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Kapitel 2

 

~ Captain Teague’s Wisdom

 

„Du weißt davon?“ Unruhig rutschte Jack auf seinen Stuhl hin und her. Wenn sein Vater davon wusste, wer konnte wohl sonst noch davon wissen? Hatte man sie vielleicht doch verfolgt? Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass jemand ihm sein Schiff abluchsen wollte. Doch sein eigener Vater? Irgendwie konnte er sich das nicht vorstellen.

 

Der Hüter des Piratenkodex lächelte verschlagen. Doch dann wurde er wieder ernst. Sein Blick verdüsterte sich und Jack fühlte sich plötzlich wieder wie der kleine Junge, der von seinem Vater gemaßregelt worden war. „Wenn dein eigenes Schiff diesem Monster zum Opfer fällt, weißt du, dass du alt wirst, Jackie. Blackbeard hat mir die Troubadour entrissen. Und ich konnte nichts anderes tun als zuzusehen, wie sie in einem schwarzen Loch versank. Doch ein Captain spürt sein Schiff, wenn es in der Nähe ist, das weißt du genauso gut wie ich.“ Ein krummer Finger zeigte auf Jack, als Teague das sagte, und der Sohn nickte verstehend.

 

Vorsichtig beugte er sich zu seinem Vater über den Tisch. Er warf verstohlene Blicke durch den immer noch dämmrigen Raum, doch es war niemand in der Nähe, außer dem schlafenden Gibbs, den Teague ein wenig bei Seite geschoben hatte, um ebenfalls auf der Bank Platz zu nehmen. „Weißt du, wie man sie befreien kann?“

 

Eine Gänsehaut überzog plötzlich seine Arme und es fröstelte ihn. Zum Glück konnte das niemand unter seinem weiten weißen Hemd sehen. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, als er das sagte, als hätte er soeben einen Fluch ausgesprochen, den er noch bereuen würde. Doch was konnte das zu bedeuten haben? War diese Sache, die eigentlich so einfach sein sollte, doch vielleicht eine Nummer zu groß für ihn?

 

Er rief sich innerlich zur Ordnung. Wie konnte es zu groß für ihn sein, sein eigenes Schiff befreien zu wollen?

 

Auch Captain Teague beugte sich nun weiter vor. Dabei schob er die leeren Krüge zur Seite, die die Tischplatte bedeckten, und pustete die Kerze aus. Geheimnisse verbargen sich sicherer in der Dunkelheit, das hatte er in seiner Zeit als Piratenfürst nur allzu gut gelernt. Manche Lektionen waren auch schmerzlich gewesen, wie der Tod seiner Frau. Doch das alles gehörte nun der Vergangenheit an.

 

„Wenn du deine geliebte Pearl befreien willst“, sagte er leise, sodass Jack ihn kaum verstehen konnte und noch näher an ihn heran rückte, „dann wird dir dein albernes Rumgefuchtel nicht helfen.“

 

Empört lehnte Jack sich wieder zurück. „Was für ein albernes Rumgefuchtel? Meinst du das hier?“ Er hob die Hände und ließ die Finger wackeln, nur wenige Zentimeter von der großen Nase seines Gegenübers entfernt. Dann zog er sie mit einem Ruck zurück, ließ sie unter dem Tisch verschwinden und sah seinen Vater enttäuscht an. Keiner hatte bisher so mit ihm gesprochen. Doch ein Vater durfte das vermutlich, dachte Jack. „Ich weiß, dass mir das nicht helfen wird. Aber was soll ich sonst tun? Ich hab doch keine Ahnung, wie ich den doofen Affen aus der Flasche bekomme!“

 

In diesem Moment verspürte er einen Stich im Herzen. Und damit war keiner dieser seltsamen Regungen gemeint, die er Gibbs gegenüber erwähnt hatte. Es war, als bohre ihm jemand eine spitze, dicke Nadel durch den Brustkorb und direkt in sein kleines verkümmertes Herz hinein. Automatisch packten seine Hände nach der Stelle, als könnte er dadurch den Schmerz lindern. Doch seine Nägel krallten sich nur in den Stoff, den er am Leib trug, während ihm die Qual die Luft aus den Lungen trieb.

 

Eine Hand griff nach seinem Arm, während sein Kopf sich drehte und er das Gefühl hatte, die Welt würde aus den Angeln gehoben. Dann war es plötzlich wieder vorbei. Seine Ohren rauschten noch eine wenig, deswegen konnte er auch nicht verstehen, was sein Vater sagte, sondern sah nur, wie er die Lippen bewegte. Doch als er den Kopf ein paar heftig geschüttelt hatte, war alles wieder normal.

 

Er musste sich zwingen, ein paar Mal tief und langsam durchzuatmen, dann konnte er seinen Vater wieder ansehen. „Ich fürchte, das war etwas zu viel Wein“, sagte er und rülpste vernehmlich, um seine Worte zu unterstreichen. „Was hast du gesagt?“

 

Wieder fasste sein Vater nach seinem Arm, packte dieses Mal jedoch fester zu, nicht weil er besorgt war, sondern weil er es dieses Mal ernst meinte. Er musste seine Worte dieses Mal genau verstehen, musste zuhören, was er zu sagen hatte, sonst würden sie beide ihre Schiffe niemals wiedersehen. „Du musst mir jetzt genau zuhören, Jackie.“ In Captain Teagues Gesicht lag ein Ausdruck, den Jack noch nie gesehen hatte. Nicht, als er ihm über die Quelle und die Kelche berichtet hatte, und auch nicht, als er ihn das letzte Mal in der Schiffbruch Bay gesehen hatte. Nahm ihn der Verlust seines Schiffes so mit oder steckte dieses Mal wirklich etwas mehr hinter der ganzen Sache?

 

„Blackbeard ist ein Pirat der übelsten Sorte. Ich habe schon viel gesehen in meinem Leben, aber Edward Teach… Nun, der ist eine Nummer für sich. Selbst viele Piraten fürchten sich vor ihm.“

 

„Du etwa auch?“ Jack konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendetwas gab, wovor sein Vater Angst hatte. Er, der ehemalige Piratenfürst von Madagaskar, der Hüter des Piratencodex, der schon so lange lebte und so viel gesehen hatte.

 

„Alles, was ich von Captain Edward Teach noch will“, sagte Teague, senkte bedrohlich seine Stimme und sah seinem Sohn fest in die Augen, „ist Rache für mein Schiff. Ich will sein erbärmliches Leben aus ihm herausquetschen und ihn dazu zwingen mit anzusehen, wie ich höchstpersönlich seine Queen Anne versenke. Das will ich!“

 

Jack pfiff durch die Zähne. Scheinbar konnte doch etwas seinen Vater aus der Fassung bringen. Damals, als er den Kopf seiner Frau gefunden hatte, der dann nur noch die Größe eines verschrumpelten Apfels gehabt hatte, war er ziemlich sauer gewesen. Er hätte den Stamm der Pygmäen ausgerottet, wenn er nur die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Doch dieses Funkeln in den Augen hatte selbst da gefehlt. Jetzt war es auf einmal da, hauchte dem alten Mann mehr Leben ein, als Rum es hätte tun können, und brachte ein inneres Feuer zum Glimmen. „Das ist wirklich beeindruckend, Dad“, sagte Jack und fummelte gedankenverloren an einem Krug herum, der umgekippt vor ihm lag. „Doch leider muss ich dich enttäuschen, denn Blackbeard ist tot.“

 

Der Ausdruck, der nun auf Captain Teagues Gesicht trat, verletzte Jack beinahe so sehr, wie als hätte man ihn seiner eigenen Rache beraubt. Er wusste noch ganz genau, wie er sich gefühlt hatte, als Barbossa ihm damals die Black Pearl gestohlen hatte. Er hätte ihm am liebsten das Herz aus der Brust gerissen! Leider war das ein Ding der Unmöglichkeit gewesen damals, und es hatte ihn ganz schön enttäuscht zu erfahren, dass Barbossa bereits tot war, wenn er auch noch gegen, stehen und kämpfen konnte. Allein die Tatsache, dass er selbst von dem Fluch verschont geblieben war, hatte ihn damals noch ein wenig aufheitern können.

 

Doch vermutlich wäre sein Vater ihm an die Gurgel gesprungen, wenn er ihm nun etwas Positives aus dieser Situation gestrickt hätte.

 

„Was meinst du mit ‚tot’?“

 

„Na ja“, machte Jack und fummelte immer noch an dem Krug herum, um sich vor einer richtigen Antwort zu drücken. Seinen eigenen Vater der Rache zu berauben war zwar nicht vom Piratencodex verboten, doch es war ganz sicher nahe dran.

 

Irgendwann hatte Teague die Nase voll, packte den Krug, der Jacks Aufmerksamkeit genoss, und warf ihn an die nächste Wand, wo er in Einzelteilen niederging. Erschrocken zuckte sein Sohn zurück, hob abwehrend die Hände vor die Brust und sah seinen Vater mit vor Scham hochgezogenem Mundwinkel an. „Schon gut, schon gut. Ich hab ihn getötet.“

 

„Wie?“

 

„Na, hör mal! Denkst du nicht, dass ich dazu in der Lage bin, den mächtigsten und bösesten Piraten der sieben Weltmeere…“ Doch sein Vater unterbrach ihn rüde. Eine Fast donnerte wütend auf das Holz des Tisches, dass es ihm vorkam, als gäbe das gute Möbelstück ein Stöhnen von sich. Ebenso wie Gibbs, der einen kleinen Satz machte, jedoch unbeirrt weiterschlief, als kein weiterer Krach folgte. „Wie hast du ihn getötet, Jackie?“

 

Teague verlieh seiner Stimme so viel Nachdruck, dass Jack nicht anders konnte. Er hätte die Geschichte am liebsten verschwiegen, doch sein Vater wollte unbedingt die Wahrheit wissen. Und wer war er, dass er einen Mann davon abhielt, die Wahrheit zu erfahren?

 

Also lehnte er sich wieder vor, beugte sich tief über den Tisch, um zu verhindern, dass selbst die Mäuse in ihren Ecken mitbekamen, was hier gesprochen wurde. „Du erinnerst dich doch daran, dass wir über die Quelle gesprochen haben, nicht wahr?“ Sein Vater nickte nur knapp. „Nun, wir haben sie gefunden.“

 

„Hat die Quelle dich in Versuchung geführt?“

 

Schnell winkte er ab. „Ach was! Mich doch nicht!“ Gibbs jedoch gab ein so lautes Schnarchen von sich, dass Jack zusammen zuckte. Für einen winzigen Augenblick lang sah er schuldbewusst aus, dann gab er zu, indem er seine Worte damit unterstrich, dass er Daumen und Zeigefinger nur wenige Millimeter von einander entfernt hielt: „Na gut, vielleicht ein klitzekleines Bisschen. Aber ich habe Blackbeards Jahre nicht für mich gestohlen. Ich habe sie seiner Tochter schenkt – wenn auch gegen seinen Willen.“

 

„Dann hat die Quelle ihn genommen“, sagte Teague nachdenklich. Sein Blick glitt in die Ferne, dorthin, wo nur er etwas sehen konnte, selbst als Jack der Richtung folgte. Doch er sah nur eine leere Wand, die Flecken von Bier, Wein und anderen Dingen, von denen er nichts wissen wollte, aufwies. „Das macht die Sache wesentlich komplizierter.“

 

„Welche Sache?“

 

Sein Vater griff nach der Flasche, die Jack bisher gut verborgen hatte unter dem Tisch. Er fasste blind unter das Holz und zog die Black Pearl samt ihres Gefängnisses hervor und hielt sie seinem Sohn unter die Nase. „Um die Schiffe aus den Flaschen zu befreien, benötigt man nicht nur eine erfahrene Hexe, sondern auch – und hier wird es ziemlich knifflig – das Blut von Edward Teach. Doch wenn die Quelle ihn ausgesaugt hat, ist von dem guten Captain nicht mehr übrig, als ein paar Hautfetzen an einem blanken Skelett, das langsam aber sicher zu Staub zerfällt. Wie also, Jackie, wollen wir nun unsere Schiffe wieder bekommen?“

© by LilórienSilme 2015

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