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Kapitel 16

~ Celeborn

 

„Nun, wie steht es um den zukünftigen Herrscher dieser Stadt?“, sagte Gimli, als er unser Haus betrat. Er nickte meiner Tochter kurz zu, dann kam er zu mir und lächelte mich an. Ich nahm ihn in den Arm, spürte dabei das Kratzen seines rauen Bartes, der mittlerweile mit feinen grauen Strähnen durchzogen war, und bot ihm einen Stuhl an.

 

Mîram beeilte sich dem Gast einen Imbiss auf den Tisch zu bringen, denn sie wusste, dass Zwerge immer Hunger hatten. Als sie Wasser, etwas Brot und Käse brachte, schickte ich sie mit einem Kuss hinaus, ihrem Vater zu helfen. Als wir alleine waren, sah ich den Zwerg tadelnd an. „Du solltest so etwas nicht sagen, alter Freund. Der kleine Mann hier drinnen wird weder herrschen noch befehlen. Er wird ein Bürger wie alle anderen sein.“

 

Gimli schnaubte verächtlich und schob sich ein Stück Käse in den Mund. „Und was macht ihr beide, du und Legolas, hier, wenn nicht den Ton angeben?“

 

Ich seufzte auf. Vermutlich war er nicht der einzige, der so dachte. Es hätte mich auch gewundert. Immerhin hatten sich seit Jahren die Bewohner dieser Siedlung darauf verlassen, dass ich oder mein Gemahl wussten, wohin der Weg gehen würde. Doch ich spürte, dass meine Zeit nun ebenso begrenzt war, wie die eines Sterblichen. Zwar würden mir noch eine Menge Jahre vergönnt sein auf dieser Erde, doch ihre Anzahl war nicht endlos. Mein Leben war endlich geworden. Genauso wie das meiner Angehörigen.

 

"Wir haben ihnen nur einen Weg aufgezeigt, nicht mehr und nicht weniger. Ich hätte es auch nicht anders gewollt. Noch einmal so eine schwere Last zu tragen, wäre mir sicherlich nicht mehr möglich gewesen. Doch so konnte ich ihnen eine Tür zeigen. Hindurch gegangen sind sie ganz alleine."

 

"Aber nicht alle", sagte Gimli und trank noch einen Schluck. "Manche sind geflohen wie feige Hunde!" Seine Faust sauste auf die Tischplatte herab, dass die Teller darauf zu hüpfen begannen. "Den Schwanz eingezogen haben sie, als du ihnen helfen wolltest."

 

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, da mir mein gewölbter Leib nun mehr und mehr im Weg war. Bald würde es zur Niederkunft kommen und obwohl ich schon zwei Kindern das Leben geschenkt hatte, fürchtete ich mich immer noch etwas davor. Keine Geburt glich der anderen. Und das wusste ich so genau, weil ich nicht nur selber geboren hatte, sondern auch bei vielen als Hebamme gedient hatte.

 

Unser Dorf war mittlerweile kein ruhiger Ort der Trauer oder Andacht mehr. Kinder liefen hier herum und lachten und riefen. Es war laut und voll geworden und man sah kaum noch lange Gesichter. Das machte mich besonders glücklich, denn auch, wenn ich mich dagegen wehrte, dass es allein mein Verdienst gewesen sein sollte, konnte ich doch nicht umhin zu behaupten, dass ich zumindest einen kleinen Teil zu diesem neuen Leben beigetragen hatte.

 

Doch Gimli hatte Recht. Es gab nun zwei Lager hier auf Aman. "Glaubst du, sie haben es geschafft?", fragte ich nachdenklich, denn ich machte mir ernsthaft Sorgen. Hatte Delos damals mit seinem Kind überlebt? Hatten die anderen ihn vielleicht gefunden und sich mit ihm zusammengeschlossen? Lebten sie friedlich am anderen Ende dieser kleinen Welt oder waren sie bereits tot?

 

"Du kannst froh sein, wenn sie nicht gegen dich in den Krieg ziehen", grummelte der Zwerg. Er schnitt sich noch ein Stück Käse ab und knabberte genüsslich daran. "Wieso denkst du das, Gimli?", sagte ich verwirrt.

 

Er kaute langsam und schluckte bedacht, dann sagte er: "Nun, die Götter haben dich erwählt, um Ihren Willen unter uns zu verbreiten. Doch Delos hatte vor dir diese Position inne. Auch wenn sie nicht von Ihnen gesegnet war. Doch Sie haben ihn aus Valmar verbannt, haben ihn davon gejagt. Was glaubst du, wie gern er dich hat?"

 

Ungläubig sah ich ihn an. "Denkst du das wirklich? Dass er mich hassen könnte? Wir sind uns doch nie begegnet. Er kennt mich genauso wenig, wie ich ihn kenne. Wie könnte er da gegen mich sein? Ich habe nur versucht, das Beste für dieses vereinsamte Volk zu schaffen." Warum, um alles in der Welt, sollte man mich dafür hassen? Ich hatte doch nichts Unrechtes getan. Oder etwa doch?

 

Meine negativen Gedanken wurden gestoppt, als mein Gemahl unser gemeinsames Haus betrat. Er kam sofort auf mich zu und gab mir einen Kuss auf die Stirn. "Wie geht es dir, meine Liebste?", fragte er und streichelte meinen Bauch. Ich lächelte ihn an. "Mir geht es gut, doch ich fürchte, dass unser Sohn ungeduldig wird." Ich führte seine Hand an meinen Leib und legte sie auf die Stelle, an der mich das Kind gerade trat. "Fühlst du es?"

 

Seine Augen leuchteten auf, als er die kurze Bewegung spürte. Sofort ging er vor mir in die Knie und legte sein Ohr an meinen Bauch. Ich streichelte über seine blonden Haare und konnte mein Glück kaum fassen. Wie sehr hatte ich mir Kinder gewünscht und einen mich liebenden Ehegatten. Und bis noch vor ein paar Jahren hatte ich geglaubt, darauf verzichten zu müssen.

 

"Hallo, mein Sohn", sagte er leise und auch Gimli blickte uns nun warm an. Ich konnte sehen, dass es auch ihn glücklich machte, uns so zu sehen.

 

Plötzlich spürte ich jedoch einen Schmerz in meinem Unterleib. Ich zuckte zusammen und stöhnte. Sofort sprangen beide auf und traten an meine Seite. Mîram eilte von draußen ins Haus hinein und sah mich erschrocken an. Alle drei begannen gleichzeitig, auf mich einzureden. Sie fragten mich, was geschehen sein und ob es mir gut ginge, doch ich konnte nicht antworten. Der stechende Schmerz pulsierte in mir und machte jeden Gedanken an etwas anderes unmöglich. Das einzige, was ich dachte, war: geht es dem Kind gut?

 

Endlich schien die Pein ein wenig zu schwinden. Ich löste meine verkrampfte Hand von der Stuhllehne und sah Legolas in die Augen. Sorge stand darin und ich konnte sie ihm nicht einmal verdenken. Ich wollte schon sagen, dass alles in Ordnung war und es mir wieder gut ginge, da schrie meine Tochter auf. Verwirrt sahen wir sie an, doch ihr Blick war auf den Boden unter meinen Füßen gerichtet. Ich folgte ihm und sah an mir herunter.

 

Blut tropfte von meinem Stuhl auf das Holz. "Nein", stöhnte ich und umklammerte meinen Bauch, als hoffte ich dadurch das sich anbahnende Unheil aufhalten zu können. "Nicht mein Sohn!"

 

Augenblicklich reagierten alle. Legolas hob mich vorsichtig hoch und trug mich nach oben in unser Schlafzimmer. Gimli schob unsere Tochter nach draußen und befahl ihr, Ithil-dî zu holen.

 

Währenddessen saß mein Gemahl an meiner Seite und hielt meine Hand. Ich weinte jetzt, denn meine Angst, das Kind zu verlieren, wurde größer, je mehr Blut ich verlor. Ich konnte spüren, wie es warm an den Innenseiten meiner Oberschenkel herabrann und ich konnte es nicht aufhalten. Würde unser Sohn überleben?

 

Wie hatte es dazu nur kommen können? Ich hatte mich geschont, hatte keine schweren Arbeiten mehr verrichtet, seit ich wusste, dass ich das dritte Kind erwartete. Mein Körper war nicht mehr jung und ich wusste, wie gefährlich es war, noch einmal eine Geburt durchzustehen. Aber ich hätte nie damit gerechnet, dass es tatsächlich so riskant war. Immerhin war ich so gesund, wie man in meinem Alter nur sein konnte.

 

Während wir auf meine Cousine warteten, streichelte Legolas mir über den Kopf und versuchte mich zu beruhigen. Es gelang ihm auch ein Stück weit, doch als die nächste Schmerzwelle mich überrollte, schrie ich. Ich konnte nicht mehr an mich halten, denn ich spürte, dass mein Kind sterben würde, wenn es nicht bald zur Welt kam. Es musste so schnell wie möglich geboren werden.

 

Als Ithil-dî endlich kam, lag bereits alles bereit. Gimli hatte Wasser in einem Kessel erhitzt und frische Tücher damit getränkt. Diese hatte er Legolas gereicht, der damit meinen Unterleib gewaschen hatte. Die Wärme hatte mich zwar erst ein wenig entspannt, doch als der raue Stoff auf meine leicht aufgerissene Haut getroffen war, hatte ich ihn angefleht, aufzuhören. Nun lag ich bereits seit über zwei Stunden hier und wimmerte unter den Schmerzen.

 

Es war ein Wunder, dass ich noch bei so klarem Verstand war. Vermutlich hielt mich die Angst um meinen Sohn so weit in der Wirklichkeit, wie es nur möglich war. Ich wollte nicht in die Dunkelheit gleiten. Vielleicht würde er bereits tot sein, wenn ich wieder erwachte.

 

"Du musst dich entspannen", sagte Ithil-dî und tastete erneut meinen Bauch ab. "Dein Sohn hat sich noch nicht gedreht. Ich kann seinen Kopf noch hier spüren." Ihre Hände drückten leicht auf eine Stelle oberhalb meines Nabels.

 

"Was können wir tun?", fragte Legolas leise. Er wollte mich nicht beunruhigen, doch ich hätte ihm sagen können, dass es dazu bereits viel zu spät war. "Ich muss das Kind in ihrem Leib drehen", sagte sie und blickte ihn fest an. "Doch es wird vermutlich sehr schmerzhaft für sie sein. Wenn du es ertragen kannst, darfst du hier bleiben. Wenn nicht, solltest du gehen. Es wird sicherlich kein schöner Anblick werden."

 

Ich begriff nicht, was sie damit sagen wollte. Wie hätte sie mein Kind drehen können, wenn es noch in mir drin war? Als sie jedoch auf mich zukam, Legolas sich an meine Seite kniete und meine Hand nahm, verstand ich es plötzlich doch. "Nein!", rief ich und wollte mich wegdrehen. Doch Ithil-dî packte meine Beine und zerrte sie wieder herunter.

 

"Ich weiß, dass es sehr schmerzlich werden wird", sagte sie, "aber wenn wir es nicht tun, wird dein Sohn ersticken. Sein Herzschlag wird bereits schwächer. Du musst es ertragen - für ihn!"

 

Natürlich wusste ich, dass sie Recht hatte, doch ich fürchtete mich. Noch nie hatte ich solche Angst empfunden, nicht einmal, als ich gesehen hatte, wie Haldir damals getötet worden war. Dieses Mal jedoch ging es um mein eigen Fleisch und Blut. Es ging um meinen Sohn.

 

Draußen war es mittlerweile dunkel geworden. Der Himmel war klar und die Sterne leuchteten um die Wette. Ich konnte sie durch das Fenster sehen. Und plötzlich war mir, als sähe ich Varda. Sie lächelte mich an und zwinkerte mir zu, als wenn sie sagen wollte, dass alles gut werden würde. Ich ließ meinen Kopf zurück in die Kissen sinken und stöhnte erneut auf. "Gib mir etwas, worauf ich beißen kann", sagte ich mit schwacher Stimme und Legolas schob mir ein Stück Stoff zwischen die Zähne.

 

Dann begann es. Sofort riss der Schmerz mich aus unserem Schlafzimmer fort und trug mich weit über die Ebene hinaus aufs Meer zu. Es war mir, als flöge ich über das Wasser, sah die Schaukronen der Wellen im Licht des Mondes leuchten und fühlte mich federleicht. Lange glitt ich so dahin, bis vor mir die Küste Mittelerdes auftauchte. Ich erkannte sie nicht sofort, doch als ich schließlich das Nebelgebirge vor mir aufragen sah, wusste ich, dass meine Seele zu meinem Vater flog.

 

Celeborn war alt geworden. Tiefe Falten zeichneten sein edles Gesicht und ich wusste nicht, ob sie vielleicht wirklich nur vom Alter herrührten, oder ob es sich auch um Sorgenfalten handelte. Er trug eine dunkle Robe, die im Licht der Sterne beinahe schwarz wirkte, und einen silbernen Reif um die Stirn. Er sah noch beinahe genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte.

 

Meine Seele flog auf ihn zu und landete neben ihm. Erst schien er mich nicht zu bemerken und es verwunderte mich auch nicht. Doch dann drehte er sich zu mir um und sah mir direkt in die Augen. "Da bist du ja, meine Tochter", sagte er liebevoll und kam auf mich zu. "Ich wusste, du würdest eines schönes Tages noch einmal zu mir zurückkehren, bevor auch ich in Mandos' Hallen eintrete."

 

"Du stirbst?", fragte ich verwundert, die Tatsache vergessend, dass er mich eigentlich gar nicht bemerken dürfte. "Aber wie kann das sein?"

 

Gütig lächelte er mich an und mit einem Mal war er wieder jung. "Du weißt die Antwort. Und wenn auch du nicht dem Tode nahe wärst, könntest du nicht hier sein. Vermutlich ist es ein Schock für dich, aber glaube mir: deine Zeit ist noch nicht gekommen."

 

Traurig sah ich ihn an. "Woher willst du das wissen?"

 

Sein Lächeln wurde breiter und er nahm mich bei den Händen. Er führte mich hinunter in die Gärten von Imladris, die sich seit meinem letzten Besuch hier nicht verändert zu haben schienen. Auf einer Bank neben einem kleinen Flusslauf nahmen wir Platz. "Meine Voraussicht hat es mir verraten. Ich war in Gedanken immer bei dir und habe dich beobachtet. Ich habe gesehen, was aus dir geworden ist und mein Herz ist von Stolz erfüllt. Und da ich weiß, dass dir noch etliche Jahre vergönnt sind, macht es mich auch nicht traurig, dass ich diese Welt bald verlassen muss. Trauere nicht um mich, sondern erfreue dich an dem neuen Leben, welches du dieser Welt schenkst."

 

Eine Träne rollte meine Wange hinab. Er strich sie mit dem Daumen weg und küsste mich auf die Stirn. "Du magst vielleicht das Unheil über dich und dein Volk gebracht haben, als Delos verbannt wurde. Doch eine deiner Töchter wird diesen Fehler wieder gutmachen. Erinnere dich daran, Silme-nîn."

 

Ein letztes Mal küsste er mich auf die Stirn, dann verblasste die östliche Welt wieder für mich und mein Geist kehrte Heim in den Westen.

© by LilórienSilme 2015

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