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Kapitel 18

 

~ For all Brothers

 

Während für Anna eine große Wiedersehensparty von ihren Freunden geschmissen wurde, Georgie einen schönen gemütlichen Abend mit ihren Eltern und ihren beiden Schwestern verbrachte, Skandar mit seinen Freunden in London feiern ging und Will von seiner Familie mit einem Essen in seiner Wohnung überrascht wurde, kehrte Vittoria in ein leeres Haus zurück. Als sie die Tasche in der Diele erschöpft auf den Boden fallen ließ, kam es ihr beinahe so vor, als würde das gedämpfte Geräusch selbst noch bis ins Dachgeschoss zu hören sein und von den Wänden widerhallen.

 

Es roch nach abgestandener Luft und Staub und alle Räume waren dunkel. Sie machte sich nicht die Mühe, die Lichter anzuschalten, denn schließlich wusste sie, wo alles war. Und so machte sie sich auf den Weg zum Küchenschrank, nahm eine Flasche Wein und ein Glas heraus und setzte sich damit auf die Couch im Wohnzimmer. Lustlos zappte sie durch die Kanäle, konnte aber nichts finden, was sie von ihren sich drehenden Gedanken ablenkte. Also schaltete sie den Fernseher wieder aus, nahm noch einen kräftigen Schluck und ging schließlich ins Bett.

 

Schlaf fand sie jedoch in dieser Nacht nicht. Sie wachte ständig auf, weil sie dachte, ein Geräusch gehört zu haben, doch als alles still blieb, begriff sie, dass sie nicht von irgendwelchem Lärm, sondern von der Lautlosigkeit aufgewacht war. Sie fühlte sich einsam und irgendwie leer, als würde ihr etwas fehlen. Dabei sollte sie doch eigentlich glücklich sein, dass es nun zu Ende war und sie sich wieder voll und ganz auf ihren Job als Drehbuchautorin konzentrieren konnte, anstatt ständig von jemandem nach ihrer Meinung gefragt zu werden. Aber sie war es nicht.

 

Am Morgen dachte sie kurz daran, ihre Mutter anzurufen und ihr zu sagen, dass sie wieder im Lande war, doch sie schaffte es nicht einmal die Nummer zu wählen. Was sollte sie ihr sagen? Sie hatten seit ein paar Monaten nicht mehr miteinander geredet. Sie hatte sich nicht ein einziges Mal bei ihr gemeldet, als sie am anderen Ende der Welt war. Wenn sie jetzt anrief, wäre Karolina sicher gekränkt und würde zu einer Einladung zum Essen bestimmt nicht zusagen. Sie würde persönlich hinfahren müssen, wenn sie wollte, dass ihre Mutter nicht einfach auflegte.

 

Katarina würde sie sicherlich nicht sagen, dass sie wieder da war. Ihre große Schwester war garantiert viel zu beschäftigt mit ihrem perfekten Leben. Und dem Gespräch mit Meg wollte sie lieber aus dem Weg gehen. Dafür war sie noch nicht gewappnet genug. Um sich dafür zu rüsten wären sicherlich noch drei weitere Flaschen Rotwein nötig.

 

Sie entschied sich schließlich dazu einfach joggen zu gehen und den Kopf frei zu bekommen. Danach würde sie Jim anrufen und sich mit Arbeit zudecken, bis sie bereit dazu war, ihrer besten Freundin und ihrer Familie gegenüber zu treten.

 

Und während Vittoria gegen die Einsamkeit in ihren Vier Wänden ankämpfte, schlenderte Ben unruhig durch die Straßen von Soho. Er hatte London vermisst. Heute schien es ihm fast, als würde die Stadt ihn begrüßen, denn es nieselte und ein leichter Dunst lag über den Dächern, wie er es kannte und liebte. Durch die Gassen liefen Einheimische und Touristen, um ihrem Ziel, sich zu vergnügen oder ein Museum zu besuchen, entgegen zu streben. Er jedoch hatte kein Ziel.

 

Als es langsam dunkel wurde, kehrte er in seine Wohnung zurück. Verträumt stand er am Fenster und blickte sich um. Neu Seeland und auch Prag waren wunderschön gewesen und die Zeit dort hatte er sehr genossen. Und obwohl er auf eine seltsame Art froh war zu Hause zu sein, wünschte er sich, dass er, wenn er aufwachen würde, wieder am Set war und Andrew ihm Anweisungen gab.

 

Die ersten Tage drückte er sich darum, den Koffer auszupacken, weil es etwas so Endgültiges hätte. Doch bald schon schien er ihn anzuschreien, also steckte er kurzerhand alles in die Waschmaschine und lauschte auf das stetige Rumpeln, während er versuchte, ein Buch zu lesen. Als er jedoch merkte, dass er denselben Satz bereits zum fünften Mal las, warf er es in die Ecke und erhob sich genervt aus seinem Lieblingssessel. Er fuhr sich durch die Haare, die mittlerweile auch ohne die Extentions lang genug geworden waren, und lief unruhig von einem Zimmer ins andere.

 

Weil er nicht wusste, was er nun mit sich anfangen sollte, begann er seine Kommode auszuräumen. Vielleicht würde er ja dadurch ein wenig auf andere Gedanken kommen, wenn er sich von altem Schrott trennte, den er aus sentimentalen Gründen schon viel zu lange aufgehoben hatte.

 

Dass ihn dadurch aber die Vergangenheit einholte, damit hatte er nicht gerechnet. In der untersten Schublade schließlich, als sich der Müllberg in einer Ecke bereits aufzutürmen begann, fand er ein altes, beinahe schon kaputtes Foto. Es war vor ein paar Jahren aufgenommen worden, als er gerade sein Studium begonnen hatte, und es zeigte ihn, seinen Bruder Jack und Cassandra. Er selbst zog eine Grimasse, was Cassandra dazu animiert hatte, ihn tadelnd anzublicken, während Jack einen leicht verträumten Ausdruck in den Augen hatte und die damalige Freundin seines Bruders beinahe schon sehnsüchtig ansah. Damals schon hätte er merken müssen, wie sehr Jack sie gemocht hatte, aber aus irgendwelchen Gründen, vermutlich weil er sein Bruder war, hatte er es einfach ignoriert.

 

Vielleicht war es Zeit zu reden, dachte er, als er das Foto weiter betrachtete. Ob Jack mittlerweile genug Abstand zwischen sich und die ganze Geschichte gebracht hatte, oder ob es noch eine alte Wunde aufreißen würde, wenn er ihn jetzt darauf ansprach? Dass Cassandra und er sich eine Pause gönnten hatte er keine Sekunde lange geglaubt. Er hatte gewusst, dass an ihrer Geschichte etwas faul war, und trotzdem hatte er sie mit in sein Hotelzimmer genommen. Wahrscheinlich um sich selbst etwas zu beweisen. Doch für ihn war jetzt die Zeit gekommen, zu Kreuze zu kriechen.

 

Entschlossen griff er zum Handy und wählte aus dem Telefonbuch die Nummer seines Bruders aus. Es klingelte ein paar Mal, dann ging die Mailbox ran. Verwirrt legte Ben wieder auf. Das kannte er von Jack gar nicht, dass er nicht abnahm. Normalerweise freute er sich immer, wenn Ben anrief. Aber vielleicht war das auch nur die gerechte Strafe dafür, dass sich eine Frau hatte zwischen sie stellen können.

 

Also legte er das Telefon wieder bei Seite, nahm sich eine Mülltüte aus der Küche und schaufelte die alten Sachen hinein. Als er vor der Tür stand, überlegte er kurz, dann zog er sich doch Schuhe und Jacke an, griff nach dem Schlüssel und zog die Haustür hinter sich zu. Unten warf er den Müllsack in die Tonne, stellte seinen Kragen hoch und machte sich auf, einen weiteren ziellosen Weg durch die Straßen Londons anzutreten.

 

Als ein Mädchen in seinem Alter die Straßenseite wechselte und auf ihn zukam, zuckte er kurz zusammen. Doch als sie an ihm vorbei ging und er wusste, dass das Lächeln nicht ihm galt, schüttelte er den Kopf. Sein Gesicht war noch nicht so bekannt, dass man ihn auf offener Straße hätte erkennen können. Noch zierten keine Plakate die Straßen oder die Kinos. Noch war er nichts Besonders. Das mochte sich vielleicht ändern, wenn der Film in ein paar Monaten anlief und sein Gesicht die Titelblätter von Zeitschriften zierte. Doch vielleicht würde sich auch nichts ändern und alles würde so bleiben wie bisher.

 

Als er irgendwann keine Lust mehr hatte weiterzugehen, blickte er auf und stellte fest, dass seine Schritte ihn zum Hyde Park geführt hatten. Verwirrt sah er sich um und kam zu dem Schluss, dass er eine ganze Weile gegangen sein musste. Er überquerte die Straße, lief an dem spanischen Pavillon vorbei und kam schließlich zur Peter Pan-Statue. Eine Weile betrachtete er das seltsame Kunststück und dachte darüber nach, wie er sich wohl fühlen würde, wenn er nie erwachsen geworden wäre. Vermutlich würde er immer noch mit seinem Bruder durch den Garten jagen und Cowboy und Indianer spielen, sich die Häuptlingstochter zur Frau nehmen, die er kurz vorher vor einem wilden Bären gerettet hatte, und einen neuen Stamm gründen.

 

Jack war schon immer lieber der Cowboy gewesen. Er jedoch hatte es geliebt, sich in der hintersten Ecke des Gartens ein Wigwam zu bauen und dort den ganzen Sommer zu verbringen. Wenn seine Mutter nicht ab und zu ein Machtwort gesprochen hätte, wäre er nur zu den Essenszeiten hinein ins Haus gekommen.

 

Seufzend drehte er sich zum Wasser um. Es hatte nicht einmal entfernte Ähnlichkeit mit dem Wasser, was er in Prag bewundert hatte. Erneut griff er zum Handy und wählte. Dieses Mal jedoch hob sein Bruder bereits nach dem zweiten Klingeln ab. „Hallo Häuptling“, sagte Jack.

 

„Na, kleiner Cowboy“, erwiderte Ben und stockte. Er wusste nicht so recht, was er sagen sollte, doch er wusste, dass er etwas sagen musste. Kurz biss er sich auf die Zunge. Dann nahm er all seinen Mut zusammen. „Können wir reden?“

 

Nicht nur Vittoria hatte in London etwas unfertig zurück gelassen. Auch Ben hatte einen kleinen Zwist mit seiner Familie gehabt, kurz bevor er nach Neu Seeland geflogen war. Seine Mutter hatte ihm eine ordentliche Standpauke gehalten, wieso er und Jack nicht endlich wieder vernünftig miteinander umgingen, wo das alles doch schon so lange her war. Die Zeit war jedoch in Tricias Augen ziemlich dehnbar. Es war für sie lange her, wenn die Situation für sie bereits unerträglich wurde. Und nicht genug Zeit war ihrer Meinung nach vergangen, wenn ihre Kinder für etwas zu büßen hatten. Normale Maßstäbe ließen sich da also nicht anlegen.

 

Als Ben jedoch im Starbucks an der St. Paul’s Cathedral darauf wartete, dass Jack erschien, schien er zu verstehen, wie seine Mutter die Zeit sah. Wenn er an seinem Kaffee nippte und kurz darauf wieder auf die Uhr sah, hatte sich der Minutenzeiger nicht beweget und der Sekundenzeiger war scheinbar nur zehn Felder weiter gewandert. Irgendwann, nachdem er nicht mal die Hälfte seines Getränks ausgetrunken hatte, schob er die große weiße Tasse weit von sich, denn er spürte, wie das Koffein ihm bereits auf den Magen zu schlagen begann. Vermutlich bildete er sich das nur ein, weil er so nervös war, aber er wollte lieber auf Nummer sicher gehen.

 

Nach einer schieren Ewigkeit, in der der Kaffee nicht einmal lauwarm geworden war, sondern immer noch dampfte, öffnete sich endlich die Türe und sein Bruder trat ein. Er erblickte Ben sofort in der hintersten Ecke und steuerte auf ihn zu. Auf halbem Weg besann er sich, kehrte zur Theke zurück, bestellte etwas und kam dann doch zu ihm herüber. Sie begrüßten sich nur mit einem Kopfnicken, dann ließ Jack sich, nachdem er Mantel und Schal ausgezogen hatte, auf dem Stuhl gegenüber nieder.

 

Zu dieser Zeit herrschte noch nicht viel Betrieb hier, denn die meisten Berufstätigen waren noch auf der Arbeit und die Studenten noch in ihren Vorlesungen. Daher hatte Ben ohne Probleme einen Tisch ergattern können, was sonst an ein Ding der Unmöglichkeit grenzte. Jetzt jedoch wünschte er sich, er hätte keinen bekommen und sie müssten mit ihren Kaffeebechern bewaffnet durch die Straßen gehen. Das hätte ihn wenigstens etwas ablenken können, wenn es nicht gerade viel Gesprächsstoff gab. So aber blieb ihnen nichts anderes übrig, als entweder zu trinken, miteinander zu sprechen oder sich anzuschweigen.

 

„Seit wann bist du wieder da?“, fragte Jack und begann damit das Gespräch, vor dem sich beide fürchteten, aber zu stolz waren, es zuzugeben. „Seit vier Tagen“, antwortete Ben, „glaube ich.“

 

Jack grinste. „Du glaubst?“ Da war es wieder, das jungenhafte Lächeln, um was er seinen jüngeren Bruder immer so beneidet hatte. Hätte er um die Wirkung gewusst, wären ihm die Mädchen vermutlich schon in der Grundschule scharenweise hinterher gelaufen.

 

Ben lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Die angespannte Atmosphäre hatte sich plötzlich gelockert. Sollten sie jetzt noch in Streit geraten, wäre dieser so schnell vergessen, wie er kommen würde. „Weißt du“, sagte er und erwiderte das Grinsen, „mit der Zeit ist es so eine Sache. Sie verfliegt, wenn man glücklich ist. Aber wenn man einsam ist, scheint sie sich zu dehnen wie ungenießbares Kaugummi.“

 

„Du viel gelernt hast, junger Padawan“, sagte Jack und faltete dabei seine Hände vor der Brust. „Meisterin Tricia dich viel hat gelehrt. Du selbst nun Unterricht erteilen kannst.“

 

„Diese Entscheidung wollen wir doch lieber dem Rat überlassen.“ Beide brachen in schallendes Gelächter aus, als sie sich gleichzeitig vorstellten, wie ihre Mutter wohl mit einem Lichtschwert den sonntäglichen Kuchen zerteilte. Doch sie wurden auch schnell wieder ernst.

 

Ben zögerte kurz, rutschte unbehaglich auf die Stuhlkante vor. „Kannst du mir verzeihen?“, fragte er schließlich und sah Jack tief in die Augen. Wieso war ihm eigentlich nie aufgefallen, wie ähnlich sie sich beide waren? Und schon alleine weil er die Antwort genau kannte, hätte er die Frage eigentlich überhaupt nicht stellen sollen.

 

Jack spielte unsicher mit einem Rührstäbchen aus Holz, bis es schließlich brach. Erst dann sah er Ben wieder an. „Morgen ist Sonntag“, sagte er. „Mom wird kochen. Du kommst doch?“

 

Sie tranken noch in aller Ruhe ihren Kaffee aus, dann verabschiedeten sie sich voneinander. Als wären ihm tonnenweise Steine von den Schultern genommen worden trat Ben schließlich hinaus auf die mittlerweile wieder reichlich bevölkerten Straßen. Ohne große Umwege ging er zur nächsten Tube-Station und nahm die Central Line nach Hause.

 

Am nächsten Tag war er schon viel zu früh wieder wach. Es war noch nicht richtig hell, aber einschlafen konnte er beim besten Willen nicht mehr. Also stand er auf und machte sich einen Kaffee. Er schaltete den Fernseher an und sah sich halbherzig Cartoons an, die für Kinder gemacht waren, dessen Eltern um diese Uhrzeit noch tief im Land der Träume wandelten. Nebenbei aß er ein kleines Frühstück, weil er genau wusste, dass, obwohl seine Mutter nicht fest mit ihm rechnete, sie doch für ihn mitkochen würde. Vielleicht hatte Jack ihnen auch gestern Abend schon erzählt, dass sie sich getroffen hatten. In jedem Fall wäre ein ausgiebiges Frühstück aber zu viel gewesen.

 

Irgendwann so gegen zehn stieg er unter die Dusche. Als er sich die Haare wusch, stellte er fest, dass sie wirklich lang geworden waren. Aber als er sich wenig später im Spiegel betrachtete, gefiel ihm der Schnitt gar nicht schlecht. Tricia würde vermutlich sofort die Schere herausholen wollen um ihm eine anständige Frisur zu verpassen, aber er mochte den neuen Look. Kaspian hatte Geschmack.

 

Bevor er das Haus verließ rief er noch seine Emails ab. Sein Postfach quoll beinahe über von neuen Drehbüchern und am liebsten hätte er einfach alle angeklickt und sie in den Papierkorb befördert. Aber er wusste genau, dass er mächtigen Ärger bekommen würde, wenn er das noch mal machte. Seine Agentin würde nicht einmal zehn Minuten vom anderen Stadtende bis hierher brauchen um ihm die Ohren lang zu ziehen. Wenn er den Angriff seiner Mutter überlebt hatte, würde er sich wieder an die Arbeit machen müssen.

 

Die Fahrt nach High Gate dauerte nicht halb so lange wie er gehofft hatte. Wieder kam ihm dieses seltsame Gefüge der Zeit in den Weg, stellte er verärgert fest, als er nach draußen in den Regen trat. Er spannte den Regenschirm auf und wandte sich nach rechts in Richtung der viktorianischen Wohnhäuser.

 

Als er vor dem Haus seiner Eltern stand, in dem er seine Kindheit verbracht hatte, breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus. Sein Vater hatte erst vor kurzem den Zaun neu gestrichen, welcher jetzt in einem dunklen Grün schimmerte. Die Fensterläden, in demselben Grün gestrichen, standen weit offen und luden praktisch jeden ein, hereinzutreten. Der rote Backstein war dunkel verfärbt durch den Regen und hinter den weißen Fenstern brannte Licht. Ohne zu zögern klingelte er.

 

Die aufgeregte Stimme seiner Mutter erklang hinter der Tür. „…erwarten wir Besuch?“, rief sie und öffnete. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. „Hi Mom“, sagte Ben und umarmte seine Mutter, die ihn immer noch verdutzt ansah.

 

„Benjamin, seit wann bist du wieder in London?“, fragte sie und machte ihm endlich Platz, sodass er ins Haus treten konnte. Im Flur schüttelte er kurz den Regenschirm aus und dann sich selbst, hängte seinen Mantel in aller Ruhe auf einen Haken, sodass er abtropfen konnte, und wandte sich schließlich wieder an seine Mutter. Sie trug ein blaues Kleid und eine weiße Schürze darüber und hatte ein wenig Mehl auf der Wange. Genau auf den weißen Punkt drückte er jetzt einen dicken Kuss.

 

Mittlerweile war auch sein Vater in den Flur gekommen, als Tricia nicht wieder in die Küche kam. Thomas schloss seinen Ältesten sofort in die Arme, gab ihm einen Klaps auf die Schulter und führte ihn dann in die Küche.

 

Hier bot sich ihm der übliche Anblick: auf dem Herd waren alle Platten mit Töpfen belegt, der Kühlschrank stand weit offen, sodass er sehen konnte, dass er fast leer war, und im Backofen stand der gusseiserne Bräter mit einem wohl riechenden Inhalt. Über allem lag ein leicht mehliger Dunst und auf dem Küchentisch konnte er sehen, dass seine Mutter fast fertig war mit dem Kuchen.

 

„Nun lass den Jungen doch erst einmal Platz nehmen, Mutter“, sagte Thomas und drückte Ben auf einen Stuhl. Er ließ alles über sich ergehen, froh wieder zu Hause zu sein.

 

Wenig später nahmen sie alle vier am Tisch im Esszimmer platz, der sich bereits unter den vielen Töpfen, Pfannen und Tellern zu biegen begann. Doch alles duftete herrlich köstlich und kaum hatten sie gemeinsam das Tischgebet gesprochen stürzten sich alle auf ihre großzügigen Portionen.

 

Als sie den ersten Hunger gesättigt hatten, begann Ben von den Dreharbeiten zu erzählen. Auf das Drängen seiner Mutter hin beschrieb er die Landschaft von Neu Seeland ziemlich genau und weckte damit in ihr die Sehnsucht, dieses Land auch einmal zu bereisen.

 

„Hast du eigentlich auch Edoras gesehen?“, fragte Jack, als sie bereits beim Nachtisch waren. Er war ein großer Fan der Mittelerde-Triologie. Doch Ben schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, „nur Vittoria hat sich wohl die Drehorte ansehen können, bevor wir alle eintrafen.“

 

Bei der Erwähnung ihres Namens musste er daran denken, dass er immer noch im Besitz ihres Handys war. Doch da er bisher noch keinerlei Drohbriefe erhalten hatte und sie sich auch nicht darüber beschwert hatte, dass es ihr fehlte, ging er davon aus, dass sie es nicht wiederhaben wollte. Wieso er es bisher allerdings noch nicht weggeworfen hatte, wusste er nicht. Er beschloss es zu entsorgen, sobald er Zeit dafür finden würde.

 

„Wer ist Vittoria?“, fragte sein Vater interessiert. „Hast du sie dort kennen gelernt? Ist sie hübsch?“

 

Ben wehrte lachend ab. „Um Gottes Willen, Paps“, rief er, „ich würde diese Frau nicht mal zu einem Kaffee einladen, wenn sie der letzte Mensch auf Erden wäre. So eine giftige Person wie die ist mir bisher noch nie über den Weg gelaufen.“

 

Thomas verpasste seinem Jüngsten im Vorbeigehen einen Rippenstoß und flüsterte ihm augenzwinkernd zu: „Scheint, als hat er die Kleine ziemlich gern.“ Jack verkniff sich mühevoll ein Lachen, was er als Husten tarnte, und versteckte sein Gesicht schnell hinter einer Serviette. Doch Ben hatte es trotzdem gesehen. „Was gibt es denn da bitteschön zu lachen?“, rief er und warf eine Kartoffel nach seinem jüngeren Bruder.

 

Jack konnte sich gerade noch unter dem Wurfgeschoss wegducken. Doch das bewirkte nur, dass Tricia empört aufschrie und beide aus dem Esszimmer verbannte.

 

Den Rest des Tages verbrachten die Männer damit Sport zu gucken, während Tricia die Küche aufräumte und ab und zu ein abfälliges Wort über das respektlose Verhalten ihr gegenüber ins Wohnzimmer rief. Zum Abschied nahm Ben seine Mutter fest in den Arm und versprach ihr, nächsten Sonntag wieder zum Essen vorbei zu kommen. Und falls sie es bis dahin nicht aushielt, ihren Ältesten zu sehen, war sie herzlich eingeladen, in seiner Wohnung vorbei zu kommen und ein bisschen gute Hausmannskost mitzubringen.

 

Während er den kleinen Hügel zur Tube-Station wieder herunter stieg und die Dämmerung bereits zur Nacht wurde, dachte er lächelnd an den Tag zurück. Was für ein armer Mensch musste das sein, der nicht eine solche Familie hatte, die ihm hin und wieder ein bisschen Liebe entgegen brachte und ihn auf den Boden der Tatsachen zurück holte, sollte er doch einmal den Blick für das Wesentliche verloren haben. Dieser jemand musste sich schrecklich einsam fühlen.

© by LilórienSilme 2015

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