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Kapitel 2

~ Vermächtnis

 

Fassungslos starrte ich Varda und Manwe an. Ich hatte den Namen vernommen, den sie mir genannt hatten, aber es war nicht bis in meinen Geist vorgedrungen, sodass ich es hätte verarbeiten können. Es war als triebe ich in dunklem Wasser, umgeben von eisiger Kälte, die mir die Luft zum Atmen nahm. Ich konnte nicht entkommen.

 

„Hast du gehört, was wir dir sagten?“, fragte Varda sanft und strich mir erneut über die Wange. Diese warme Berührung, obwohl sie eigentlich nichts war, löste mich aus meiner Starre und ich rang nach Luft. „Das meint Ihr nicht ernst“, keuchte ich. Ich musste mich verhört haben. Mein Verstand musste mir einen Streich gespielt haben, denn das konnte unmöglich der Wahrheit entsprechen. Es war so unfassbar, so unglaublich, dass es einfach nicht wahr sein konnte.

 

Manwe trat auf mich zu. „Ich weiß, dass dies für dich sehr überraschend kommen muss“, sagte er und ich nickte, starrte immer noch vor mich hin. „Aber so, wie die Dinge zurzeit stehen, können wir es nicht auf sich bewenden lassen. Das ist nicht unser Wille. Aber du kennst unseren Willen. Du allein.“

 

Ich sprang von den Stufen auf. Plötzlich hatte ich wieder Kraft in meinen Beinen, die sich zuvor wie Wasser angefühlt hatten. „Es muss jemand anderen geben!“, rief ich. „Ich habe bereits alles geopfert, was ich hatte. Müsst Ihr mir nun auch noch mein Selbst nehmen? Ich wurde nicht dazu geboren zu führen. Ich wurde dazu geboren zu folgen.“

 

„Aber du folgst doch!“, sagte Varda. „Du folgst unserem Wort. Vertraue darauf, dass du weißt, was zu tun ist. Der Elb, der im Moment im Máhanaxar sitzt, folgt nicht unserem sondern seinem eigenen Willen. Du musst das unterbinden. Du musst die Elben und alle anderen Wesen, die uns ihren Dienst erwiesen haben, zu unserem Glauben zurückführen. Nur du alleine kannst das schaffen.“ Ich drehte mich von ihnen weg. „Lilórien.“

 

Der Klang meines Namens brachte so viele schmerzhafte Erinnerungen zurück, dass ich aufstöhnte, als sie über mir zusammenbrachen. Wenn sie sagten, dass ich die einzige war, die das Unheil noch abwenden konnte, dann würde das bedeuten, dass es die großen Elbenfürsten nicht mehr gab. Was war mit meiner Mutter geschehen, mit Galadriel, was mit Elrond? Wo war der Maia Gandalf?

 

Die Götter mussten meine Gedanken gelesen haben, wie sie sich auf meinem Gesicht widerspiegelten, denn Varda berührte meine Stirn und zeigte mir Bilder von einem Wandteppich. Zunächst erkannte ich es nicht, doch dann sah ich, dass es die Webarbeiten von Vairё sein mussten, die die Geschichte der Welt darstellen und in Mandos’ Hallen an den Wänden hängen. Sie zeigte mir eine Stelle, auf der zu sehen war, dass meine Mutter, meine Schwester, sowie Elrond und Gandalf bereits in die Hallen eingegangen waren.

 

Ich taumelte zurück. „Nein“, stöhnte ich. Meine Mutter war tot. Das konnte unmöglich wahr sein. Ich war hierher gekommen, um sie erneut wieder zu sehen und mich mit meiner Schwester auszusöhnen, die ich so lange nicht gesehen hatte. Sollte alles umsonst gewesen sein? War ich hierher gekommen, nur um festzustellen, dass meine Familie nicht mehr lebte? Meine Augen füllten sich erneut mit Tränen aus Wut und Trauer. Wieder einmal war ich alleine.

 

Was war nur aus dieser Welt geworden? Am liebsten wäre ich davongelaufen, so weit, dass mich niemand jemals wiederfinden würde. Hätte ich versteckt und wäre vor Trauer gestorben. „Ihr verlangt Unmögliches von mir“, flüsterte ich, starrte dabei auf den Boden, wagte es nicht, ihnen in die Augen zu sehen. „Ich kann das nicht tun. Ohne Hilfe kann ich so eine große Aufgabe nicht vollbringen.“ Und mit Hilfe meinte ich die Liebe meiner Familie.

 

„Du brauchst keine Hilfe“, sagte Varda. „Du hast es bis hierher alleine geschafft.“

 

„Und was ist aus mir geworden?“, schleuderte ich ihr entgegen. Die Tränen strömten nun über meine Wangen, ließen sich nicht mehr zurückhalten. Die Hände hatte ich zu Fäusten geballt. Ich war außer mir, konnte es nicht mehr ertragen. „Seht mich doch an! Ich bin ein Nichts. Es gibt niemanden mehr, der sich an mich erinnert, niemanden, der mich mehr kennt. Meine Mutter und meine Schwester sind tot, mein Vater schwindet in Mittelerde. Ich habe nichts mehr, ich hatte nie etwas und ich werde nie wieder etwas haben. Was also könnte ich einem Volk von Elben schon geben?“

 

Manwe kam auf mich zu, seine Augen funkelten so blau wie das Meer. „Glaube“, sagte er und berührte die Stelle an meiner Brust, unter der mein Herz schlug. „Auch wenn du manchmal gezweifelt hast, immer war etwas in dir, was an uns geglaubt hat, an das, was wir getan haben. Dein Glaube hat dich hierher geführt und er wird dich auch weiterhin auf deinem Weg begleiten. Wenn du nur dazu bereit bist.“

 

Ich schluchzte auf. Genau genommen hatte mich meine Sehnsucht nach einem ruhigen Lebensabend hierher geführt. „Habe ich denn eine Wahl?“

 

„Die hast du!“, sagte Varda. Der Mond ruhte wie ein Diadem auf ihrem dunklen Haar. Doch langsam begann er zu verblassen, denn die Sonne war schon untergegangen und würde bald Platz am Himmel machen für die Sterne. Sie sah aus, als wäre das Firmament herabgefallen und hätte sie umhüllt.

 

In mir machte sich jetzt die Erschöpfung breit. Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Dies alles schien zu viel für mich gewesen zu sein. „Gut“, sagte ich, „dann verlange ich von Euch drei Tage Bedenkzeit.“

 

Die Götter sahen mich an. Im Licht des nun aufgehenden Mondes wirkten sie nicht mehr so durchscheinend, sondern viel realer. Trotzdem wusste ich, dass ich sie nicht mehr würde umarmen können, wie ich es einst getan hatte. „Einverstanden“, sagte Manwe. „In drei Tagen, bei Anbruch der Nacht, werden wir wiederkommen, dieses Mal zum letzten Mal, und werden deine Antwort hören. Nicht früher und nicht später wird dieses Versprechen eingelöst. Bist du nicht hier, werden wir dich finden und deine Antwort verlangen. Hast du uns deine Antwort gegeben, wirst du uns nicht wiedersehen, egal wie sie ausfallen wird.“

 

Ich neigte meinen Kopf und berührte mein Herz mit der rechten Hand. „Ich danke Euch“, sagte ich, und als ich wieder aufblickte, waren sie bereits verschwunden. Wie ein schweres Tuch legte sich sogleich die Müdigkeit über mich. Dort, wo ich war ließ ich mich auf den Stufen den Podestes nieder, legte den Kopf auf meine Arme und schlief sofort ein.

 

~*~*~*~

 

Drei Tage später erwachte ich unruhig kurz vor Einbruch der Nacht. Ich hatte einen merkwürdigen Traum gehabt, indem Varda mich durch Valinor geführt und mir gezeigt hatte, dass das ganze Land unter einer Zerstörung litt. Das Meer holte sich mehr und mehr von dem Kontinent Amar zurück, denn ohne den Schutz der Götter war das Land selbst nicht mehr in der Lage, den Gezeiten zu trotzen. Noch konnte man es nicht merken, doch bald schon würde aus dem einstigen weiten Land eine Insel geworden sein, die ringsum vom äußeren Meer umgeben war und nicht mehr erreicht werden konnte.

 

Auch hatte ich gesehen, dass es kaum noch Elben hier gab. Viele waren bereits zu Námo oder Nienna gegangen, hatten die Städte verlassen. Und im Schicksalsring, wo vor ewigen Zeiten einmal die Throne der Valar gestanden hatten, saß nun ein Elb, dessen Seele schwarz war vor Verderben. Weil sich die Götter abgewandt hatten, glaubte er nun, er hätte die Macht, Valinor zu regieren. Doch er konnte das Land nicht mehr retten.

 

Ich begriff nun, dass es ganz gleich war, ob ich ablehnte oder zusagte, beides würde mich zu dem gleichen Schicksal, dem Tod, leiten. Lehnte ich ab, herrschte der schwarze Elb über das Land der Götter und ich musste mich ihm unterordnen, was nicht nur mein Ende, sondern auch das Ende aller anderen bedeuten würde. Sagte ich zu, nahm ich das an, was die Valar mir boten, lag es an mir, das Schicksal ein Stück weit zu wenden. Zwar gab ich mich dadurch auf, denn dann würde ich nur noch dem Willen von Varda folgen, doch was machte es schon, wenn es niemanden mehr gab, der sich an mich erinnern konnte. Nur noch ich wusste, wer Lilórien einmal gewesen war.

 

Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand und die ersten Sterne am Himmel auftauchten, tauchten auch Manwe und Varda wieder auf. Ihre Konturen wurden schärfer, je mehr das Licht der Sonne schwand.

 

„Die Zeit ist um“, sagte Manwe. Er trug sein Zepter in der Hand. Varda hatte ein kleines Kästchen in ihren Händen, welches sie nun vor mich auf den Boden stellte. Sobald es ihre Hände nicht mehr berührten schien es als würde es sich selbst materialisieren, sodass es wirklich wirkte.

 

„Wenn du das annimmst, was wir dir bieten“, sagte sie und richtete sich wieder auf, sodass sie mich überragte, „dann öffne dieses Kästchen und empfange deine Würde als Gesegnete der Valar.“

 

Sie zeigten keine Überraschung, als ich nach dem Kästchen griff und es an mich nahm. Es war mir nicht schwer gefallen, diese Entscheidung zu treffen. Da ich nun alleine war und niemanden mehr hatte, an den ich mich halten konnte, musste ich mir selber eingestehen, dass ich eine Aufgabe benötigte, die mich von meiner Trauer ablenken konnte. Ich sah sie an. „Ihr habt es gewusst“, sagte ich. Es war eine Feststellung, deswegen antworteten sie mir auch nicht. Sie lächelten nur milde, wie Eltern nur lächeln können, wenn ihr Kind etwas Wichtiges für sein Leben lernt.

 

Als ich das Kästchen hielt, betrachtete ich es genauer. Es war aus vier gleichen Stücken von Holz gefertigt, so ineinander geschoben, dass man es nur öffnen konnte, wenn man an vier Stellen gleichzeitig Druck ausübte. Es war aus vier verschiedenen Holzarten gemacht und in der Mitte liefen die Ecken in einem Stern zusammen. Es sah wunderschön und zierlich aus, als wäre es durch Magie entstanden und nicht durch grobe Hände gefertigt.

 

Zögerlich öffnete ich es, indem ich die vier Stellen berührte, die durch jeweils ein Stück Metall gekennzeichnet waren. Mit einem leisen Geräusch sprangen die Teile auseinander und etwas fiel mir in den Schoß. Das Licht der Sterne brach sich darin, wie es sich sonst nur in einer klaren Nacht auf der Oberfläche eines stillen Weihers brach, und warf grüne Lichtreflexe auf mich und die umliegenden Ruinen. Vorsichtig legte ich die Holzteile bei Seite und nahm das Schmuckstück hoch.

 

Es war ein zierlicher Ring, aus mithril gefertigt und mit winzigen Blumenranken verziert, wie sie nie auch nur die kleinsten Finger hätten herstellen können. In der Mitte thronte ein leuchtender Smaragd in der Form einer fünfblättrigen Blüte. Ehrfürchtig schob ich den kostbaren Ring auf meinen rechten Ringfinger. An meinem Linken trug ich noch immer den Ring, den Haldir mir vor drei Leben, so kam es mir vor, geschenkt hatte. Doch dieser hier passte so exakt, als wäre er auf meinem Finger gegossen worden. Ich hielt ihn in das Sternenlicht und beobachtete, wie er glitzerte.

 

„Das ist Caeya“, sagte Varda feierlich, „der Erdring. Er ist so stark mit der Erde selbst verbunden, wie du es jetzt mit uns bist.“ Ihre Hand glitt kurz über den grünen Stein und ließ ihn für einen Wimpernschlag aufleuchten.

 

Nun trat Manwe an mich heran. Mit der Spitze seines Zepters berührte auch er den Stein. „Nun haben alle Valar, die nicht vor Eru in Ungnade gefallen sind, diesen Stein berührt. Er birgt von jetzt an und für immer unseren Willen in sich. Handelst du in unserem Sinne, wird seine Stärke wachsen. Handelst du uns zuwider, schwindet seine Kraft und er wird erlöschen, wie die Drei es einst taten. Trage ihn mit Würde und er wird dich leiten. Wer ihn besitzt ist sein Hüter. Wenn du der Würde überdrüssig bist, gebe ihn weiter. Doch bedenk, dass derjenige dieser Aufgabe gewachsen sein muss. Nicht jeder ist in der Lage ihn zu kontrollieren. Ist er zu schwach, wird er von Caeya vernichtet werden.“

 

Ungläubig besah ich mir das Schmuckstück. Wie war es nur möglich, dass man etwas erschaffen konnte, was so viel Kraft in sich barg. Schon damals, als Sauron den Einen fertigte, konnte mein Verstand es nicht begreifen. Auch jetzt nicht, nach all den Jahren, die ins Land gezogen waren.

 

„Werde ich dadurch das Schwinden von Valinor aufhalten können?“, fragte ich, wobei ich meine Augen jedoch nicht von der kleinen Blüte nehmen konnte. Fast schien es mir, als wüchse sie, als lebte und atmete sie noch.

 

Manwe wirkte traurig, als er sagte: „Nein, das Unglück, welches bevorsteht, wirst du nicht abwenden können. Es wird geschehen. Dieser Ring birgt nicht unsere Macht, sondern unseren Geist. Er wird dir nur Möglichkeiten aufzeigen, dir aber keine Stärke verleihen, wie es Saurons Ring getan hätte. Betrachte ihn als Kompass, nicht als Waffe. Doch denke daran, dass nicht jeder Weg leicht zu beschreiten ist.“

 

Ich lachte kurz auf, hatte ich doch jetzt wirklich nichts mehr zu verlieren. „Was gibt es jetzt noch, was mir schwer erscheinen könnte?“

 

Manwes Gestalt begann bereits zu verblassen. Ohne, dass ich es bemerkt hätte, war der Morgen hereingebrochen. Wie lange war ich in der Betrachtung des Ringes versunken gewesen, fragte ich mich? Nur Varda erschien noch hell und klar vor mir. Sie trat an mich heran und nahm mich in den Arm. Erschrocken sog ich die Luft ein, als ich ihre Berührung spürte. Damit hatte ich nicht gerechnet.

 

Sie löste die Umarmung erst nach einer Weile wieder und sah mir in die Augen. Ihre Hand streichelte über meine Wange. „Du wirst bald noch eine letzte Prüfung zu bestehen haben. Doch einen Gefallen können wir dir noch tun. Mit der letzten Kraft, die uns auf Erden bleibt, werden wir den schwarzen Elb aus Máhanaxar vertreiben. An dir wird es dann sein, die Trümmer wieder aufzubauen.“ Jetzt sah ich eine Träne in ihrem Augenwinkel schimmern. „Das ist das letzte Mal, das wir uns auf dieser Welt sehen werden, Silme nín. Ich wünsche dir alles Gute.“ Sie küsste mich auf die Stirn. „Namáriё“, flüsterte sie, dann waren sie und Manwe verschwunden.

 

Zurück blieb ich allein, zwischen den Ruinen ihres einstigen Palastes, mit einem Ring am Finger, der die einzige Verbindung zu dem war, was ich jemals als Beständig in meinem Leben betrachtet hatte. Doch von nun an würde sich alles ändern.

© by LilórienSilme 2015

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