LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 17
~ Flucht II
Carim zog ein Schwert aus dem Holzgestell am Rande des Übungsplatzes und trat in die Mitte. Da zu diesem Zeitpunkt in jedem Haushalt das Abendessen gereicht wurde, glaubte er sich unbeobachtet. Er selbst verspürte keinen Hunger. Seit sein Bruder gegangen war, verspürte er nur noch selten den Drang, etwas unbedingt tun zu müssen. Das Essen schmeckte nicht mehr; nachts konnte er nicht schlafen, weil Gedanken in wirr machten; tagsüber war er meinst so müde, dass er kaum die Augen aufhalten konnte. Er fühlte sich im Stich gelassen, sah sich nun stärker den Launen des Vaters ausgesetzt.
Doch er versuchte, sich seine traurigen und manchmal auch wütenden Gedanken nicht anmerken zu lassen. Wenn Delos außer Haus war, gab er sich meist ganz den Erinnerungen hin, die ihn und Sahîrim zusammen zeigten. Oder er dachte an seine Mutter. Dann bat er Díhena, ihm die Arbeit, die ihm eigentlich vom Vater auferlegt worden war, abzunehmen. Wäre er nicht schon beinahe erwachsen gewesen, hätte er sie gebeten, ihn in den Arm zu nehmen, wie sie es früher getan hatte.
Da er sich jedoch als Mann beweisen und die Anerkennung des Vaters haben wollte, konnte er sich solche Gefühlsausbrüche nicht erlauben. Er hatte vor, ein eben so harter Krieger wie sein Bruder zu werden. Vielleicht würde der Vater ihn dann beachten.
Probeweise schwang er nun das Schwert in der Hand. Er spürte das Gewicht im Arm und genoss das Gefühl, eine scharfe Klinge zu halten. Bisher hatte Delos es ihm kaum erlaubt, mit Sahîrim zu üben. Er hielt es nicht für richtig. Carim wäre zu schwach, sagte er, um Sahîrim fordern zu können. Und Sahîrim war zu stark, um Carim vernünftig etwas beibringen zu können. Er selbst jedoch wollte sich auch nicht damit belasten, seinen Jüngsten zu trainieren. Dazu war ihm seine Zeit zu schade.
Wenn Delos jedoch erkannte, dass sein Jüngster nicht so nutzlos war, wie er glaubte, würde er seine Meinung wohlmöglich ändern. Außerdem blieb ihm jetzt, da Sahîrim weg war, keine andere Wahl mehr, als sich Carims anzunehmen, seinem einzigen noch verbliebenen Sohn.
Konzentriert führte er ein paar einfache Übungen aus, die er sich bei seinem Bruder abgeschaut hatte. Bald schon spürte er allerdings die Anstrengung. Von seiner eigenen Schwäche scheinbar unbeeindruckt machte er weiter, bis das Schwert in seinem ausgestreckten Arm zitterte. Er keuchte, als er es sinken ließ, und verfluchte sich innerlich selbst. Am liebsten hätte er alles hingeworfen und sich in seinem Bett verkrochen. Doch dazu kam er nicht.
„Was tust du hier?“, hörte er plötzlich die Stimme seines Vaters hinter sich. Langsam drehte er sich um, hatte er doch gedacht, dass auch sein Vater beim Essen sein würde. „Ich trainiere“, sagte er schließlich, doch sogleich schämte er sich für diese Worte, denn es war offensichtlich, dass ihm das Training nicht bekam.
Es entging Delos nicht, wie der Arm seines Sohnes vibrierte. Doch er hatte in keinem Fall vor, ihm seine Schwäche zuzugestehen. Er sollte seine Grenzen selber erkennen. Und wenn er zu feige war, es zuzugeben, würde er ihn dazu zwingen. Daher streifte er seinen Mantel ab, der ihn vor der noch kühlen Frühlingsluft schützte, trat an das Holzgestell und nahm ein Schwert heraus. „Dann zeige mir, was du kannst.“
Er stellte sich in Position und wartete darauf, dass Carim angriff. Was dieser auch sogleich tat. Sein Schlag war unpräzise, er hatte kein Ziel und war mit nur wenig Kraft ausgeführt. Hätte er einem wahrhaftigen Gegner gegenüber gestanden, wäre er noch vor dem zweiten Schlag getötet worden.
Delos aber blieb in der Defensive. Er wollte sehen, wie oft sein Sohn zuschlagen konnte. Wie lange würde sein Arm das Schwert noch halten können, bis er erschöpft aufgab? Es konnte nicht lange dauern, dachte er und blockte den nächsten Treffer mit Leichtigkeit ab.
Bald schon verlor er aber die Lust an diesem ungleichen Kräftemesser. Die Schläge wurden immer ungenauer und es erzürnte ihn mit ansehen zu müssen, wie schwach sein eigen Fleisch und Blut in Wirklichkeit war. Wieso nur hatte Milui ihm zwei Söhne geschenkt? Hätte er einen gehabt, hätte er sich voll und ganz dessen Erziehung widmen können.
Mit dem nächsten Schlag ging Carim zu Boden. Das Schwert flog ihm aus der Hand und landete außerhalb seiner Reichweite. Sofort spürte er die scharfe Schwertspitze unter seinem Kinn und sein Vater sah ihn von oben herab an, als wäre er ein lästiges Insekt. "Du bist schwach", sagte er nur, drehte sich um und verließ den Übungsplatz, ohne seinen Sohn noch einmal eines Blickes zu würdigen.
Wütend krallte Carim seine Hände in den Boden. Tränen schossen ihm in die Augen und er biss sich verzweifelt auf die Unterlippe. Eine größere Demütigung hätte es kaum geben können, dachte er und erhob sich. Er klopfte sich den Staub aus der Kleidung und wollte seinem Vater schon nach Hause folgen, doch da entschied er sich anders.
Er hob das Schwert auf und band es sich an seinen Gürtel. Dann lenkte er seine Schritte zum Stall, in dem das Pferd seines Bruders stand. Kurz überlegte er, ob er es wirklich wagen sollte, doch dann sagte er sich, was er schon zu verlieren hatte. Noch weiter konnte er in der Gunst seines Vaters nicht sinken.
Seine Hand streichelte den Hals des Tieres und er fühlte die starken Muskeln unter dem seidigen Fell. Es glänzte in der untergehenden Sonne wie Kupfer und der Wallach schnaubte aufgeregt. Er hatte es seinem Herrn nicht übel genommen, dass er ohne ihn aufgebrochen war. Denn er hatte gewusst, dass sie über kurz oder lang wieder miteinander vereint sein würden. Und nun war es soweit.
Carim holte Sattel und Zaumzeug aus einer Kammer und legte es dem Tier an. Er dachte noch kurz daran, dass er keinen Proviant mithatte und Díhena sich vermutlich große Sorgen um ihn machen würde, doch dann schob er diese Gedanken bei Seite. Er konnte sich nun nicht mehr von etwas abhalten lassen. Wenn er sich beweisen wollte, musste er jetzt stark sein.
In der nahenden Dunkelheit führte er den Wallach aus der Siedlung heraus, hielt sich dabei möglichst so, dass man ihn nicht sehen konnte, und schwang sich kurz hinter dem letzten Haus in den Sattel. Auch wenn er nicht so gut reiten konnte wie Sahîrim, so war er doch ein ganz passabler Reiter. Und so machte es ihm auch nichts aus, dass das Pferd aus dem Stand in den Galopp sprang und davoneilte. Dabei merkte er nicht, dass er gar nicht so unbeobachtet geflohen war, wie er zunächst gehofft hatte.
Erst, als er eine Weile geritten war und es bereits so dunkel war, dass der Mond ihm als einzige Lichtquelle diente, drosselte er das Tempo ein wenig. Er hatte Angst, dass seine Flucht wohlmöglich doch bemerkt worden war und man schon hinter ihm herjagte. Doch ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass er alleine auf weiter Flur war. So konnte er dem Tier die Zügel lassen und hoffen, dass es ihn zu seinem Bruder bringen würde.
Durch das gleichmäßige Schaukeln dämmerte er bald weg, denn obwohl der Tag recht kurz war, hatte es ihn viel Kraft gekostet. Und nun schien sein Körper seinen Tribut zu fordern. Der Wallach merkte, dass sein Reiter eingeschlafen war, und schlug einen gemütlichen Schritt an. So bestand nicht die Gefahr, dass er herunterfallen könnte.
Instinktiv folgte das Pferd der Spur, die sein Herr hinterlassen hatte, und kam im Morgengrauen zu der Stelle, an der Sahîrim auf Nefertirî getroffen war. Carim schreckte aus dem Schlaf hoch, als der Wallach plötzlich anhielt, und klammerte sich am Sattel fest. Zunächst wusste er nicht mehr, wo er war. Doch dann fiel es ihm wieder ein und er klopfte dem Tier lobend auf den Hals. Er stieg ab und führte es unter die Bäume. Hier würde er ihnen beiden eine Rast gönnen.
Und während der Wallach genüsslich aus der kleinen Lagune trank, suchte Carim nach etwas Essbarem. Als er sich satt gegessen hatte, legte er sich unter einen Baum und schlief, bis die Sonne ihren höchsten Stand wieder verließ. Dann schwang er sich erneut in den Sattel und ließ das Pferd seinen Weg finden.
Er fühlte sich ausgeruht und kräftig und auch seine Gedanken schienen nicht mehr ganz so düster zu sein, wie noch am Abend zuvor. Ungläubig fragte er sich, ob es nur daran lag, dass er dem Einfluss seines Vaters entkommen war oder ob er sich hier draußen wirklich frei fühlte. Oder freute er sich vielleicht nur, seinen Bruder zu finden?
So richtig wollte er es noch nicht wahrhaben, doch je mehr Meilen er zwischen sich und das Haus seines Vaters brachte, desto besser fühlte er sich. Hier draußen musste er sich nicht mehr mit Sahîrim messen und um die Aufmerksamkeit Delos' buhlen. Es gab nun keine Konkurrenz mehr zwischen ihnen, wenn sie beide frei waren und tun und lassen konnten, was sie wollten. So musste sich wahre Freiheit anfühlen, dachte er und reckte sein Gesicht der strahlenden Sonne entgegen.
Am Abend erreichte er schließlich das alte Valmar und ein Gefühl der Heimkehr erfasste ihn, ohne dass er wusste, wieso. Er wagte jedoch nicht, nah genug an die Stadt heranzureiten, dass man ihn hätte erkennen können. So band er den Wallach seines Bruders an den nächsten Baum und pirschte sich vorsichtig näher. Auch wenn es ihm hier sehr friedvoll vorkam, durfte er sich davon nicht täuschen lassen. Immerhin war es möglich, dass er in einen Hinterhalt geriet.
Doch als er den letzten Hügel erklomm und sich gerade so hinter der kleinen Kuppe hielt, dass man ihn nicht sehen konnte, er aber alles im Blick hatte, schimpfte er sich selbst einen Narren. Unter ihm zwischen den Häusern spielten Kinder auf der Straße, während ihre Mütter vor den Häusern saßen, miteinander schwatzten und in Ruhe ihre Arbeiten verrichteten.
Außerhalb der Siedlung sah er Männer auf den Feldern arbeiten oder Holz hacken und in der Sonne schwitzen. Ob sein Bruder wirklich hier war? Er konnte ihn nirgends ausmachen zwischen den ganzen Elben. War dies etwa das Lager der Leute, die seine Mutter und seinen Vater damals verbannt hatten? Er konnte sich kaum vorstellen, dass dieses Volk jemandem etwas Böses wollen könnte. Und wenn er die vielen Kinder sah, konnte er es sich erst recht kaum vorstellen, dass man eine hochschwangere Frau aus der Stadt vertrieb. War sein Vater ein Lügner?
Und noch während er darüber nachdachte, was nun der Wahrheit entsprach und was wohlmöglich frei erfunden war, erblickte er plötzlich seinen Bruder. Er trug andere Kleidung, als die, mit der er von zu Hause geflohen war. Und auf seinem Gesicht lag ein echtes, herzliches Lachen. Noch nie hatte Carim ihn so fröhlich und ausgelassen gesehen. Nicht einmal, als sie noch Kinder waren. Er konnte sich nicht erinnern, dass sein Bruder jemals einen anderen Gesichtsausdruck zur Schau getragen hatte, als Trauer, Verbissenheit oder Ehrgeiz. Dieses Strahlen war ihm fremd.
Aber, als er dem Blick seines Bruders folgte, ahnte er, woran es wohlmöglich liegen konnte, und er erschrak. War das möglich?
Sein Herz rutschte ihm herab bis in seine Stiefel und er fühlte sich plötzlich wieder unendlich allein. So glücklich, wie sein Bruder hier war, konnte er ihm unmöglich unter die Augen treten. Es würde Sahîrim nur an zu Hause erinnern und an das, vor dem er davongerannt war. Wie hätte er ihn da bitten können, wieder mit ihm zurückzukehren.
Von Trauer überwältigt stieg er den Hügel wieder hinab. Obwohl er es nicht wollte, konnte er sich dem Gefühl des Verrats nicht erwehren. Hatte sein Bruder ihn so schnell vergessen? War es so leicht, ohne ihn ein neues Leben zu beginnen?
Ohne sich noch einmal umzudrehen bestieg Carim wieder sein Pferd und schlug den Weg nach Hause ein. Vielleicht würden er und sein Vater irgendwann vergessen können, dass es Sahîrim gegeben hatte. Und vielleicht würde Delos ihn irgendwann als seinen einzigen Sohn akzeptieren und ihm Respekt entgegenbringen.