LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 19
~ Meet me Hallway
Der Tag der Premiere zum neusten Werk von Andrew Adamson rückte immer näher. Das konnte Vittoria daran abmessen, dass jetzt bereits die ersten Werbemaßnahmen ihren Weg kreuzten. Außerdem hatte man ihr schon die Eintrittskarten für die Premiere und die Feier danach zukommen lassen. Sie hatte jeweils nur eine behalten und die restlichen zurück geschickt. Wen hätte sie mitnehmen sollen?
Natürlich hatte sie sofort an Meg gedacht, aber auch nachdem sie bereits eine Woche wieder in London war, hatte sie sich immer noch nicht dazu durchringen können, ihre beste Freundin anzurufen. Allerdings hatte sie sich für den kommenden Sonntag vorgenommen, zu ihren Eltern zu fahren.
Das allerdings bedeutete, dass sie nur noch vier Tage hatte, um sich mental auf das Treffen vorzubereiten. Sie wusste, dass nicht nur ihre Eltern, sondern auch vermutlich ihre Schwester am Sonntag da sein würde, denn das war, wie beinahe in jeder Familie, der Tag, an dem alle zusammen kamen. Für Italiener war das vermutlich sogar noch ein wenig mehr der Fall, doch zum Glück hatte ihre Mutter nur einen Bruder, der in Rom lebte, und ihr Stiefvater war Einzelkind. Demnach war die Familie nicht besonders groß. Wenn ihre Schwester immer noch mit diesem Kerl zusammen war, würden sie zu fünft sein.
Am Donnerstagmorgen lag sie lustlos in der Badewanne und lauschte einer Ballade aus dem Radio, während draußen das Wetter wieder einmal machte, was es wollte. Sie spielte gedankenverloren mit dem vielen Schaum, der sich auf dem Wasser kräuselte, als plötzlich die Tür aufging. Ein schriller Schrei erklang und hätte sie beinahe aus der Wanne springen lassen, wenn der Rand nicht so glatt gewesen wäre und sie Halt daran gefunden hätte. So rutschte sie ab, traf mit ihrer Stirn kurz aber schmerzvoll das Porzellan und fand sich kurze Zeit später unter Wasser wieder.
Verblüfft sah sie sich um, bis sie feststellte, dass ihr die Seife in den Augen brannte. Doch bevor sie sich selbst aus dem Wasser stoßen konnte, griff jemand etwas unsanft nach ihren Schultern und zog sie nach oben. Sie hustete, als sie wieder Luft bekam, und versuchte sich den Schaum aus den Augen zu reiben.
„Mein Gott, Miss Marconi!“, ertönte eine Stimme, die nur dumpf zu ihr durchdrang. „Wie können Sie mich denn so erschrecken? Ich dachte, es wären Einbrecher hier. Und dann fallen Sie einfach so ins Wasser und tauchen nicht wieder auf. Schlimmer kann der Tag wirklich nicht mehr werden. Es ist alles so furchtbar…“
Vittoria unterbrach ihre Haushälterin mit krächzender Stimme. „Chiyo, bitte“, brachte sie hervor, bevor sie wieder husten musste. Sie hob eine Hand, als man ihr auf den Rücken klopfen wollte, zum Zeichen dafür, dass es ihr gut ging.
Chiyo holte einmal tief Luft, um sich etwas zu beruhigen, und nahm ein Handtuch von der Stange. Sie hüllte Vittoria sanft aber bestimmt in den weichen Stoff und bugsierte sie vorsichtig aus der Wanne, um sie dann auf den zugeklappten Toilettendeckel zu drücken. Danach, als ihre Arbeitgeberin offensichtlich in Sicherheit war, stemmte sie die Hände in die Hüften und sah sie verärgert an. „Was in aller Welt tun Sie hier?“, sagte sie in einem Tonfall, als hätte sie eher den Präsidenten der Vereinigten Staaten in der Wanne erwartet, als die eigentliche Hausbewohnerin.
Megara war schon seit Ewigkeiten nicht mehr hier aufgetaucht und deswegen hatte sich die Japanerin schon daran gewöhnt, dass das Haus leer war. Sie war auch nicht mehr so oft hier gewesen, wie sie es sonst war, wenn Vittoria zu Hause war. Nur einmal die Woche war sie zum Staubwischen gekommen. Vor einem Monat hatte sie schließlich für sich entschieden, nur noch alle zwei Wochen zu saugen, denn offenbar hatte es niemand eilig, hier wieder einzuziehen.
„Ich wohne hier?“, antwortete Vittoria sarkastisch und wischte sich den restlichen Schaum aus dem Gesicht. Eigentlich dürfte es sie nicht überraschen, dass man sie hier nicht erwartet hatte. Sie hatte keine Nachricht hinterlassen, wann sie gedachte, wieder in London aufzuschlagen und woher hätte Chiyo es wissen sollen. „Es tut mir leid“, sagte sie schließlich, als sie den verletzten Gesichtsausdruck ihrer Haushälterin bemerkte, den sie wie immer zu verbergen versuchte. „Ich hätte Sie anrufen sollen. Mir war nur nicht sonderlich nach Gesellschaft.“
„Soll das heißen, dass Ihre Familie keine Ahnung hat?“ Vittoria zuckte zusammen. Konnte diese Frau Gedanken lesen? Manchmal kam es ihr fast so vor, denn bisher hatte sie kaum etwas vor Chiyo verbergen können. Außer wenn es um die Weihnachtsgratifikation ging. Oder Chiyo war in dem Fall eine verdammt gute Schauspielerin.
„Sie werden da morgen früh sofort hinfahren!“ Und schon wieder schlug die Japanerin einen Ton an, der eher an eine strenge Gouvernante erinnerte, als an eine Bedienstete. Doch Vittoria nahm es ihr nicht übel. Eigentlich war sie ihr sogar recht dankbar, dass sie ihr manchmal einen Tritt in den Allerwertesten verpasste. Das hatte sie bei Zeiten wirklich dringend nötig gehabt. Und trotzdem knirschte sie mit den Zähnen. Aber das gehörte ebenfalls zu diesem Spiel, das sie irgendwie bei allem zu spielen schienen. Vittoria wollte etwas ungern oder überhaupt nicht tun, Chiyo zwang sie mit ihrer strengen Stimme und einem wirklich Angst einflößenden Blick dazu und Vittoria tat es am Ende schließlich doch. Wahrscheinlich wollte sie sogar dazu gezwungen werden. Zumindest wäre das die Definition von Freud gewesen.
Also verlegte sie das Treffen mit ihrer Familie um einen Tag vor und fuhr sofort nach dem Frühstück am folgenden Tag nach Manchester. Die Fahrt dauerte nicht lange, und doch kam es ihr beinahe wie eine Eiszeit vor. Als sie in die Straße einbog, auf der sich das Haus ihrer Eltern befand, konnte sie schon von weitem den roten Sportwagen ihrer Schwester sehen. Sie hatte wieder einmal mehr als einen Parkplatz benötigt und sich so hingestellt, dass man weder vor ihr noch hinter ihr parken konnte.
Doch Vittoria konnte schon immer besser Auto fahren. Das war eine der wenigen Sachen, in denen sie ihre Schwester geschlagen hatte. Sie hatte die Prüfung direkt beim ersten Mal ohne einen einzigen Fehler bestanden, wohingegen Katarina sie drei Mal hatte machen müssen, bevor sie den ersehnten Schein ihr eigen nennen durfte. Katarina war die typische Bestätigung vom Vorurteil „Frauen am Steuer“.
Vittoria setzte ihren Mini so dicht vor die Stoßstange des Mazda MX-5, dass gerade ein Löschpapier dazwischen gepasst hätte, stellte den Motor ab und stieg aus. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk und stellte sich schon vor, was ihre Schwester wohl für ein Gesicht machen würde, wenn sie das sah. Doch dann fiel ihr wieder ein, warum sie hier war.
Etwas mutlos schritt sie die fünf Stufen zur Eingangstür hoch, atmete noch einmal tief durch, bevor sie sich in die Höhle des Löwen wagte, dann klingelte sie. Es dauerte eine Weile, bis sich etwas regte, und sie hätte schwören können, dass ihre Mutter immer mehr wie ihre Oma klang, als endlich die Tür geöffnet wurde.
„Was willst du denn hier?“, rief Katarina in einem Tonfall, als würde sie lieber eine Horde Elefanten durchs Wohnzimmer laufen lassen, als ihre einzige Schwester hereinzubitten. Vittoria ignorierte es und schob sich an ihr vorbei. „Ich freue mich auch, dich wieder zu sehen, Schwesterherz.“ Sie wartete nicht ab, bis sich der Schock gelegt hatte, sondern hängte ihre Jacke an die Garderobe und ging in die Küche.
Da es noch recht früh für das Mittagessen war, war die Arbeitsfläche erstaunlich sauber und ordentlich. Vittoria konnte sich hauptsächlich daran erinnern, dass es hier laut und dreckig war und immer nach Essen gerochen hatte. Aber wann war sie das letzte Mal hier gewesen?
Sie konnte hören, dass jemand im Esszimmer war. „Katarina“, rief ihre Mutter mit ihrer schrillen durchdringenden Stimme, „chi era alla porta?“[1] Da ihre Schwester immer noch in der offenen Haustür stand und offenbar den Schock erst mal verdauen musste, dass sie die Frechheit besaß, einfach hier aufzutauchen, straffte Vittoria ihre Schultern und öffnete die Türe zum Essbereich des Hauses.
Dieses Mal war sie es, die wie angewurzelt stehen blieb. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, ihre Mutter hier vorzufinden und vielleicht noch ihren Stiefvater, der heute möglicherweise einen freien Tag haben könnte. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Freund ihrer Schwester mit an dem großen runden Tisch saß und sich aufgeregt mit ihrer Oma unterhielt, während ihr Opa grummelig mit verschränkten Armen dasaß und alles mit einem Blick maß, der nur bedeuten konnte, dass er Katarinas Freund nicht ein bisschen leiden konnte.
Unter normalen Umständen hätte Vittoria das sicher gefreut, dass ihre perfekte Schwester auch endlich mal einen Kerl mit nach Hause brachte, der nicht bei allen Anklang fand, doch als das Gespräch plötzlich verstummte und sich alle zu ihr umdrehten, wünschte sie sich, sie könnte sich in ein Mauseloch verkriechen oder zumindest vom Erdboden verschluckt werden. Und wenn das nicht drin war, wieso zum Teufel konnte sie sich nicht einfach in Luft auflösen?
„Vittoria“, kam es aus vielen Mündern in noch mehr Tonlagen und Stimmungen, die von Überraschung über Entsetzen sogar bis hin zu Freude reichten. Wem sie eine davon zuordnen konnte, wusste sie allerdings noch nicht. Sie beschränkte sich in erster Linie darauf, einfach nicht in Ohnmacht zu fallen vor Scham.
Sie hatte ja auch unbedingt hierher kommen wollen, um endlich mal ein klärendes Gespräch zu führen. In diesem Augenblick erschien es ihr als die dümmste Idee auf der ganzen weiten Welt. Und weil sie sich eben nicht in Luft auflösen konnte drehte sie sich auf dem Absatz um und lief zurück Richtung Haustür.
Sie rechnete damit, dass die Gespräche wieder anschwollen, sobald sie die Küche betrat, als wäre sie gar nicht erst da gewesen; oder dass ihr Opa, der sie immer am liebsten gemocht hatte von all seinen Enkelkindern, zumindest noch mal nach ihr rufen würde, weil er sie bestimmt seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte; oder dass ihre Schwester ihr bereits ihre Jacke hinhielt, wenn sie im Hausflur an ihr vorbei kam. Oder vielleicht sogar mit allem gleichzeitig. Aber mit dem, was tatsächlich in den nächsten Stunden geschah, hätte sie nicht einmal gerechnet, wenn Nostradamus es ihr persönlich vorausgesagt hätte.
Die Türe, die Wohnzimmer und Flur miteinander verband, flog hinter ihr auf, bevor sie auch nur ansatzweise die Haustüre erreicht hätte, und ihre Mutter huschte hinter ihr her. Sie blieb in der Mitte des Flures auf dem bereits antik wirkenden Teppich stehen und sagte den Namen ihres jüngsten Kindes, als würde sie ihn nun zum ersten Mal in ihrem Leben aussprechen. Vittoria drehte sich um.
Mechanisch antwortete sie: „Si, mamma, che cosa?“[2] Karolina kam auf sie zu und wirkte dabei, als wüsste sie nicht so recht, was sie mit sich selbst anfangen sollte, doch als sie nur noch durch wenige Zentimeter Luft getrennt waren und Vittoria das gleiche Grün wie in ihren Augen erkannte, breitete ihre Mutter die Arme aus und schlang sie um den blassen, dünnen kleinen Körper ihrer jüngsten Tochter.
Vittoria schnappte verblüfft nach Luft. Das letzte Mal hatte ihre Mutter sie umarmt, da war sie sieben gewesen. Sie waren zusammen im Schwimmbad gewesen und Karolina hatte für ein paar Minuten geglaubt, ihre Tochter wäre ertrunken. Doch als sie sie wohlbehalten und friedlich ein Eis schleckend wieder gefunden hatte, war ihr ein Stein vom Herzen gefallen und sie hatte ganz vergessen, böse auf ihre Kleine zu sein, weil sie einfach weggelaufen war.
Vorsichtig löste Vittoria sich wieder aus der Umarmung und sah ihre Mutter skeptisch an. „Mama, was soll das?“, sagte sie. „Hast du im Fernsehen gesehen, dass ein Tsunami Neuseeland überflutet hat und gedacht, es hat mich auch erwischt?“
Da Karolina es nicht über sich brachte, mit der Sprache herauszurücken, griff Katarina ein. Sie nahm ihre kleine Schwester von hinten bei den Armen, führte sie zurück ins Esszimmer und sagte: „Vielleicht solltest du dich erst setzen.“ Ein ungutes Gefühl machte sich in Vittoria breit. Eines von der Sorte, dass sie das Vermögen eines reichen, bisher unbekannten Onkels geerbt hatte und ihre restliche Familie nun brüderlich mit ihr teilen wollte.
Als sie zurück im Esszimmer waren erhoben sich ihre Großeltern schwerfällig. Zuerst schloss ihre Oma sie in einen schraubstockartigen Klammergriff ein, der wohl eine liebevolle Umarmung sein sollte, dann drückte ihr Opa sie fest an sich. Beide waren fast einen halben Kopf kleiner als sie. „Mi fa piacere che sei qui“,[3] sagte Vittorio, ihr Großvater, nach dem sie benannt worden war, und streichelte ihr mit einer rauen Hand über die Wange. Dabei konnte sie ein verdächtiges Glitzern in seinem Augenwinkel sehen.
Langsam nahm sie in dem einzigen freien Stuhl Platz und sah vorsichtig in die Runde. „Okay“, sagte sie gedehnt, „mi puo di qualcuno che sta succedendo? Perché sono qui la nonna e il nonno?“[4]
„Eins nach dem anderen“, sagte George, ihr Stiefvater. Offenbar war sein Italienisch besser geworden. Doch er schien noch immer Schwierigkeiten mit der Aussprache zu haben, deswegen erklärte er ihr die Sachlage in Englisch. „Deine Großelter sind seit etwa einem Monat hier und sie werden auch noch ein wenig bleiben. Voraussichtlich zwei Monate“, fügte er mit einem Seitenblick auf Katarina hinzu. „Tja, und wie soll ich sagen, deine Oma ist ein sehr resoluter Mensch und dein Opa hat dich offenbar ziemlich gerne, obwohl du ihn schon seit fünf Jahren nicht mehr in Rom besucht hast…“ Er brach ab und sah Hilfe suchend zu seiner Frau, die ihre Hände bereits knetete, als würde sie lieber Brot backen.
Karolina seufzte einmal tief, sah noch einmal ihre Mutter an, die zwar kein Wort verstanden hatte, aber nur zu deutlich zu wissen schien, worüber gerade geredet wurde, erntete einen bösen Blick von ihr, schluckte und setzte schließlich zum Sprechen an. „Was George dir sagen will, was wir dir alle sagen wollen, ist: es tut uns leid.“
„Was?!“, rief Vittoria und erhob sich von ihrem Stuhl. Sofort griff ihr Großvater nach ihrem Arm und zog sie wieder zurück auf die Sitzfläche. Dabei schenkte er ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Hab ich ein Vermögen geerbt und ihr wollt euch jetzt bei mir einschleimen, damit ihr auch was davon abbekommt? Oder will Oma Ambra ihr Testament auf mich übertragen? Ist es das?“
Als Großmutter di Resta ihren Namen hörte, beugte sie sich zu ihrer Tochter hin und fragte, was Vittoria gesagt hatte. Doch Karolina winkte energisch ab. „Nein, so ist das nicht“, sagte sie stattdessen zu ihrer Tochter. „Mamma hat uns gründlich den Kopf gewaschen, als sie gehört hat, dass wir kaum noch miteinander sprechen, und gesagt, dass wir uns nicht wundern sollen, dass du nicht anrufst, während du am anderen Ende der Welt bist, wenn wir dich so behandeln.“
Die Skepsis in Vittoria wuchs schier ins Unermessliche. „Wie behandeln?“
„Wir haben Katarina immer vorgezogen, weil sie die Ältere war“, sagte Karolina und wirkte dabei, als würde sie zugeben müssen, dass die Franzosen besser kochten, als die Italiener. „Und als du von der Schule geflogen bist, haben wir dich aus dem Haus geworfen und du warst auf dich alleine gestellt. Wir haben dich nicht unterstützt, haben immer an dir gezweifelt und dir nie gesagt, dass du es schon schaffen wirst, sondern immer fest damit gerechnet, dass du eines Tages völlig pleite, verheult und mit zerrissenen Klamotten vor unserer Tür stehst und uns um Hilfe bittest.“
„Ich dachte, Papa hätte darauf bestanden, mich rauszuwerfen. Deswegen habt ihr euch doch getrennt.“ Vittoria sah ihre Mutter scharf an. Doch diese schüttelte nur wie in Zeitlupe den Kopf.
Und weil seine Frau nicht mehr weiter sprechen konnte, weil sie kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren und laut losweinen würde, ergriff George nun wieder das Wort. „Doch du hast es geschafft, ganz allein! Du hast dir eine eigene Existenz fern von deinem Elternhaus aufgebaut und besitzt sogar schon dein eigenes Haus mitten in London. Was für Eltern wären wir, wenn wir da nicht stolz auf dich wären?“
Schweigen herrschte nun in dem großen Zimmer. Niemand achtete auf das Fußballspiel, was auf dem Großbildfernseher im angrenzenden Wohnzimmer lief. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, wenn jemand eine dabei gehabt hätte. Und als es Oma Ambra zu bunt wurde, weil niemand etwas sagte, klatschte sie mit der flachen Hand auf den Tisch, was alle zusammen zucken ließ, und fragte: „Avete chiesto perdono, o no?“[5]
Karolina, aus ihrer Starre erlöst, wandte sich an ihre Mutter. „Si, mamma, abbiamo.“[6]
„Perché non dice niente?“,[7] fragte Opa Vittorio und sah seine Lieblingsenkelin durchdringend an. Vermutlich rechnete er nicht damit, dass sie unter Schock stand. Wie oft hatte Vittoria sich ausgemalt, ihren Eltern einmal die Meinung sagen zu können. Doch irgendwie hatte sie es nie über sich gebracht. Dass diese Erkenntnis nun von ganz alleine, oder eher gesagt mit Nachhilfe von ihren Großeltern kam, damit hätte sie nie gerechnet. Dementsprechend musste sie das Gesagte erst einmal verdauen. Sie schluckte schwer. „Und das meint ihr auch wirklich ernst?“ Ihre Mutter, ihr Stiefvater und ihre Schwester nickten synchron. „Ohne Hintergedanken, ohne doppelten Boden und ohne versteckte Fallen?“ Wieder einstimmiges Nicken.
Sie erhob sich abermals von ihrem Stuhl, starrte dabei auf die Tischplatte und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass ihre Knie so weich waren wie Butter, die man zu lange in der Sonne gelassen hatte. Sie hielt sich an der Kante der Familientafel fest und versuchte sich das Muster des Holzes einzuprägen um sich von der aufkeimenden Übelkeit abzulenken.
Tausend Gedanken rasten durch ihren Kopf, doch über allem schwebte laut kreischend das große Warum. Warum gerade jetzt? Warum nicht schon früher? Und warum hatte man sie erst mit der Nase darauf stoßen müssen? Warum waren sie nicht schon von alleine darauf gekommen, dass das Vorziehen eines der Kinder automatisch dazu führte, dass sich das andere vernachlässigt und sogar zeitweise gedemütigt fühlte? Warum…
Ihr Gedankengang brach ab. Sie konnte diese Fragen nicht beantworten. Und vermutlich würde ihr auch niemand in diesem Raum dabei helfen können, weil sie es alle selber nicht wussten. Es war nun einmal so geschehen und die Zeit ließ sich nicht zurück drehen. Das einzige, was Vittoria in diesem Moment machen konnte, war es zu akzeptieren. Es würde noch eine Zeit dauern, bis sie sich daran gewöhnte, aber vielleicht würde sich auch gar nicht so viel ändern. Doch auch mit dieser Vermutung sollte sie im Unrecht bleiben.
„Kleine“, sagte ihre Schwester in die Stille hinein und Vittoria sah zu ihr auf. „Ich möchte, dass du weißt, dass es mir auch leid tut. Ich hab dich um deine Entschlossenheit, wie du ein Ziel verfolgt hast, immer beneidet.“ Katarina lächelte ihre Schwester an, wie sie sie noch nie angelächelt hatte: wie eine große Schwester.
Vittoria lachte auf. „Und ich hab dich immer darum beneidet, wie du alle um den kleinen Finger gewickelt hast. Ein strahlendes Lächeln hier, ein Augenzwinkern da, und schon lagen dir alle zu Füßen. Oft hab ich mir gewünscht, dass ich das auch könnte. Aber neben dir hab ich immer wie eine graue Maus ausgesehen.“ Katarina kam um den Tisch herum und nahm sie nun auch in den Arm. Vittorias Knie gaben nach, doch das machte nichts. Ihre Schwester hielt sie. Und gemeinsam verdrückten sie eine Träne.
Ein wenig später hatte sich die angespannte Stimmung gelegt und alle saßen bei einem starken Espresso zusammen und redeten wild durcheinander. Vittoria erzählte allen davon, wie es in Neu Seeland und Prag gelaufen war und alle hörten ihr mit ehrlichem Interesse und gesunder Neugier zu. Ihre Großeltern berichteten davon, wie schön Rom in den letzten fünf Jahren geworden war und die Familie versprach, sie im Herbst alle zusammen besuchen zu kommen.
Und als die Männer sich endlich wieder ihrem Fußballspiel widmen konnten und Karolina und Oma Ambra in der Küche verschwunden waren, um das Mittagessen vorzubereiten, zog Katarina ihre kleine Schwester in den Garten hinaus. Die Stimmung war noch nicht wieder auf Normal Null, aber die schweren Gewitterwolken, die noch vor etwa zwei Stunden über allem geschwebt hatten, hatten sich mittlerweile zumindest in prall gefüllte Regenwolken verwandelt. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie sich wieder in diese Familie integriert hatte, mit der sie so lange ein distanziertes Verhältnis verbunden hatte? Nach einer Weile sagte Vittoria: „Ihr habt mir noch gar nicht gesagt, warum Oma und Opa jetzt hier sind. Ist das nur ein Höflichkeitsbesuch gewesen und ich kann froh sein, dass sie hier sind?“
Sie merkte, dass sich die Haltung ihrer Schwester plötzlich veränderte. Sie nahm ihre linke Hand in die rechte und wirkte ganz aufgeregt. „Das hab ich dir ja noch gar nicht erzählt.“
„Wie auch?“, sagte Vittoria sarkastisch und erntete für den etwas unangebrachten Kommentar einen frechen Rippenstoß. „Nein, ich habe die beiden eingeladen“, sagte die Ältere und beobachtete aufmerksam das Mienenspiel auf dem Gesicht der Jüngeren. Dabei fiel ihr auf, dass sie, wenn sie nur etwas mehr aus sich machen würde, wahrscheinlich sogar hübscher wäre, als sie selbst. Doch diesen Gedanken schob Katarina schnell bei Seite. Dazu war sie viel zu eitel.
Entschlossen hielt sie ihrer kleinen Schwester nun ihre linke Hand unter die Nase und drehte dabei ihre Finger hin und her. „Ich hab sie zu meiner Hochzeit eingeladen. Und du sollst meine erste Brautjungfer sein!“
Vittoria klappte die Kinnlade herunter, als sie das Feuerwerk am Ringfinger ihrer Schwester sah, und sie hatte zum zweiten Mal an diesem Tag das Bedürfnis, einfach in Ohnmacht zu fallen.
[1] Wer war an der Türe?
[2] Ja, Mama, was ist?
[3] Schön, dass du hier bist.
[4] Kann mir jetzt bitte jemand sagen, was hier los ist? Wieso sind Oma und Opa hier?
[5] Habt ihr euch nun bei ihr entschuldigt, oder nicht?
[6] Ja, Mama, haben wir.
[7] Wieso sagt sie dann nichts?