LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 18
~ Hallo Fremder
Empört blickte meine Tochter den Fremden an. Sie hielt weiterhin die Arme vor der Brust verschränkt, sah ihn aber mit einem trotzigen Gesichtsausdruck an. „Ist es deine Art, einer Damen so nachzustellen?“, fragte sie kühl und musterte ihn, wie er ganz durchnässt vor ihr stand. Unter dem Hemd, welches an ihm klebte, konnte sie seine kräftigen Oberarme erkennen. Hätte sie ihn nicht überrascht, wäre es ihr sicher nicht möglich gewesen, sich gegen ihn zu wehren, schoss es ihr durch den Kopf.
Sahîrim jedoch betrachtete sie ungeniert von oben herab. „Zeig mir eine Dame und ich sage dir, wie ich reagieren würde.“ Wütend wollte sie erneut auf ihn losgehen und ihm einen Schlag in sein freches Gesicht verpassen, doch er fing ihre zierliche Hand mit Leichtigkeit ab und zog sie dadurch nur näher an sich heran.
Sofort schoss ihr die Röte ins Gesicht und sie versuchte sich zu befreien, doch seine Hand lag fest um ihr Handgelenkt. „Eine Dame würde sich nie völlig unbekleidet in der Öffentlichkeit zeigen“, flüsterte er ihr zu und sein Atem streifte dabei ihr Gesicht. Urplötzlich ließ er sie los und sie wäre beinahe wieder ins Wasser gefallen, konnte sich aber noch fangen. Er drehte ihr mit einem überheblichen Schnauben den Rücken zu und gab ihr dadurch Gelegenheit, ihre Sachen wieder anzuziehen.
Als sie wieder bekleidet war, drehte er sich zu ihr um. „Also?“, fragte er.
„Also, was?“, fragte sie zurück und verschränkte die Arme erneut vor der Brust. Er lächelte sie an, denn irgendetwas an ihr gefiel ihm. Was das war, wusste er jedoch noch nicht. „Wie ist dein Name?“, wiederholte er die Frage, die er ihr zuvor gestellt hatte. „Woher stammst du? Und wie kommt es, dass du hier draußen ganz alleine ohne Schutz und ohne Waffen durch die Gegen streifst?“
Nefertirî überlegte kurz, wie viel sie ihm erzählen konnte. Immerhin kannte sie ihn nicht. Sein Gesicht kam ihr nicht bekannt vor und auch seine Stimme hatte sie noch nie vernommen. Entweder war er ein Einzelgänger aus den Ebenen, wie es sie laut Erzählungen einmal gegeben hatte. Oder er war erst kürzlich aus dem Osten hierher in den Westen gekommen. Diese Möglichkeit schloss sie für sich jedoch aus, da ich ihr bereits als Kind erzählt hatte, dass ich die letzte war, die ein Schiff in den Westen genommen hatte.
Oder, und diese Möglichkeit machte sie ein wenig bang, er war einer aus Delos’ Gefolge, die sich laut Gimli gegen uns stellen würden. Zu diesem Zeitpunkt ahnte sie natürlich noch nicht, wie Recht sie damit hatte, doch ihr Instinkt und ihr Verstand rieten ihr, ihm mit Vorsicht zu begegnen.
Leider schien ihr Herz diese Überlegungen nicht vernommen oder überhört zu haben, denn ohne, dass sie es recht wollte, erzählte sie ihm, dass sie aus der ehemaligen Valarstadt Valmar stammte und nannte ihm ihren Namen.
„Nefertirî also“, sagte er und sie konnte sich nicht helfen, aber es lag leichter Spott in seiner Stimme. Seine Augen musterten sie von oben bis unten und blieben schließlich wieder auf ihrem Gesicht liegen. Er betrachtete es genau, als wollte er sich jede Einzelheit einprägen, um nie wieder etwas zu vergessen. „Celebaneth würde mir besser gefallen.“
Langsam ging er auf sie zu, kurz wich sie vor ihm zurück, entschied sich jedoch dafür, ihm nicht zu zeigen, dass sie sich fürchtete. Er hob eine Hand an ihre Wange, als wenn er sie streicheln wollte. Doch er ließ eine ihre Strähnen durch seine Finger gleiten und es überraschte ihn, wie weich sie waren. Im Licht der Morgensonne schimmerte ihr Haar wie flüssiges Silber.
Er machte noch einen Schritt auf sie zu, bis er ganz dicht vor ihr stand. Doch dieses Mal brachte sie wieder Distanz zwischen sie beide. „Schmeichelnde Worte nützen bei mir nichts“, sagte sie und wandte sich zum Gehen. Sie wollte ihm den Rücken kehren, nach Hause reiten und vergessen, was geschehen war. Es war ihr schrecklich unangenehm, dass er sie in einer so intimen Situation entdeckt hatte. Außerdem war sie die ganze Nacht von zu Hause fort gewesen. Wie hätte sie es uns, ihren Eltern, erklären sollen?
Doch als sie bereits bei ihrer Stute war und sich in den Sattel ziehen wollte, war er plötzlich wieder bei ihr. Ohne, dass sie es richtig bemerkt hätte, hatte auch er sich auf den Rücken seines Pferdes geschwungen. „Wohin reiten wir?“, fragte er, als wäre es selbstverständlich.
Mitten in der Bewegung hielt sie inne und sah ihn erstaunt an. „Was heißt denn hier ,wir‘? Ich weiß nicht, wohin du zu reiten gedenkst, doch ich werde mich auf den Weg nach Hause machen. Meine Eltern machen sich sicherlich schon Sorgen.“ Den letzten Satz sagte sie mehr zu sich selbst, als zu ihm.
„Und als wahrer Edelmann ist es meine Pflicht, dich zu begleiten“, sagte er und maß sie mit einem so hochmütigen Blick, dass sie ihm diesen am liebsten aus dem Gesicht geschlagen hätte. „Immerhin können dir auf deinem Weg noch schrecklichere Gefahren begegnen, als ich.“
Das wäre wohl kaum möglich, hätte sie am liebsten gesagt, doch sie konnte es sich noch verkneifen. Irgendwie hatte er Recht, es war fahrlässig, alleine unterwegs zu sein. Besonders, wenn man ohne Waffen so weit von zu Hause weg war und das auch noch in einer Gegend, in die sich sonst niemand zu verirren schien. Außer vielleicht ein aufgeblasener Wanderer mit einem zu großen Mundwerk.
Sie kicherte, als sie ihn in Gedanken so genannt hatte, schwang sich in Niphredils Sattel und preschte, ohne auf ihn zu achten, davon. Erst ein paar Meilen später konnte er endlich zu ihr aufschließen. Doch als er auf ihrer Höhe war, versuchte er gleich wieder eine Unterhaltung zu beginnen. „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet, Celebaneth“, rief er zu ihr herüber. Da sie ihn ignorierte, sprach er unbeirrt weiter. „Warum bist du ganz alleine unterwegs? Hast du es in deinem Gemach nicht mehr ausgehalten? Hat man dich eingesperrt oder wollte dich gar zu einer Heirat zwingen?“
Egal, was er sagte, bis zu unserer Elbensiedlung brachte meine Tochter kein Wort mehr über die Lippen. Ohne ihre Stute zu zügeln ritt sie durch die Häuser auf unser Haus zu. Es kam ihr bereits sehr seltsam vor, dass die Stadt wie ausgestorben schien. Auf den Feldern arbeitete noch niemand und auch am Brunnen war keine Seele zu finden.
Mit einem viel zu hohen Tempo jagte sie um die Große Halle herum und hätte beinahe Delia über den Haufen geritten. Gerade noch so konnte sie Niphredil herumreißen und ein schlimmeres Unglück verhindern.
Delia war jedoch nicht die einzige, die sich hier eingefunden hatte. Beinahe das ganze Dorf war zusammengekommen und scharrte sich um den Eingang unseres Hauses. Alle machten besorgte Gesichter und Nefertirî befürchtete gleich das Schlimmste. Sie sprang vom Pferd, schob einige Leute bei Seite und betrat unser Haus. Sahîrim blieb verwundert draußen zurück.
Als Gimli meine Älteste kommen sah, ging er sogleich auf sie zu und fing sie ab. „Was ist passiert?“, fragte sie ängstlich, denn auch unser alter Freund blickte drein, als wäre bereits jemand gestorben.
„Weißt du“, begann er, doch irgendwie wollten nicht die richtigen Worte über seine Lippen kommen und meine Tochter begann sich von ihm loszumachen. Sie hielt es nicht mehr aus und stieg die Treppe nach oben. „Ada!“, rief sie und sogleich trat Legolas aus der Türe unseres Schlafgemachs heraus. Sein Gesicht war bleich und er wirkte, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen.
Nefertirî fiel ihm um den Hals und er drückte sie erleichtert an sich, sog ihren blumigen Duft ein und küsste sie auf ihr helles Haar. „Cidinn colmaen-nîn [1]“, flüsterte er. Doch sie löste sich schnell wieder von ihm und sah ihn besorgt an. „Ada, was ist geschehen? Wieso sind so viele Leute hier?“
Legolas sah sie eindringlich an. Eine Träne schimmerte in seinem Augenwinkel und als sie seinem Blick ins Innere unseres Schlafzimmers folgte, stand ihr der Schock ins Gesicht geschrieben. Sie sah meinen aufgedunsenen Körper, wie er unter dem Laken lag und sich krümmte. Das ganze Fußende des Bettes war von meinem Blut getränkt. Mein Gesicht war bleich und meine Haut verschwitzt. Ich hatte die Lippen zusammengekniffen und mir sie bereits blutig gebissen. Ithil-dî saß neben mir, hielt meine Hand und redete mir gut zu. Doch ich hörte sie nicht.
Der Schmerz war alles, was ich zu diesem Zeitpunkt wahrnahm. Er füllte mich aus, hielt meinen Geist gefangen und raubte mir die Kontrolle über meine Gliedmaßen. Selbst der Gedanke an das Ungeborene wurde dadurch verdrängt.
„Nana“, rief Nefertirî und stürzte ins Zimmer hinein. Sie warf sich neben mir auf die Knie, nahm mein Gesicht in ihre Hände und versuchte so, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch meine Augen sahen sie nicht. Sie streichelte mir über meine nassen Haare und sagte: „Nana, du darfst nicht sterben. Hörst du mich? Wir brauchen dich. Denk an meinen kleinen Bruder. Er würde ohne eine Mutter aufwachsen. Das darfst du nicht zulassen. Du musst kämpfen.“
Sanft zog Ithil-dî meine Tochter wieder auf die Beine und führte sie zur Türe. „Deine Mutter hat viel Blut verloren“, sagte sie leise. „Das Kind hat sich nicht gedreht, wie es für die Geburt notwendig wäre. So kann es nicht geboren werden. Ich habe versucht, es in ihrem Leib in die richtige Position zu bringen, doch ich habe Lilórien nur noch mehr Schmerzen zugefügt. Ich weiß nicht, was ich noch tun kann. Meine Kräfte sind erschöpft. Doch wenn nicht bald ein Wunder geschieht, werden sie und das Kind sterben.“
Meine Tochter wurde blass. Jegliche Farbe wich aus ihrem Gesicht und ihr Magen krampfte sich zusammen. „Nein“, flüsterte sie und Tränen traten ihr in die Augen. Sie biss sich auf die Zunge, um nicht laut zu schluchzen. „Aber es muss doch etwas geben, was wir tun können. Du kannst jetzt nicht so einfach aufgeben!“
Eine Weile sahen sie sich an. Ithil-dî wog ab, wie gefährlich es noch für mich werden konnte und meine Tochter dachte nur daran, mir und ihrem Bruder das Leben zu retten. Auch Legolas gesellte sich dazu. Er nahm Nefertirî noch einmal in den Arm und küsste sie. Er wollte sie schon runter zu ihrer Schwester schicken, doch ihr entschlossener Gesichtsausdruck hielt ihn davon ab.
Schließlich sagte Ithil-dî: „Nun, wenn du mir helfen möchtest, können wir noch eine Möglichkeit versuchen. Doch du musst dir darüber bewusst werden, dass deine Mutter große Schmerzen erleidet. Du darfst nicht zögern, wenn ich etwas von dir verlange, und du musst starken Herzens sein. Wirst du das schaffen?“
Erst zögerte sie kurz, warf noch einen Blick auf meinen sich windenden Körper, dann nickte sie entschlossen. Ithil-dî schickte meinen Gemahl nach unten, neues Wasser und Tücher zu holen, dann schloss sie die Türe des Schlafgemachs und kniete sich vor mich. „Was soll ich tun?“, fragte Nefertirî, während sie sich die Ärmel ihres Kleides hochkrempelte.
„Du musst deine Mutter bei den Schultern packen und sie nach hinten zwingen. Sie wird versuchen, die Schmerzen zu lindern, indem sie sich zusammenrollt. Doch das darf sie nicht. Wir werden aber noch die Hilfe deines Vaters brauchen.“ Als Legolas mit dem Wasser und den Tüchern kam, kniete er sich neben meine Cousine. Und während er meine Beine auseinander zwang und meine Tochter meine Schultern festhielt, so gut sie konnte, versuchte Ithil-dî mir und meinem Kind das Leben zu retten.
Unten in der Wohnküche saß Mîram mit Gimli zusammen an einem Tisch. Sie drehte bereits seit einer halben Stunde ihre Teetasse in der Hand, sodass das Getränk mittlerweile kalt war. Sie hatte ihre große Schwester nach oben gehen sehen, war aber nicht in der Lage gewesen, mit ihr zu gehen oder ihr wenigstens beizustehen. Zu tief saß ihre Angst, mich zu verlieren. Sie war noch viel zu jung dazu, ohne Mutter aufzuwachsen.
„Mach nicht so ein Gesicht, Kleines“, sagte Gimli und versuchte ihr aufmunternd, auf die Schultern zu klopfen. Doch Mîram blickte nicht einmal hoch. „Es wird schon alles gut gehen. Du wirst sehen!“
Im selben Moment ertönte von oben ein Schrei. Meine Tochter zuckte so heftig zusammen, dass sie ihre Tasse vom Tisch stieß und sofort zu weinen begann. Durch den Krach angelockt betrat Sahîrim das Haus. Er wusste nicht, was geschehen war, doch er hielt Mîram davon ab, die Scherben aufzusammeln. Er packte ihre Handgelenkte, als sie sich gerade darüber beugen wollte, und zwang sie so, ihn anzusehen.
Über ihre Überraschung hinweg vergas sie ganz, ängstlich zu sein. Sie sah ihm nur in die Augen. „Setz dich wieder hin“, sagte er sanft. „Ich werde dein Missgeschick beseitigen.“ Mechanisch nickte sie und nahm wieder Platz. Gimli jedoch erhob sich und baute sich vor ihm auf. „Und wer bist du, Jungchen?“ Seine Stimme war tief und drohend und machte jedem klar, dass er sofort zu verschwinden hatte, wenn er keinen Ärger wollte. Etwas an dem jungen Elb rührte in seinem Gedächtnis. Er konnte nicht zuordnen, ob es ein gutes oder ein schlechtes Gefühl war, denn es schien wie die Erinnerung an einen Traum zu verblassen, je fester man versuchte, sie zu halten.
Der Zwerg blickte ihm in die blauen Augen. Wo hatte er sie schon einmal gesehen? Konnte es möglich sein, dass er solche Augen überhaupt schon einmal gesehen hatte? Und wenn ja, dann sicherlich nicht hier in Valmar. Daran hätte er sich gewiss erinnert. Doch das Gefühl des Wiedererkennens brachte den sonst so starken und direkten Gimli ins Wanken, bis ein erneuter Schrei ihn wieder in die Gegenwart zurückholte.
„Mein Name ist Sahîrim, Herr Zwerg“, sagte er freundlich und blickte sich suchend nach einem Besen um. Als er ihn gefunden hatte, fegte er die Unordnung zusammen und entsorgte sie. Dann trat er auf Mîram zu, kniete sich vor ihr hin, sodass er ihr in die Augen sehen konnte, und fragte: „Und wie heißt du, kleines Fräulein?“
Doch sie kam nicht mehr dazu, ihm ihren Namen zu nennen. Denn oben in unserem Schlafgemach hatte ich meine ganzen Kräfte für einen letzten markerschütternden Schrei gesammelt. Meine Kehle brannte und meine Stimme versagte mir, nachdem ich alle meine Schmerzen hinausgerufen hatte. Dann sackte mein Körper in sich zusammen.
Sofort liefen alle zusammen. Mîram, Gimli und Sahîrim eilten die Treppe nach oben und stürmten zur Türe hinein. Legolas saß neben mir auf unserem Bett und streichelte meinen schlaffen Arm. Meine Jüngste erkannte auf den ersten Blick, dass mein Bauch flacher war und suchte nach dem Kind. Nefertirî hielt es auf dem Arm und es schrie und schien gesund zu sein. Und doch war es zu still in diesem Raum.
Das Neugeborene ignorierend traten alle an mein Bett und sahen in mein Gesicht. Meine Augen waren geschlossen, meine Brust hob und senkte sich kaum und meine Beine waren voll Blut. Voller Angst starrte Mîram ihren Vater an, doch er erwiderte ihren Blick nicht. Sein Blick ruhte auf meinem Gesicht. Er weinte stumme Tränen in der Hoffnung, dass sie nicht umsonst sein würden.
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Namensbedeutung:
Celebaneth - Silberne Schönheit
Colmaen - Goldschatz
Niphredil - Schneeglöckchen
Übersetzung:
[1] Cidinn colmaen-nîn.=Mein kleiner Goldschatz.