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Kapitel 19

 

~ Leaving Port Royal

 

Eine dicke Wolke schob sich vor den Mond und verschluckte sein Licht, bevor es den Boden erreichen konnte. Elizabeth blieb sofort stehen. Vorsichtig schob sie ihren rechten Fuß nach vorne, um die Beschaffenheit ihres Weges zu ertasten, konnte kein Hindernis feststellen und schlich Schritt für Schritt langsam weiter. Billy hatte sie auf den Arm genommen, fest an sich gepresst, damit er ihr nicht herunterfallen konnte. Auf halben Weg war er beinahe im Stehen eingeschlafen und so hatte sie ihn hochnehmen müssen, obwohl er eigentlich schon viel zu schwer dafür war. Doch zurücklassen konnte sie ihn unmöglich. Eher hätte sie sich Captain Miller freiwillig angeboten.

 

Doch das, was sie heute in der Zeitung zu lesen bekommen hatte, als sie in der Stadt gewesen war, um ihre Einkäufe zu tätigen, hatte sie dazu veranlasst, so schnell wie möglich Port Royal zu verlassen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie von der Insel herunterkommen sollte, doch sie wusste ganz genau, dass sie schnell handeln musste. Denn wenn sie das nicht tat, konnten ihre Freunde in ernste Schwierigkeiten geraten.

 

Der Artikel in der Gazette war für Außenstehende vielleicht unbedeutend, doch für sie war er alarmierend gewesen. Er berichtete von einem Schiffsunglück nicht weit von hier vor den Florida Keys. Die spanische Silberflotte war mit ihrem ganzen Schatz auf den Grund des Meeres gesunken und hatte damit einen regelrechten Rausch bei den Piraten ausgelöst. Jeder wollte der Erste an der Stelle sein, doch bisher war es wohl noch niemandem gelungen, den Schatz zu bergen. Es schien beinahe, so hatte sich der Verfasser des Artikels ausgedrückt, als würde eine fremde Macht das Gold unter Wasser halten, nur etwa zehn Fuß unter der Oberfläche, beinahe in Tauchtiefe.

 

Das alleine mochte noch nichts Besonderes sein, doch die Tatsache, dass man so gut wie keine Überlebenden gefunden hatte, machte es für Elizabeth schwer zu glauben, dass Will seine Finger hier nicht im Spiel hatte. Als Captain der Flying Dutchman war er dazu verpflichtet, die auf See verstorbenen Seelen ins Jenseits zu begleiten. Er musste dort gewesen sein. Und vielleicht war er noch nicht allzu weit weg. So hätte sie eine geringe Chance, ihn nach sechs Jahren noch einmal zu sehen.

 

Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie sich die letzten Jahre belogen. Sie wusste ganz genau, dass Will sie nicht gern zurückgelassen hatte. Und er war trotzdem gegangen und hatte sie nicht mitgenommen. So ganz konnte sie das noch immer noch begreifen. Doch sie hatte es akzeptieren müssen, weil sie keine andere Wahl gehabt hatte. Keine Sterblichen durften auf das Geisterschiff. So hatte zumindest damals die Regel gelautet. Dass sich jetzt etwas daran geändert hatte, war unwahrscheinlich. Und doch konnte sie ihrem Herzen nicht befehlen zu schweigen. Sie musste Will einfach noch einmal sehen. Und wenn es nur von Weitem war. So konnte sie sich wenigstens sicher sein, dass er noch lebte und sie keinem Traumbild nachweinte.

 

Und, was das Wichtigste war: sie musste den Rest der verdammten Piratenmannschaft warnen, die noch immer auf der Black Pearl nach schätzen suchte. Denn, wie sie ebenfalls in dem Artikel lesen konnte, würden Captain Miller und Gouverneur Spotswood des Schatz als Falle für die Freibeuter nutzen. So hatten sie ihre Kriegsschiffe rund um die Keys positioniert und warteten nur darauf, jeden festzunehmen, der unter einer schwarzen Flagge segelte. Deswegen konnte sie nur hoffen, dass sie die Pearl rechtzeitig erreichte, bevor sie Jack Sparrow nur noch am Galgen baumeln sehen konnte.

 

Der Strand war wie ausgestorben. Scheinbar hatten die Bewohner den damaligen Überfall, bei dem auch Elizabeth abhanden gekommen war, immer noch nicht ganz überwunden und zogen sich nach Sonnenuntergang lieber in ihre Häuser zurück. Dies war jedoch ihr Glück, denn so konnte sie sich unbemerkt zu einem der Boote schleichen, die die Fischer hier zurückgelassen hatten. Vorsichtig setzte sie den schlafenden Billy hinein, schob die kleine Jolle zum Wasser hinab und stieg selbst hinein, als das Meer den Kiel vollständig umspülte. Dabei wurde der feine Saum ihres Kleides nass, doch es kümmerte sie nicht.

 

Am liebsten hätte sie ein paar Hosen angezogen, doch leider gab so etwas ihr Kleiderschrank nicht mehr her. Hätte sie sich in der Stadt mit den Beinkleidern der Männer gezeigt, hätte sie sich nie wieder irgendwo blicken lassen können. Und sie hatte auch so schon genug Probleme vorzuweisen gehabt, ohne dass sie auch noch so offensichtlich von der Gesellschaft geschnitten wurde. Als Witwe hatte sie wenigstens noch das Recht, sich offen zu zeigen.

 

Kaum saß sie sicher im Boot, kam der Mond wieder zum Vorschein. Gerade zum ungünstigsten Zeitpunkt, dachte sie verbittert, legte sich aber trotzdem in die Riemen, um schnell den nun weißen Strand hinter sich zu bringen. Würde man sie jetzt hier so sehen…

 

Weiter verbot sie sich selbst zu denken. Sie musste lieber so schnell wie möglich so viele Meilen wie möglich zwischen sich und die Stadt bringen. Denn falls das stimmte, was sie in der Zeitung gelesen hatte, würde Jack garantiert in diese Falle tappen. Und dafür mochte sie ihn doch noch zu sehr, als dass sie das zulassen würde.

 

„Mommy?“ Billy regte sich plötzlich neben ihr und blickte verschlafen zu ihr hoch. Im spärlichen Licht des Mondes sah er noch mehr aus wie sein Vater. Er würde sicher später einmal eine Menge Herzen brechen.

 

Elizabeth hörte auf zu Rudern und streckte stattdessen eine Hand nach ihrem Sohn aus. Sofort schmiegte er seine Wange daran und schloss seine braunen Äuglein wieder. „Schlaf noch ein bisschen, mein kleiner Engel“, flüsterte sie. „Und wenn du aufwachst, sind wir an einem sicheren Ort.“

 

Sie hoffte sie sehr, dass dem so war. Hoffentlich würde sie ihre Orientierung nicht im Stich lassen. Sie musste um jeden Preis zumindest bis Tortuga kommen. Zum Glück hatte sie einen Kompass und eine grobe Karte bei sich, um zumindest halbwegs die Richtung bestimmen zu können, in die sie zu rudern hatte. Doch auch, wenn sie auf dem kürzesten Weg zu der berüchtigten Piratenstadt gelangen konnte, würde das all ihre Kräfte kosten. Deswegen musste sie äußerst vorsichtig sein, sich nicht direkt am Anfang völlig zu verausgaben. Auch wenn sie das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Sie gab ihr Bestes, ihre im Nacken aufgestellten Härchen zu ignorieren, packte das zweite Ruder wieder fester und zog durch.

 

Schäumend spülten kleine Wellen gegen den Bug und brachten die Jolle mit jedem Zug ein Stückchen weiter vom Strand weg. Großzügigerweise schien Calypso heute besonders guter Laune zu sein, denn die Wellen waren kaum der Rede wert und das Meer wirkte beinahe so glatt wie ein neuer Spiegel. Ein stilles Dankgebet an die Göttin schickend ruderte Elizabeth weiter und wiegte ihren Sohn damit schnell wieder in einen tiefen Schlummer.

 

Kurz warf sie einen Blick auf die wenigen Vorräte, die sie hatte mitnehmen können. Die kleine Umhängetasche hatte nicht viel mehr Platz als für ein Brot und einen Schlauch Wasser geboten. Hoffentlich würde das reichen, bis sie Tortuga erreichte. Sie wollte nicht riskieren, Will auf die Art zu begegnen, wie nur auf See Verstorbene dem Captain der Dutchman begegneten. Das würde er ihr garantiert nie verzeihen, wenn sie sich selbst und ihren gemeinsamen Sohn derart in Gefahr brachte. Andererseits konnte sie Billy vielleicht am Leben halten, während sie starb. So hätte sie bei Will sein können, an Bord des Geisterschiffes. Doch war würde dann aus ihrem Sohn werden? Wenn sie ganz großes Pech hatte, würde er zu seinen ungeliebten Verwandten nach England geschickt werden, damit dort ein Vormund für ihn gefunden werden konnte. Und sie konnte sich nur allzu gut an ihre Tante Abbygale erinnern, die ihr als Kind immer in die Wange gekniffen hatte.

 

Ihr Blick glitt, während sie an ihre Zeit in London zurück dachte, über die Küstenlinie, die sich mittlerweile schon ein gutes Stück entfernt hatte. Nur ein paar vereinzelte Lichter waren zu sehen, während der große Rest im Dunkeln lag. Nur der Mond sorgte noch immer dafür, dass man auf den Straßen nicht in ein Erdloch fiel.

 

Das Haus auf dem Hügel, welches dem Gouverneur immer als Sitz gedient hatte, bis es abgebrannt und schließlich wieder neu aufgebaut wurde, lag ebenfalls in völliger Dunkelheit. Kurz bildete sie sich ein, ein winziges Licht auf der Straße den Hügel hinab tanzen zu sehen, doch es war so schnell wieder verschwunden, dass sie unmöglich sagen konnte, ob es tatsächlich nur Einbildung war. Sie hoffte jedoch inbrünstig, dass es so war.

 

Leider sollte sie damit ihre Hoffnungen enttäuscht sehen. Die Lampe war Tatsache. Genauso wie der Mensch real war, der sie hielt, und ab und zu mit einem dunklen Tuch verdeckte, um nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, während er den zwar breiten, aber ziemlich schlecht ausgeleuchteten Weg hinunter in die Stadt nahm. Sein Gesicht hielt er unter einer Kapuze verborgen, die aus dunklem Tuch gemacht war und ihn somit beinahe mit der Nacht verschmelzen ließ. Erst, als er unten im Hafen angekommen war, nahm er die Kapuze ab und enthüllte sein Gesicht dem zweiten Schatten, der in der Schwärze neben einem der großen Schiffe auf ihn gewartet hatte.

 

„Wird auch Zeit, dass Ihr kommt“, brummte er genervt. „Dachte schon, ich warte umsonst hier.“

 

Der erste Schatten runzelte verärgert die Stirn. „Hüte deine Zunge, mein finsterer Freund, oder ich lasse sie dir herausreißen.“ Der andere erwiderte nichts, was der Erste als Zustimmung auffasste, um weiterzusprechen. „Los, mach das Schiff bereit. Wir müssen einer Jolle folgen.“

 

Der zweite Mann knurrte nur etwas Unverständliches, tat aber, wie ihm aufgetragen wurde. Nur wenige Minuten später blähten sich die Segel der HMS Success in dem eher mäßig wehenden Wind auf, brachten das Schiff vom Landungssteg weg und setzten es auf die Fährte einer kleinen Jolle, die ihnen in einigem Abstand voran ruderte.

© by LilórienSilme 2015

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