauen Augen macht dir Angst. Schon im Unterricht hast du dich instinktiv vor ihr versteckt, weil du geahnt hast, dass sie dich unterdrücken würde. Als man dich ihr zugeteilt hat, ist dir das Herz in die Hose gerutscht.
„Was?“, ruft sie schrill. „Ich kann dich nicht hören.“ Entnervt stöhnt sich auf. „Es wäre echt hilfreich, wenn du dich mal etwas klarer ausdrücken könntest. Aber nein, du musst ja immer so tun, als wärst du ein Fisch auf dem Trockenen. Deine großen, treudoofen Augen können dich da auch nicht mehr rausreißen, weißt du?“
Ohne Vorwarnung steigt sie von dem Podest herunter. Dabei rafft sie deine Kreation an sich, um nicht darüber zu fallen, und zerreißt die frischen, zarten Nähte. Du hörst es, bevor du es siehst, dass sie hinter dir steht und die restlichen Fetzen deiner Arbeit von sich schüttelt.
Als sie fertig ist und nur noch in ihrer Markenunterwäsche dasteht, stemmt sie ungeduldig die Hände in die Hüften. Sie ist verärgert, dass du ihren Auftritt nicht würdigst. Und unnötigerweise sagt sie auch noch: „Ich gehe jetzt. Denn es ist ja offensichtlich, dass du heute Abend nichts mehr auf Reihe bekommst. Viel Spaß noch!“ Dann rafft sie ihre Kleidung an sich und rauscht aus dem Raum heraus, lässt dich alleine zurück.
Ohne, dass du es willst, kommen dir die Tränen. Du fühlst dich so hilflos, weil du nicht aus deiner Haut kannst. Wir gerne würdest du dieser arroganten Ziege die Meinung sagen. Doch du weißt genau, dass du kein Wort herausbringst, wenn du vor ihr stehst und sie dich kalt mustert. Dann rutscht dir das Herz in die Hose, ein Kloß bildet sich in deinem Hals und du kannst nichts mehr sagen, sondern nur noch unverständlich vor dich hin stammeln.
Verzweifelt sinkst du auf die Knie, direkt neben das abgerollte Maßband. Deine Hände wandern vor dein Gesicht, das du vor Scham darin verbirgst. Wenn du doch nur jemand anderes sein könntest! Wenn du doch nur wie ein ganz normaler Mensch reden könntest!