top of page

Kapitel 19

 

~ Purple Rain

 

I never meant to cause you any sorrow

I never meant to cause you any pain

I only wanted one time to see you laughing

 

Der Regen packte sie draußen mit eisiger Hand und der Wind, der von der Bucht her kam, drückte ihn durch den dünnen Stoff, den sie trug. In der Eile, aus diesem Haus ausbrechen zu wollen, hatte sie vergessen, ihre Jacke überzuziehen. So trug Joe nur eine dunkle Jeans, ein Paar schlichte schwarze Pumps und ein dünnes schwarzes Oberteil, was an den Schultern nur aus Spitze bestand.


Sie zitterte sofort am ganzen Körper und überlegte kurz, ob sie doch wieder hineingehen und sich ihre Jacke holen sollte. Doch sie hatte Angst zu klingeln, denn dann musste ihr jemand die Tür öffnen und würde sehen können, dass sie geweint hatte. Auch, wenn ihr Gesicht und ihre Haare mittlerweile eh völlig nass waren, konnte man doch an ihren geröteten Augen erkennen, dass nicht alles Wasser süß war.

Wie hatte sie nur in diese blöde Situation kommen können? Wieso hatte sie sich von Emily überreden lassen? Wenn sie zu Hause geblieben wäre, dann hätte sie nicht mitbekommen, wie sie alle über sie herzogen. Und nicht einmal Richard hatte sie verteidigt, der sich doch sonst so sehr um sie zu sorgen schien. Heute Abend hatte sich das ganz anders angehört. Mit ihm wollte sie nun noch weniger zu tun haben, als mit allen anderen. Was Graham wirklich über sie dachte, wusste sie nicht. Doch sie wollte es auch gar nicht mehr wissen. Das Beste würde sein, wenn sie mit Richard, ihrem Chef, sprach und ihn darum bat, wieder zurück zu WETA kommen zu dürfen. Das hier war eine reine Farce.

Entschlossen kehrte sie dem Haus von Aidan den Rücken zu und stapfte die Straße hinunter zur Küste. Zum Glück hatte sie wenigstens ihren Haustürschlüssel in der Tasche. So musste sie nicht auf der Veranda warten, dass Emily nach Hause kam. Die würde gemütlich mit dem Auto fahren können.

Joe seufzte gegen den Regen an. Eigentlich wollte sie Emily jetzt gar nicht sehen. Sie wollte niemanden sehen. Sie wollte Emily aus dem Haus werfen und ihr sagen, dass sie sie hasste, weil sie sie hierher geschleppt hatte. Sie wollte Richard sagen, dass sie ihn hasste, weil er sie nicht verteidigt hatte vor Dean, den sie auch hasste, weil er so gemein zu ihr war.

Am Anfang hatte er so nett gewirkt, schien sofort verstanden zu haben, was sie dachte, ohne dass sie es hatte aussprechen müssen. Doch in Wahrheit war er einfach nur genervt von ihrer Art.

Das konnte sie ihm, wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, noch nicht einmal verdenken. Vermutlich würde es ihr an seiner Stelle auch so gehen. So, wie sie ihn bisher einschätzen konnte, war er ein Mann, der ziemlich extrovertiert war und der sich auch gern mit Leuten seines Schlages abgab. Das waren eigentlich die meisten Schauspieler, wenn sie so darüber nachdachte. Zumindest die Schauspieler, die sie bisher kennengelernt hatte. Deswegen war es fast ein Wunder, dass sich Graham und Richard mit ihr hatten anfreunden wollen.

Von Freundschaft wollte sie bei Richard aber nun nicht mehr sprechen. Wütend schlang sie ihre Arme noch fester um ihre Oberkörper und beschleunigte ihren Gang. Das Wasser stand ihr mittlerweile in den Schuhen und quoll mit jedem Schritt oben heraus. Hoffentlich würde sie sich keine Erkältung einfangen.

Andererseits jedoch würde sie so am Montag nicht zur Arbeit müssen. Eine direkte Konfrontation mit einem von den gemeinen Kerlen würde sie mit Sicherheit nicht aushalten können. Wobei solch ein Zusammentreffen ohnehin nur nach demselben Muster ablaufen konnte: sie begegnete zum Beispiel Richard zufällig in der Kantine oder am Set; er würde sie ganz normal grüßen, weil er ja keine Ahnung hatte, dass sie alles gehört hatte; dann würde sie vermutlich sofort anfangen zu weinen und würde davonlaufen. Und entweder er ließ sie laufen, oder er rannte ihr hinterher. Sie fragte sich grade, was wohl davon schlimmer sein würde.

In Aidans Haus herrschte noch immer eine sehr ausgelassene Stimmung. Mittlerweile hatte der Regen alle bis auf Stephen, der noch immer den Grill bediente, ins Haus getrieben. Sie alle hatten es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht oder sich Stühle vom Esstisch her an den Couchtisch herangezogen. Aidan saß sogar auf dem Boden, hatte den Rücken an die Wand neben der Tür gelehnt, die in den Flur hinaus führte, und seinen Teller auf dem Schoß. Seine Finger waren klebrig von den Rippchen, die er verdrückt hatte, und seine Lippen glänzten von dem Fett.

Zufrieden betrachtete er seine Gäste. Graham war noch damit beschäftigt, die Knochen vom Fleisch zu lösen, während Dean, der neben ihm saß, ständig versuchte in einem unbeobachteten Moment etwas vom Teller des Schotten zu stehlen. Jed hatte seine Reste schon entsorgt und hantierte in der Küche herum, während Adam, Mark und Richard um das letzte Stück Brot stritten. Emily saß dazwischen, schaute sich amüsiert um und genoss es, die einzige Frau unter Männern zu sein.

Dann stutzte sie. Wo war denn nur Joe abgeblieben? Sie stellte ihren Teller auf den Couchtisch vor ihr, wischte sich die Hände an einer Serviette ab und stand auf. Verwirrt musste sie feststellen, dass Jed der einzige war, der sich in der Küche befand. Um sicher zu gehen ging sie kurz in den Flur, doch auch dort war niemand.

Sie warf einen Blick zurück ins Wohnzimmer, doch von den Jungs hatte scheinbar niemand etwas bemerkt. Daher nahm sie sich einfach das Recht heraus, nach oben zu gehen, und erklomm die Stufen.

Oben angekommen war alles dunkel und es herrschte Stille. Nur der Lärm von unten drang zu ihr herauf. „Joe?“, rief sie. „Bist du hier oben? Alles in Ordnung?“ Sie prüfte kurz, ob die Jacke ihrer Freundin noch an der Garderobe hing. Wo konnte sie nur stecken? Ohne Jacke wäre sie ja wohl kaum aus dem Haus gegangen. Oder?

Eine schlimme Vorahnung packte sie plötzlich und sie riss die Haustür auf. Sofort schlug ihr der Wind den Regen um die Ohren, doch sie ignorierte es. Angestrengt starrte sie in die Dunkelheit außerhalb der Straßenlaternen, konnte jedoch nichts erkennen. „JOE!“, schrie sie in die Nacht hinein, erhielt aber natürlich keine Antwort. Ein paar Mal rief sie noch, dann schloss sie die Tür wieder.

Hinter ihr tauchten Aidan, Graham und Richard auf. Alle drei hatten die Stirn in Falten gelegt. „Was ist passiert?“, fragte Richard. Man merkte ihm sofort an, dass er besorgt war. Auch Graham wirkte unruhig. Nur Aidan schien noch völlig entspannt zu sein. Seine Devise war es, sich erst aufzuregen, wenn man Grund dazu hatte.

Emily sah unsicher zu den dreien auf. Sie überragte sie alle um fast einen ganzen Kopf. Wie muss Joe sich wohl dabei fühlen?, fragte sie sich unbewusst. „Ich weiß es nicht“, sagte sie schließlich, nachdem sie gedanklich noch einmal alle Möglichkeiten durchgegangen war. Sie konnte sich absolut keinen Grund vorstellen, wieso ihre Freundin auf einmal abgehauen war. Es lief doch alles so gut.

Okay, sie hatte eigentlich hauptsächlich schweigend auf dem Barhocker gesessen und an ihrem Getränk genippt, wobei sie ein bisschen deplatziert gewirkt hatte. Aber das war doch noch lange kein Grund, ohne Jacke in den Regen zu rennen. Besonders nicht jetzt, wo der Herbst vor der Tür stand. Und jeder wusste, wie launisch das Wetter hier sein konnte, wenn es gerade wollte. Wenn sie tatsächlich auf dem Weg nach Hause war – und das war für Emily in diesem Moment die einzig logische Schlussfolgerung -, würde sie vermutlich erfrieren, bis sie dort war.

Aidan bemerkte Emilys seltsamen schuldigen Gesichtsausdruck als erster, sah die Jacke von Joe an der Garderobe hängen und zählte Eins und Eins zusammen. Seine Augen weiteten sich. „Sie ist doch nicht etwa…?“ Seine rechte Hand zeigte verdattert auf die Tür. Emily biss sich auf die Unterlippe und sagte kleinlaut: „Ich fürchte schon.“

„Was?“, machte Graham ungläubig. „Da draußen? Ohne Jacke? So leichtsinnig kann sie gar nicht sein. Ich wüsste auch gar nicht, wieso sie gehen sollte. Es war doch alles so nett. Oder hat jemand etwas zu ihr gesagt, was sie so verstört hat?“

Plötzlich fiel bei Richard der Groschen. Er wurde leicht blass um die Nase. „Oh nein!“, rief er aus. Dabei patschte er sich mit der rechten Hand an die Stirn.

„Was?!“, riefen die restlichen Drei gleichzeitig und drehten sich zu ihm um. Sechs Augen sahen ihn fragend an. Seine eigene Gemütslage wechselte beinahe sekündlich und ihm wurde ganz heiß und kalt bei dem Gedanken, dass Joe gehört haben könnte, was sie über sie gesagt hatten. Er konnte nur beten, dass dem nicht so war. Ein richtig schlechtes Gewissen überkam ihn und er verlor keine Zeit. Er schnappte sich seine Jacke vom Haken und warf sie sich über. Dann sah er Emily an. „Los, wir fahren!“

„WAS?!“ Wieder sahen ihn alle an. Emily fügte noch hinzu: „Wohin?“ Doch sie wusste selbst, wie überflüssig die Frage war.

„Wir suchen sie!“, antwortete Richard trotzdem. „Oder willst du sie dort draußen herumlaufen lassen? Ich erkläre dir alles unterwegs.“

„Und was machen wir?“ Aidan hob hilflos die Hände. Immerhin war das sein Haus und Joe war sein Gast. Irgendwie war er für sie verantwortlich. Oder zumindest fühlte er sich grade so. Doch Graham legte ihm sanft eine seiner großen Pranken auf den Arm und zog ihn wieder mit nach unten. „Wir kümmern uns um die anderen Gäste“, sagte der Schotte. Nur sehr widerwillig ging Aidan mit.

Er hörte, wie oben die Haustür auf- und zuging, als sie gerade wieder ins Wohnzimmer kamen. Jed lehnte auf dem Tresen. „Was passiert?“

Graham winkte ab. „Nein, nein, alles in Ordnung.“

Mark lachte schallend auf. „McTavish, du bist zwar ein guter Schauspieler, aber ein mieser Lügner.“ Dann wurde er unerwartet ernst. „Das ist irgendwie ein ziemlich großer Widerspruch in sich, oder täusche ich mich da?“

Bevor eine Diskussion entbrennen konnte, schaltete Adam sich ein. „Was ist denn nun passiert?“, fragte er ernsthaft neugierig. Seine dunkelbraunen Augen richteten sich auf Graham, doch der hatte nicht die Absicht zu sprechen. Er verschränkte nur die Arme vor der Brust und setzte sich wieder auf die Couch.

Auch Aidan hatte nicht vor, etwas von dem preiszugeben, was sich eben dort oben abgespielt hatte. Er wusste ja auch nur die Hälfte. Und er wollte auf gar keinen Fall, dass irgendwelche Gerüchte die Runde machten. Daher durchbrach er das unangenehme Schweigen mit der Frage nach mehr Essen, während er noch Deans Blick in seinem Rücken spürte, als er zu Jed in die Küche ging und den Nachtisch holte.

Draußen rannten Richard und Emily gedruckt zu seinem Wagen. Sie hatten sich die Jacken über die Köpfe gezogen, um wenigstens einigermaßen trocken zu bleiben, doch bei dem scharfen Wind hatte das wenig Sinn gehabt. Emily schauderte unter der Kälte, die sich sofort in ihren Armen und Beinen ausbreitete, und dachte mitleidig daran, dass Joe dort draußen ohne Jacke herumlief. Als hätte Richard ihre Gedanken gelesen, sagte er: „Ich habe im Kofferraum eine Notfalldecke. Die holen wir dann raus, wenn wir sie gefunden haben.“

Der Mietwagen, den er sich für die 18 Monate, die er hier verbringen würde, zugelegt hatte, war mit allem Nötigen ausgestattet. Bisher hatte er so etwas wie einen 1.-Hilfe-Kasten nie gebraucht, doch nun war er froh, dass er das hatte.

Er startete den Motor des Fords und fuhr los. „Wie ist die kürzeste Strecke zu eurem Haus?“, fragte er und fuhr links die Straße runter der Küste entgegen. Auf der rechten Seite erhob sich ein dicht bewachsener Hang, links standen Häuser. Mit jedem Meter schien die Straße schmaler zu werden und Richard hatte schon die Befürchtung, dass, wenn ihm ein größeres Fahrzeug entgegenkommen würde, er links auf den Bordstein würde ausweichen müssen. Doch bei dem Wetter wollte wohl niemand großartig vor die Tür gehen und so erreichten sie den größeren Teil der Straße. An der Kreuzung blieb er stehen. 

„Wohin jetzt?“

Emily dachte nach. Links runter ging es in die Tai Paku Paku Road, die allerdings für Autos in einer Sackgasse endete. Nur ein Fußgängerweg führte hinunter zur Küstenstraße. Joe konnte natürlich dort entlang gegangen sein, doch das nutzte ihnen in diesem Moment nicht viel, wenn sie am Ende ankamen, sie nicht gefunden hatten und wieder umdrehen mussten. Also sagte sie: „Geradeaus.“

Richard schaltete von P zurück auf D und löste die Bremse. Langsam rollte der Wagen vor, als Emily plötzlich rief: „Stopp!“

Erschrocken schnellte Richards rechtes Bein wieder auf das Bremspedal und der Wagen machen einen Ruck. Von hinten kam ein Hupen, doch das ignorierten beide in diesem Moment, denn er folgte nun Emilys Blick und spähte angestrengt durch die Windschutzscheibe in die Dunkelheit zwischen den Laternenpfählen. Nur sehr schemenhaft konnte er eine wankende Gestalt ausmachen, die die Arme fest um sich selbst geschlungen hatte. „Das ist sie!“ Seine Augen weiteten sich, als er es erkannte.

Schnell setzte er den Blinker links in die Tai Paku Paku und bog ab. Er pirschte sich beinahe an Joe heran, die gegen die Windböen anzukämpfen schien, völlig durchnässt und vermutlich auch halb erfroren. Dieser Anblick nahm ihn so sehr mit, dass er fast lieber die Augen davor verschlossen hätte und weggefahren wäre, weil er sich selbst zumindest teilweise die Schuld gab. Hätte er die Klappe gehalten, wäre das vermutlich gar nicht passiert.

Doch vielleicht war es auch gar nicht seine Schuld und sie hatte auf dem Handy nur einen sehr verstörenden Anruf erhalten. An diese Hoffnung klammerte er sich, als er auf gleicher Höhe mit der Designerin das Auto nur noch langsam vorwärts rollen ließ. Emily, die auf dem Beifahrersitz saß, ließ die Scheibe herunter und rief nach ihrer Freundin, die immer noch stur geradeaus auf dem Bürgersteig lief, das Auto völlig missachtend, was im Schritttempo neben ihr fuhr.

„Joe, Kleines“, rief Emily aus vollem Hals, „steig‘ bitte in den Wagen. Sonst erfrierst du uns noch.“

Natürlich hatte Joe sie bemerkt. Sie hatte sie an der Kreuzung halten sehen, als sie gerade aus einem Lichtkegel der Straßenlaternen in die Dunkelheit getreten war. Doch sie hatte keine große Lust sich mit dem auseinanderzusetzen, was nun auf sie zukommen würde. Besonders nicht, weil sie das Auto als Richards erkannt hatte. Wenn es etwas war, was sie wirklich gut konnte und was man von ihr am wenigstens erwartet hätte, dann Autos bei Dunkelheit an ihren Scheinwerfern oder Rücklichtern erkennen. Und ein fast neuen Ford Explorer fuhren nicht sehr viele Neuseeländer.

Beharrlich ging sie weiter, versuchte dabei nicht in die Richtung zu sehen, aus der die Stimmen kamen. Wenn sie nur bis zum Ende der Straße ging, mussten sie ohnehin aufgeben und sie alleine weiterlaufen lassen. Auch, wenn die Verlockung des beheizten Innenraumes nur allzu groß war, graute es Joe davor, Richard in die Augen sehen zu müssen. Lieber wäre sie von den Klippen gesprungen!

„Jetzt komm schon, Joe! Verdammt noch mal, du holst dir ja den Tod!“ Emily war verzweifelt. Sie konnte ihre Freundin doch nicht einfach so hier lassen.

Kurz überlegte sie, dann sagte sie: „Halt bitte an, Richard.“ Er tat verdutzt, wie ihm geheißen, und sobald der Wagen stand, sprang Emily raus, ging zum Kofferraum und holte die Decke heraus. Das war wenig hilfreich, denn sie beide waren sofort nass, doch das war in diesem Moment nicht wichtig. Sie rannte zu Joe, nachdem sie die Kofferraumklappe scheppernd zugeworfen hatte, und legte ihr die Decke um die Schultern.

Sobald der raue Stoff der Notfalldecke ihre Schultern berührte, sackte Joe auf die Knie. Emily konnte nicht mehr halten, ging jedoch mit nach unten auf den harten Untergrund und warf sich schützend über ihre kleine Freundin. Sofort spürte sie, wie Joes Schultern bebten, doch bei dem Wind und dem Regen war kaum auszumachen, ob sie weinte oder lachte. Sie warf einen hilfesuchenden Blick zu Richard, der sofort verstand, den Automatikhebel auf P stellte und sich abschnallte.

Ohne zu zögern packte er Joe unter, hob sie hoch als wöge sie nur so viel wie eine Feder und trug sie zum Auto. Emily eilte um ihn herum, um ihm die Tür zu öffnen, doch dann sah sie, wie Richard taumelte. Das Bündel in seinen Armen wirbelte auf seinen Armen herum und sie meinte zu hören, wie Joe zu zetern begann.

Joe selbst fand diese Situation gar nicht komisch. Wäre es dabei geblieben, dass Emily ins Auto geführt hätte, hätte sie das vielleicht mit sich machen lassen. Doch dass ausgerechnet Richard sie nun wie eine hilflose Jungfrau tragen musste, ging ihr gehörig gegen den Strich. Sie wollte sich von ihm nicht helfen, geschweige denn anfassen lassen. Sie wollte, dass er verschwand und nach England zurückging. Das war ihre Heimat und er hatte hier nichts zu suchen.

Alles das, was ihr gerade durch den Kopf ging, schleuderte sie ihm in ihrer Wut entgegen, versuchte dabei nach ihm zu treten oder sich seinen Armen zu entwinden. Doch je mehr sie sich wehrte, desto schraubstockartiger wurde sein Griff um ihre Schultern und Beine. Er klammerte sie fest, drückte sie dabei enger an seine Brust, was nur clever von ihm war, denn so bot er ihr weniger Angriffsfläche. Doch der erhöhte Körperkontakt sorgte nur dafür, dass Joe noch wütender wurde.

Als er es schließlich mit ihr zum Auto geschafft hatte, waren sie alle 3 bis auf die Knochen nass. Deswegen, und weil er mittlerweile selber gehörig die Nase voll hatte von ihrem Benehmen, ließ er sie ziemlich ungelenk auf die Rückbank plumpsen. Genervt schlug er die Tür hinter ihr zu als sie drin war, ging um das Auto herum und stieg wieder an. Als Emily ebenfalls wieder saß, fuhr er los.

Die weiteren fünf Minuten Fahrt verliefen in eisigem Schweigen. Niemand wagte zuerst das Wort an Joe zu richten und Joe dachte gar nicht daran, etwas zu sagen. Natürlich war sie froh aus Kälte und Regen herausgekommen zu sein, doch ihr Stolz verbot ihr, auch nur den Mund zu öffnen. Wenn sie auch nicht viel davon hatte, in diesem Moment wollte sie alles aufbringen, was noch von ihrer Würde übrig geblieben war.

Vor ihrem Haus angekommen hatte es – als würde ihre Heimat sie noch zusätzlich verhöhnen wollen – fast aufgehört zu regnen. Der Wind war noch immer scharf und schneidend, doch sie mussten nun nicht mehr rennen. Es hätte aber auch so nichts genützt, weil sie sowieso schon alle klatschnass waren.

Emily stieg als erste aus und öffnete auch ihrer Freundin die Tür. Die hatte sich fest in die kratzige Decke gewickelt und sich den Stoff über den Kopf gezogen, sodass niemand sehen konnte, was sie dachte. Ihr Gesicht lag im Dunkeln. Doch sie musste auch nichts sehen. Sie würde den Weg zur Haustür auch blind finden.

Immer noch schweigend schloss Joe schließlich auf, stapfte ins Haus und hinterließ dabei kleine Pfützen, wohin sie auch ging. Ihr Weg führte sie gleich nach oben ins Badezimmer, wo sie augenblickblick das Wasser in ihrer Badewanne aufdrehte. Sie musste sich jetzt dringend aufwärmen, sonst würde sie sich wirklich den Tod holen. Und das musste sie um jeden Preis verhindern.

Die Schneiderin beobachtete stumm, wie die ihre Mitbewohnerin die Treppe nach oben erklomm. Unschlüssig blickte sie zum Wagen zurück, in dem Richard noch immer hinterm Steuer saß. Auch er schien sich nicht sicher zu sein, was er nun tun sollte. Es war immerhin sehr deutlich gewesen, was Joe von ihm hielt. Und er konnte es ihr nicht einmal verdenken. Daher winkte er Emily nur kurz, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr ohne ein weiteres Wort zu sagen davon.

Er würde auch nicht wieder zurück zu Aidan fahren. Er konnte ihm oder Graham gleich eine SMS schreiben, dass Joe sicher zu Hause angekommen war. Doch mehr Gesellschaft würde er heute Abend nicht mehr ertragen können. Dafür hatte er ein zu schlechtes Gewissen.

Wieso nur musste er immer so pflichtbewusst sein? Es könnte ihm auch einfach egal sein, was gerade passiert war. Immerhin war Joe alt genug, dass sie auf sich selbst aufpassen konnte. Wieso nur hatte er dieses verdammte Bedürfnis sie so dringend beschützen zu wollen? Er kannte sie ja kaum. Doch jedes Mal, wenn er ihr in ihre traurigen grünen Augen blickte, verspürte er einen leichten Stich im Herzen und er wollte sie einfach nur in den Arm nehmen und alles Übel der Welt von ihr fernhalten. Wie die Tochter, die er niemals hatte.

Er versuchte mit einem heftigen Kopfschütteln diesen seltsamen Gedanken loszuwerden, doch es gelang ihm nicht. Auch, als er später bei sich zu Hause im Bett lag, musste er noch daran denken. War es wirklich, weil er sich wie ein Vater in ihrer Gegenwart fühlte? Oder bildete er sich das ein? Oder weckten ihre großen Augen, die blonden Haare und die geringe Körpergröße einen uralten Instinkt in ihm?

Falls das der Fall sein sollte, musste er dem dringend entgegenwirken. Sonst würde er sie nachher noch zum Altar führen, sollte sie denn jemals einen Mann finden, der hinter all diese Schüchternheit blicken konnte.

In der heißen Badewanne taute Joe bald wieder auf. Sie hatte sich kurzerhand einfach komplett mit Klamotten hineingelegt, die sie nun nach und nach auszog und gezielt in die offene Dusche warf, wo sie in Ruhe abtropfen konnten. Sie ließ immer noch mehr warmes Wasser zulaufen und kippte Badezusatz hinein, bis sie fast unter einer Schaumhaube verschwand. In diesem Moment betrat Emily das Bad.

Sie klopfte leise, wartete aber nicht darauf, dass Joe sie wegschickte, sondern trat einfach ein. Sie hatte ihre Freundin so viele Nerven gekostet, jetzt war es an der Zeit, etwas von dem zurückzugeben, was sie vorher für sie getan hatte. Sie wusste zwar immer noch nicht, was passiert war, doch das musste sie auch gar nicht wissen.

Vorsichtig setzte sie sich auf den Rand der Wanne und suchte in all dem weißen Zeug nach ihrer Freundin. Als sie Joes Kopf freigelegt hatte, strich sie ihr zärtlich über das nasse Haar. „Möchtest du darüber reden?“

Ein lahmes Kopfschütteln war die Antwort. Damit hatte sie gerechnet. Doch das war auch okay so. Sie sollte selber entscheiden, wenn sie soweit war, es ihr zu erzählen.

Daher fragte sie: „Möchtest du etwas essen?“

Doch auch diese Frage verneinte Joe mit einem Kopfschütteln. Also erhob sich Emily wieder und ging langsam zur Tür. Dort angekommen drehte sie sich noch einmal um. Aber Joe war nicht mehr zu sehen. Eine neue Wolke hatte sich vor ihr aufgetürmt und so konnte Emily nicht mehr sehen, wie neue Tränen ihre Wangen hinab in das heiße Wasser flossen.

© by LilórienSilme 2015

  • facebook-square
  • Instagram schwarzes Quadrat
  • Twitter schwarzes Quadrat
bottom of page