LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 18
~ Die Pfade der Toten
Mitten in der Nacht erwachte ich, weil ich das Gefühl hatte, dass jemand leise meinen Namen rief. Langsam erhob ich mich von meinem Lager, streifte einen Mantel über mein dünnes Nachtgewand und trat vor mein Zelt. Und als hätte der Himmel nur darauf gewartet rissen in diesem Moment die Wolken ein Stück auf. Ein leiser Strahl Licht strich über meine Wange. Ich folgte der Berührung und über mir leuchtete der Abendstern durch ein kleines Loch in der ansonsten geschlossenen Decke. Da wusste ich, dass wir Besuch bekommen würden.
Lautlos trat ich an den Rand des Weges, der das Plateau mit der Ebene unter uns verband. Meine Zehn gucken über den Rand. Unter mir schlich ein Pferd auf leisen Hufen die engen Windungen hinauf, als wären seine Eisen mit Stoff umwickelt. Der Reiter hob den Kopf und, obwohl sein Gesicht im Schatten seiner Kapuze lag, wusste ich, dass er mir zulächelte. Als er bei mir oben angekommen war, verneigte ich mich vor ihm. „Elrond-aran, mae govannen!“
„Mae govannen, Lilórien“, erwiderte der Herr von Imladris. „Bring mich zum König.“ Ich nahm die Zügel seines Pferdes und als es in den Schritt fiel, konnte ich einen kurzen Blick auf einen Schwertknauf erhaschen, den ich zuletzt in Bruchtal selbst gesehen hatte. Konnte es möglich sein, fragte ich mich?
Einer plötzlichen Eingebung folgend blickte ich in den Himmel, doch ich sah weder Wolken, noch Sterne, noch den Mond. Mein Blick glitt in die Zukunft. So viele Bilder vermischten sich auf einmal, dass ich bald nicht mehr wusste, in welcher Zeit ich mich befand. Meine Füße hatten aufgehört zu laufen. Und Elrond blickte mich wissend an, als ich sagte:
„Nicht alles, was Gold ist, funkelt,
Nicht jeder, der wandert, verlor’n.
Das Alte wird nicht verdunkelt,
Noch Wurzel der Tiefe erfror’n.“
„Glaubt Ihr“, richtete er das Wort an mich, als die Voraussicht nachließ, „dass es wahr wird? Die Zeiten sind dunkel und der Blick der Elben wird durch Saurons Macht verschleiert. Können wir also den Visionen Glauben schenken?“
Ich schüttelte den Kopf, wie um eine lästige Fliege zu verscheuchen. Ich wagte nicht, ihm in die Augen zu blicken, denn ich konnte seine Frage nicht beantworten. Aber irgendetwas musste ich sagen. „Wenn Euer Blick verschleiert ist, ist es meiner auch. Wir können uns also nicht darauf verlassen, dass allein das Schwert Narsíl alles wenden wird. Wir müssen uns auch auf die Hand verlassen, die es führen soll. Hättet Ihr dies nicht schon vorher gewusst, wäret Ihr nicht hierher gekommen.“ Er lächelte mich an. Er war zwar älter als ich, doch durch meine Weisheit, die ich durch die Macht der Valar erlangen konnte, blieben mir manche Absichten der Älteren nicht verborgen. Ich kannte meinen Schwager nun lange Jahre und wusste, dass Arwen ihn überredet hatte, die Klinge neu zu schmieden. Ihr Herz sehnte sich danach, ihren Liebsten wieder in die Arme nehmen zu können, so wie meines sich danach sehnte. Doch Aragorn hatte ein Versprechen gegeben. Und er würde es halte. Auch wenn es mit seinem Tod enden könnte. Und so, weil sie um seine Entschlossenheit wusste, hatte sie ihm alle Hilfe zukommen lassen, die sie mobilisieren konnte. Eine so tiefe Liebe hätte ich mir ebenfalls gewünscht.
Ich führte Elrond in das Zelt des Königs. Dieser schlief schon, doch nachdem seine Wachen angekündigt hatten, dass hoher Besuch gekommen war, ließ er uns ein. Er verbeugte sich vor uns und bad uns jeder einen Stuhl an. Elrond sagte, warum er gekommen war und was auf dem Spiel stand. Théoden ließ nach Aragorn schicken.
Währenddessen erzählte ich von der Idee, die mir gekommen war. „Ich weiß, es wird die Moral Eurer Männer schwächen, aber wir müssen dieses Risiko eingehen, um diese Schlacht zu gewinnen. Wenn Aragorn mit Euch und den Rohirrim in den Krieg reitet, könnten wir verlieren.“
„Was schlagt Ihr vor?“ Der König schien verstanden zu haben. Auch er wusste, dass wir der größten Schlacht Mittelerdes gegenüber standen. Und er wollte so viele seiner Männer wie möglich lebend aus dieser Sache herausbringen. Auch wenn dies Opfer fordern würde. Ich sagte also: „Der Dunkle Herrscher schickt in allen Richtungen des Landes nach Verstärkung. Aus dem Süden kommen die Haradrim. Aus dem Osten kommen noch mehr Orks. Und aus dem Norden kommen Korsaren mit ihren schwarzen Schiffen. Sie segeln schon eine ganze Weile an der Küste entlang, um schließlich dem Anduin südwärts hinauf zu folgen. Sie werden vom Fluss aus Osgiliath angreifen, wenn wir sie nicht aufhalten.“
Der Blick des Königs wurde ungläubig. „Wie wollt Ihr das anstellen?“
Ich holte einmal tief Luft, dann sagte ich: „Es gibt nur einen Weg, wie wir sie bezwingen können, doch dieser Weg ist sehr gefährlich.“ Ich machte eine Pause. Wenn ich es sagen wollte, dann würde ich es jetzt tun müssen. Viel Zeit blieb nicht mehr. Wenn Aragorn eintraf und das Schwert annahm, würde es nicht lange dauern, bis wir aufbrechen würden.
„Ich denke, ich brauche Euch nicht nach der Legende zu fragen, die sich um den Berg, der uns im Rücken liegt, dreht?“
Théodens Augen weiteten sich, als er begriff. Dann ging die Zeltplane zur Seite und Aragorn betrat das Zelt. Den ersten Schock überwindend sagte der König: „Ich ziehe mich zurück.“ Und er verließ das Zelt. Elrond saß mit dem Rücken zum Eingang. Erst als Théoden gegangen war, drehte er sich um und zeigte Aragorn sein Gesicht. Für mich war dies das Stichwort, auch das Zelt zu verlassen, doch Elrond hielt mich zurück. „Ich komme im Auftrag von jener einen, die ich liebe“, sagte er. „Arwen liegt im Sterben.“
Das hatte ich nicht gewusst. Ich musste mich setzen, denn meine Knie waren weich geworden. Meine Nichte war die einzige Verbindung zu meiner Schwester, die jenseits des Meeres lebte. Ich hatte mich ihr immer sehr nahe gefühlt und würde es vermutlich kaum ertragen können, wenn sie ihr Leben lassen würde, für einen Krieg, in dem sie nicht einmal kämpfte.
„Sie überlebt nicht lange, jetzt da sich der Schatten von Mordor ausbreitet. Das Licht des Abendsterns verblasst. Wie Saurons Macht zunimmt, so schwindet ihre Kraft. Arwens Leben ist nun an das Schicksal des Ringes gebunden.“ Wie hatte das nur geschehen können? Hatte sie am Ende doch noch die Hoffnung verlassen? Sie hatte ausschließlich für ihre Liebe zu diesem einen Waldläufer gelebt und wenn er in der Schlacht starb, würde es nicht lange dauern und sie würde auch dahinscheiden. Ein kleiner Teil von mir wünschte sich, dass es bei mir ebenso geschehen würde, doch dafür hatte ich Haldir schon zu lange überlebt.
Elrond fuhr fort. „Der Schatten ist über uns, Aragorn. Das Ende ist gekommen.“
Doch trotz der ernüchternden Worte war Aragorns Kampfgeist noch nicht gebrochen. Er würde für seine Liebe kämpfen. Und er würde für sie sterben, wenn es sein musste, damit Arwen überleben konnte. „Es wird nicht unser Ende, sondern seins“, sagte er entschlossen.
„Du reitest in den Krieg, nicht in den Sieg. Saurons Streitkräfte marschieren nach Minas Tirith, dies weißt du. Aber er hat sich noch einer anderen Kriegsmacht bedient, die vom Fluss angreifen wird. Eine Flotte Corsarenschiffe segelt aus dem Süden heran. In zwei Tagen werden sie in der Stadt sein. Du hast eine Übermacht gegen dich, Aragorn. Du brauchst mehr Männer.“
„Es gibt keine!“ Doch damit hatte er unrecht. Wer hatte gesagt, dass es Männer aus Fleisch und Blut sein müssten, um zu kämpfen.
„Es gibt jene, die das Gebirge bewohnen.“ Ein Wind ließ das Zelt erzittern und es war wie ein Hauch von Schicksal, der uns umwehte.
Aragorn sah uns beiden in die Augen. Er schien zu wissen, wessen Idee das gewesen war. „Mörder. Verräter. Ihr wollt die zum Kampf aufrufen? Sie glauben an nichts. Und folgen niemandem.“
Ich erhob mich von meinem Stuhl und sah im in die Augen. „Sie werden folgen, doch nur dem König von Gondor!“ Und mit diesen Worten holte Elrond das Schwert hervor, was er bei sich trug, und sagte: „Andúril, die Flamme des Westens, geschmiedet aus den Bruchstücken von Narsíl.“
Zögernd nahm Aragorn es entgegen, doch als er die Kraft spürte, die durch den gehärteten Stahl floss, packte er es am Knauf und zog es aus seiner Scheide. Auf der Klingel funkelten Symbole elbischer Schrift und ich las:
Ich bin Andúril und war Narsil, das Schwert von Elendil.
Mögen die Sklaven Morgoths vor mir fliehen.
„Die Klinge, die zerbrochen ward, wird zurückkehren nach Minas Tirith.“ Ehrfürchtig betrachtete er sein neues Schwert und ließ seine Augen über die Inschrift wandern.
„Der, der ein solch mächtiges Schwert zu führen vermag, vermag es auch eine Streitmacht aufzustellen, die tödlicher ist, als jede andere. Lasse den Waldläufer hinter dir. Folge nun dem Weg deiner Bestimmung. Schlage die Straße zum Dimholt ein.“ Ich konnte den Zweifel immer noch in seinen Augen sehen, doch er war schon gebrochen. Es bedurfte nur noch einer kleinen Ermutigung, und er würde tun, was er tun musste. Er würde den Menschen Hoffnung geben müssen, auch wenn es bedeuten würde, seine eigene Hoffnung zu verlieren. Ich wusste, dass es gegen jegliche moralische Regel ging, doch ich erwähnte die Worte, die seine Mutter damals sprach und in unserem Volk unvergessen sind: „Onen i-Estel Edain.“ Und Aragorn antwortete mir: „Ú-chebin estel anim.“ [1]
Ich folgte Aragorn zu seinem Pferd und sattelte meines ebenfalls. Doch als er dies sah, trat er neben mich und sagte: „Ich kann nicht zulassen, dass du dich meinetwegen in Gefahr begibst. Ich möchte, dass du hier bleibst und Théoden zur Seite stehst.“
Ich stemmte meine Hände in die Hüften. „Ihr glaubt doch nicht wirklich, mein Herr, dass ich hier bleibe, wo ein so großes Abenteuer auf mich wartet. Ihr seid noch kein König, der Befehle erteilen kann.“
„Du bleibst!“ Und damit ließ er mich neben meinem Pferd stehen und führte Brego davon. Doch so leicht würde ich es ihm nicht machen. Schnell eilte ich zu dem Zelt, in dem ich Gimli und Legolas vermutete, und erzählte so schnell ich konnte alles. Natürlich waren sie sofort bereit, ihrem Freund zu folgen. Und sie mussten mir das Versprechen abnehmen, mich ebenfalls mitzunehmen. So gingen Legolas und ich zurück zu unseren Pferden, sattelten und bepackten sie, und kehrten zu Gimli zurück, der sich vor ein Zelt gesetzt hatte und Pfeife rauchte.
Als Aragorn an ihm vorbei kam, stand der Zwerg auf und sagte: „Kannst du mir verraten, wo du hin willst?“
„Du bleibst, Gimli. Diesmal nicht“, sagte er. Er war tatsächlich bereit, diesen Weg alleine zu beschreiten. Doch wie konnten wir als gute Freunde zulassen, dass es dies tat?
„Eigentlich solltest du die Sturheit der Zwerge langsam kennen“, sagte Legolas und wir führten unsere Pferde an seine Seite. „Du musst dich damit abfinden“, sagte ich und zwinkerte ihm zu, denn Elben konnten nicht minder stur sein, als Zwerge. „Wir kommen mit dir, Junge“, sagte Gimli. Und so ritten wir hinein in die Schlucht, während hinter uns das Gemurmel der Männer anschwoll, die dachten, wir würden sie aus Angst verlassen.
~*~*~*~
Der Tag brach grau und trist zwischen den Felsen an und mir wurde klar, dass sich auch ohne die Toten niemand hierher wagen würde, so gruselig war es selbst bei Sonne hier. Auch Gimli spürte es, denn ich hörte Zweifel und Furcht in seiner Stimme, als er fragte: „Was für ein Heer sollte sich an solch einem Ort aufhalten?“
„Eines, das verflucht ist“, sagte Legolas und er erzählte dem Zwerg die Geschichte, die ich schon von Éomer gehört hatte. Bilder erschienen vor meinen Augen, wie sie es immer taten, wenn Elben eine Geschichte erzählten, die die Gabe besaßen, nicht nur Worte voller Zauber heraufzubeschwören. Ich konnte dir Furcht in den Augen der Menschen sehen, die einst hier im Gebirge lebten, und ich sah in ihren Herzen, welche Feiglinge sie waren.
Meine Bilder mussten eine Vision bei Legolas hervorgerufen haben, denn er sagte mit entrückter Stimme und verschleiertem Blick, der wirr zwischen den Felsen hin und her sprang: „Wer wird sie rufen, das vergessene Volk, aus grauem Zwielicht? Der Erbe des Mannes, dem einst sie schworen. Von Norden naht er, Not treibt ihn, das Tor zum Pfad der Toten wird er durchschreiten.“ Eine Gänsehaut überlief meinen Rücken und jagte mir einen Schauer über den Körper. Seine Stimme war nicht mehr warm und weich, sondern kalt und grausam. Sie erinnerte mich an den Geist aus meinen Träumen. Ängstlich blieb ich stehen.
Doch vor uns lag nun ein schmaler Durchgang, der einzige, den man durchschreiten konnte. Und am Ende befand sich ein Tor, umgeben von Schädeln und Knochen. Selbst die Bäume schienen tot zu sein. Kein Lichtstrahl traf hier die Erde und kein Grün durchbrach das Grau. Alles war leblos und sah bedrohlich aus. Noch bevor ich richtig von Alagos abgestiegen war, bäumte sich meine Stute auf und rannte davon. Ich flog in hohem Bogen durch die Luft und landete unsanft auf meinem Hintern. Legolas sprang sofort herbei, während Aragorn noch nach den Pferden rief, doch diese waren bereits davon gerannt. Hoffentlich fanden sie ihren Weg nach Hause.
Der Elb reichte mir eine Hand. Als ich sie berührte, damit er mir aufhelfen konnte, zuckte das Bild des grausam verzerrten Gesichtes von Haldir erneut durch meinen Kopf. Erschrocken fuhr ich zurück. Ich schlug seine Hand weg und rappelte mich alleine wieder hoch. Doch als ich den verletzten Ausdruck auf seinem Gesicht sah, tat es mir gleich wieder leid, was ich getan hatte.
Allerdings blieb mir keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn Aragorn war bereits in dem dunklen Torbogen verschwunden. Ohne zu zögern folgte ich ihm und Legolas mir. Gimli blieb draußen zurück. Ich hörte noch, wie er sagte: „Ein Elb geht unter die Erde und ein Zwerg wagt es nicht?! Das würde mir ja ewig nachhängen.“ Und schon konnte ich seine schweren Schritte hinter mir im Gang hallen hören.
Innen war es dunkel, doch wir konnten eine Fackel finden, mit der wir uns den Weg ausleuchten konnten. Allerdings vermochte weder die Dunkelheit, noch das Licht die grausigen Gesichter zu vertreiben, die ich immer wieder sehen konnte. Alle waren sie tot. Und doch lag Traurigkeit in ihrem Blick, als wenn sie es bereuten, gestorben zu sein und vorher nicht mehr das tun konnten, was sie gerne getan hätten. „Die Toten folgen uns“, sagte ich und konnte hören, wie Gimli sich schüttelte. „Die Toten?“, rief er und drehte sich um, in der Erwartung, einer könne hinter ihm mit erhobenem Schwert stehen. Dieser Gedanke war gar nicht so abwegig, doch ich würde es ihm nicht sagen. „Das wusste ich doch…“ Dann kam er Legolas’ Namen rufend hinter uns her. Anscheinend konnte es einem Zwerg doch Angst machen, unter der Erde zu sein.
Plötzlich schien sich der Nebel, der über den Boden waberte, zu bewegen. Lange Hände griffen nach uns, umfingen uns, lockten uns weiter in das Dunkel hinein. Dann hörte ich ein lautes Knacken unter meinen Füßen und spürte wie etwas nachgab. Aragorns Warnung, nicht nach unten zu sehen, kam zu spät. Wir standen auf Schädeln, die Münder weit aufgerissen, wie zu einem stummen Schrei für die Ewigkeit. Erschrocken rannten wir weiter, verfolgt von dem Brechen alter Knochen unter unseren Sohlen, bis wir in eine große Höhle kamen. Das Licht der Fackel reichte kaum aus, ihre Wände und die Decke aus der Finsternis zu schälen. Doch es reichte, um die Umrisse alter Wohnungen zu sehen, wo vor vielen Jahrhunderten einst Menschen lebten.
„Wer betritt mein Reich?“
Die Stimme, hohl und dunkel, schien von überall her zu kommen, und gleichzeitig stellten sich meine Nackenhärchen auf, sodass ich mich umdrehen musste. Hinter uns erschien in grünem Rauch eine Gestalt, so durchsichtig wie Nebel, und doch so lebendig wie wir.
Aragorn fand als erster seine Sprache wieder. „Einer, der Eure Lehnstreue fordert.“
Der gruselige Geist durchbohrte ihn mit seinem merkwürdigen Blick, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Die Toten dulden es nicht, dass die Lebenden hier gehen.“
„Doch werdet Ihr mich dulden!“ Der Geist begann zu lachen und plötzlich waren wir umzingelt von Toten. „Der Weg ist versperrt“, hörten wir ihn wieder sprechen. „Er wurde angelegt von jenen, die tot sind. Und die Toten halten ihn. Der Weg ist versperrt. Nun müsst ihr sterben.“ Sie kamen näher. Legolas schoss einen Pfeil auf ihren Anführer ab, der genau durch seine Stirn flog. Nichts geschah. Angst überkam mich. Vermutlich hatte er sie jetzt nur noch wütender gemacht. Auch Gimli schien das zu glauben, denn er umklammerte den Griff seiner Axt noch fester, gefasst auf alles. Auch ich zog mein Schwert. Wenn sie uns töten wollten, würden wir uns wehren.
Doch Aragorn legte offensichtlich wert darauf, es noch einmal mit Reden zu versuchen. Er packte sein Schwert mit beiden Händen und sagte: „Ich fordere Euch auf, Euren Eid zu erfüllen.“
„Nur der König von Gondor vermag mir Befehle zu erteilen.“ Mit einem Schrei, der mir durch Mark und Bein fuhr, ging der Geist auf Aragorn los. Ich erwartete schon, dass sein Schwert durch Andúril hindurch fahren und Aragorn töten würde, ohne eine Wunde zu hinterlassen. Doch Elendils Schwert stoppte den Streich, als wäre die Klinge aus Stahl und nicht aus Nebel. „Diese Klinge ward zerbrochen“, presste der Geist hervor.
„Nun wurde sie erneuert“, sagte Aragorn und blickte ihm fest in seine leblosen Augen, während er den Geist an der Kehle packte und ihm die Schwertspitze unter das Kinn hielt. Er stieß ihn von sich und blickte in die Runde. „Kämpft für uns und erlangt Eure Ehre zurück. Was sagt Ihr?“ Keine Antwort. Die Geister blieben stumm. „Was sagt Ihr?“
Gimli fiel ihm ins Wort. „Du vergeudest deine Zeit, Aragorn. Sie besaßen keine Ehre im Leben und besitzen auch jetzt keine im Tod.“ Wenn ich mir das Ganze so ansah, hatte der Zwerg vermutlich recht. Doch wie konnten sie es zulassen, dass eine solche Gelegenheit, endlich den Tod hinter sich zu lassen, verstrich.
Aragorn erhob erneut das Wort. „Ich bin Isildurs Erbe. Kämpft für mich und ich werde Euren Eid als erfüllt ansehen. Was sagt Ihr?!“
Anstatt einer Antwort hörten wir wieder nur ein hohles Lachen und die Geister verschwanden. Allen Rufen zum Trotz. Dann begann die Erde zu beben. Eine Steinlawine löste sich von den Wänden und überschüttete uns mit Schädeln von Toten. Meine Füße fanden keinen Halt und ich rutschte ab. Wild fuchtelte ich mit meiner Hand umher, in der Hoffnung, etwas zu fassen zu bekommen, doch ich griff nur ins Leere.
Plötzlich umfasste etwas mein Handgelenk. Mit Kraft zog mich etwas aus dem Meer von Knochen und stellte mich wieder mit beiden Beinen auf sicheren Boden. Ich hatte keine Zeit mich zu bedanken, denn Legolas zog mich hinter sich her aus der Höhle ins Freie. Dankbar sog ich die frische Luft in meine Lungen und hustete den Staub hinaus. „Ich danke Euch“, brachte ich schließlich hervor und musste mich erst einmal hinsetzen.
Unter uns lag nun der Fluss, die Bergwand hatten wir hinter uns gelassen, und auf dem Anduin trieben mehr als ein Dutzend schwarzer Schiffe in unsere Richtung. Aber ohne die Unterstützung der Toten hatten wir keine Chance, sie zu bezwingen und die Schiffe einzunehmen. So war unsere Reise hierher umsonst gewesen. Wir hatten keine zusätzlichen Männer für den Kampf gewonnen. Wir waren verloren.
Mit einem Mal stellten sich meine Nackenhärchen erneut auf. Wie ich es hasste, beobachtet zu werden. Dann tauchte neben mir aus dem Felsen der Geisterkönig auf. Und mit nur zwei Worten schöpften wir wieder Hoffnung auf den Sieg: „Wir kämpfen.“
Wir mussten uns also überlegen, wie wir die Schiffe nun einnehmen konnten. Wir mussten sie nahe ans Ufer locken, damit wir sie auch besteigen konnten, wenn die Geister die Corsaren getötet hatten. Also stellten wir uns zu viert am Ufer auf, sodass man uns vom Fluss aus sehen konnte. Dann warteten wir, bis sie näher kamen. Als sie auf der richtigen Höhe waren, sagte Aragorn: „Ihr dürft nicht weiter. Ihr werdet Gondor nicht betreten.“
Lautes Lachen war die Antwort, die wir erhielten. Derjenige, der offensichtlich der Anführer war, trat an die Reling und sagte: „Wer seid Ihr, dass Ihr uns den Zugang verwehren könnt?“ Offenbar nahmen sie uns nicht ernst genug. Das würde ein Fehler sein.
Aragorn gab Legolas den Befehl, dem Bootsmann einen Pfeil neben sein Ohr zu schicken. Doch durch Gimlis Eingreifen traf der Pfeil einen anderen Mann und streckte ihn nieder. Des Zwerges geheuchelte Reue daraufhin brachte mich zum Schmunzeln. „Bereitmachen zum Entern“, rief er mit seiner dröhnenden Stimme und wieder schallte uns Lachen entgegen. Doch mit einem Mal war es ruhig auf den Schiffen. Ein Nebel zog über sie hinweg und löschte jeden einzelnen von ihnen aus. Dann kletterten wir an Bord.
Die Fahrt auf den schwarzen Korsarenschiffen erinnerte mich an meine letzte Seereise. Nur war der Anduin wesentlich ruhiger als das offene Meer. Doch das Schaukeln des Wassers hatte wie damals eine ziemlich beruhigende Wirkung auf mich. Meine angespannten Muskeln lösten sich etwas und die gelegentlich durch die Wolken brechende Sonne ließ mich fast meine Sorgen vergessen. Leider kam durch den weichenden Herzschmerz der Körperliche nun zum Tragen und mein Arm meldete sich wieder. Die Schiffe zu erobern war eine Kleinigkeit gewesen. Bei diesem Manöver hatte ich nicht kämpfen müssen. Doch nun, da eine große Schlacht bevorstand, machte ich mir ernsthaft Sorgen, ob ich fähig war ein Schwert zu führen. Ich zog also meine Langwaffe mit Links und ließ es ein paar Mal um mein Handgelenk kreisen. Es fühlte sich gut an, obwohl mein Arm ziemlich schwach wirkte. Doch die Rechte war meine Schwerthand. Es würde also mehr Sinn machen, mit den elbischen Kurzschwertern zu üben.
Während Aragorn mit dem Geisterkönig die beste Angriffsstrategie besprach und Gimli sich unter Deck um das Essen kümmerte, nahm ich die Position gegenüber meines imaginären Gegners ein. Ein paar Mal testete ich meine Geschicklichkeit, dann ging ich auf ihn zu. Ohne Rücksicht zu nehmen führte ich Angriffe aus, denn ich wollte wissen, wie viel ihr mir zutrauen konnte. Doch schon der fünfte Schlag, den ich ausführte, ließ mich innehalten. Ein Ziehen in der Sehne, die meinen kleinen Finger mit dem Ellbogen verband, setzte mir zu. Es fühlte sich an, als würde mir jemand das Handgelenk zudrücken. Das Üben mit Merry hatte anscheinend nicht die gewünschte Wirkung gezeigt.
Entschlossen, nicht meine Schwäche zuzulassen, machte ich jedoch weiter. Aber nicht lange und ich konnte nicht einmal das leichte Schwert mehr halten. Scheppernd fiel es zu Boden und blieb dort liegen. Enttäuscht über mich selbst warf ich das andere Schwert mit voller Wucht weg und es blieb im Hauptmast stecken. Danach trat ich an die Reling und blickte auf das Ufer. Langsam aber stetig zog es an uns vorbei, denn die Geister hatten das Steuer übernommen.
Ich hörte wie das Schwert aus dem Holz gezogen wurde und ich drehte mich um. Legolas stand vor mir. Er hielt mir das Schwert hin. "Möchtet Ihr trainieren?"
Seufzend drehte ich mich wieder dem Wasser zu. "Ich habe es ja versucht. Aber mein Arm ist noch zu schwach. Der Bruch ist zwar geheilt, doch die Stärke ist noch nicht zurückgekehrt."
"Ihr könnt sagen, was Ihr wollt." Entschlossen trat er auf mich zu und reichte mir mein Schwert. "Aber ich werde Euch nicht so schutzlos in den Krieg ziehen lassen. Ein bisschen Zeit haben wir noch, bis wir kämpfen müssen."
Ein müdes Lächeln umspielte meine Lippen. Ich wusste, dass er mich gern hatte, aber ich hatte keine Ahnung, dass er sich so um mich sorgte. Doch vermutlich sorgten sich auch seine beiden Gefährten um mich. Schließlich war ich das einzige weibliche Wesen in der Gemeinschaft und vermutlich meldete sich bei ihnen ihr Beschützerinstinkt. Aber das konnte ich nicht zulassen. Ich fürchtete immer noch, dass sie getötet werden könnten, wenn ich ihnen zu nahe war. Doch andererseits konnten sie im Kampf genauso getötet werden. Oder ich würde sterben.
Ich beschloss das Risiko einzugehen. Also band ich mir meine Haare zu einem Zopf, zog mein oberes Hemd aus und stellte mich erneut in Kampfposition. Ich atmete tief durch, wobei ich versuchte eine gewisse Ruhe in meine Glieder zu bekommen, die doch von der großen Anstrengung etwas zitterten. Als Legolas den ersten Schlag auf mich niederkommen ließ, blockte ich geschickt ab, spürte aber die Vibration, die sich tief in meine Knochen bohrte und mich straucheln ließ. Er bemerkte meine Schwäche nicht und schlug von der Seite zu. Auch diesen Hieb konnte ich noch abblocken, doch schon beim nächsten Treffer gaben meine Arme nach. Die Schwerter fielen mir aus der Hand.
Legolas hielt inne. Er stellte sich wieder aufrecht hin und blickte mich durchdringend an. Ich hatte das Gefühl ein kleines Kind zu sein, was von jemandem getadelt wird. Beschämt blickte ich zu Boden, in dem Wissen um meine Schwäche. Doch was hätte ich tun sollen? Ich wusste, dass mein Arm das Gewicht nicht halten konnte. Doch wenn ich bald auf dem Schlachtfeld stehen würde, würde niemand meiner Gegner darauf achten, ob ich schon verletzt war. Und dem Kampf fern bleiben käme einem Verrat gleich. Ich könnte nie wieder mit ruhigem Gewissen in den Himmel blicken, wenn ich mich nun von meinen Schmerzen ablenken lassen würde. Ich musste es einfach überwinden und über mich hinauswachsen. Nur so konnte ich den Dienst leisten, für den ich geboren worden war. Auch wenn mich dieser Gedanke nicht glücklich machte. Schließlich war Haldir dafür gestorben. Aber hatte ich noch eine Wahl?
Ich straffte also meine Schultern, nahm meine Waffen wieder auf und trat dem Königssohn entgegen. Er sollte spüren, dass die Götter mich ausgebildet hatten.
Und tatsächlich: trotz des Zittern, das bei jedem Schlag durch meine Arme ging, gelang es mir, ihm Stand zu halten. Ich konnte ihn zwar nicht zurückdrängen, aber ich ließ mich meinerseits auch nicht von meiner Position abbringen. Unser Kampf war inzwischen so verbittert geworden, dass mir trotz der kalten Luft der Schweiß auf der Stirn stand. Und erst, als wir eine kleine Verschnaufpause zwischen zwei Angriffen einlegten, bemerkte ich, dass wir Zuschauer hatten. Aragorn hatte es sich mit Gimli auf der Reling gemütlich gemacht und beide rauchten genüsslich eine Pfeife.
"Wie ich sehe, geht es deinem Arm wieder besser", sagte der Waldläufer und kam auf mich zu. Er trat an mich heran und befühlte meinen linken Arm. Ich zuckte zusammen, als er die Stelle traf, die der Stein durchschlagen hatte. Noch immer war es nicht ganz verheilt, aber ich konnte mich damit verteidigen.
Aragorn schüttelte jedoch jetzt den Kopf. "Ich bin sicher, dass dir der Kampf mit Legolas nichts ausmacht, aber seine Hiebe sind lange nicht so kraftvoll wie die eines Orks. Du solltest vorsichtig sein mit deiner Selbsteinschätzung. Der Bruch ist noch nicht vollkommen genesen." Ich nickte, denn auch mir war dies klar. "Aber habe ich eine Wahl", sagte ich und sah ihm direkt in die Augen.
"Ihr könntet auf dem Schiff bleiben, während des Kampfes", schlug Gimli vor, doch ich lachte nur. "Im Ernst! Ihr müsst uns nichts beweisen."
Langsam ließ ich meine Arme sinken. "Ich möchte Euch nicht zu nahe treten, Herr Zwerg, aber würdet Ihr hier warten, während Eure Freunde in die Schlacht ziehen? Würdet Ihr Euch damit zufrieden geben, wenn Ihr seht, wie sie sterben?" Traurig und wütend zugleich raffte ich meine Sachen zusammen und verschwand unter Deck. Ich sah nicht mehr, wie Gimli und Aragorn Legolas aufmunternd zunickten und wie Gimli sagte: "Sie ist sehr zerbrechlich, Spitzohr. Behandle sie gut."
In meiner Kammer zog ich mich wieder vollständig an, denn das Gefühl beobachtet zu werden war mit den Geistern an Bord allgegenwärtig. Deswegen wagte ich es auch kaum mich zu waschen, aus Angst man würde mir nachstellen. Wie sollte ich dies auch bemerken, wenn sie unsichtbar waren. Und beweisen könnte ich es erst recht nicht.
Müde ließ ich mich auf die harte Pritsche nieder und legte meinen Kopf auf das Kissen. Es war nicht annähernd so weich wie die Betten in Rohan und Lichtjahre von dem Komfort in den Elbensiedlungen entfernt, aber es würde seinen Zweck erfüllen. Erschöpft schloss ich meine Augen, doch sogleich hörte ich ein Klopfen an meiner Türe. Seufzend erhob ich mich, hieß denjenigen vor der Tür hereinkommen. Es war Legolas.
„Es tut mir leid, wir wollten Euch nicht verletzten“, sagte er und kam auf mich zu. Ich rückte ein Stück zur Seite, sodass er sich neben mich auf die Pritsche setzen konnte, eine Art Friedensangebot.
Ich lächelte ihn an. „Es muss Euch nicht leid tun. Ich weiß schon, dass ihr es nur gut mit mir meint. Aber auf der anderen Seite müsst ihr verstehen, dass ich nicht einfach dem Kampf fern bleiben kann. Genau für so etwas wurde ich ausgebildet. Für so etwas wurde ich geboren. Es ist meine Aufgabe, diese Schlacht zu schlagen. Wie kann ich dem fern bleiben, wenn ich weiß, dass Haldir für diese Sache gestorben ist?“
Als ich es gesagt hatte, bereute ich es auch sogleich wieder. Ich wusste nicht, wieso, aber ich spürte, dass ich ihn mit der Erwähnung meines Verlobten verletzt hatte. Und tatsächlich, als er mich anblicke, lag Schmerz in seinen Augen. „Es ist nur natürlich, dass Ihr ihm nachtrauert. Aber glaubt Ihr, dass es die richtige Entscheidung ist, Euer Leben an seines zu hängen? Ich möchte Euch nicht auf diesem Schlachtfeld sterben sehen.“ Vorsichtig, als wäre ich aus Glas, nahm er meine Hand in seine. Eine Träne fiel auf meinen Handrücken. Verwirrt blickte ich ihn an, suchte nach dem Grund, warum er weinen könnte. Doch als ich ihm ins Gesicht sah, wusste ich, dass es meine Träne gewesen war.
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[1] Onen i-Estel Edain. Ú-chebin estel anim.= Ich gab den Menschen Hoffnung, ich behielt keine Hoffnung für mich.