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Kapitel 16

 

~ I didn’t dart the Fire

 

Viel zu schnell war auch die Zeit in Prag zu Ende gegangen und während die letzten Szenen noch abgedreht wurden, wurde in London bereits eifrig an der Nachbereitung gearbeitet. Andrew hatte schon ein paar Szenen mit vollständigen Computeranimationen erhalten und sie Vittoria gezeigt. Sie war begeistert von der Technik und konnte es nicht fassen, dass die Schlachtszene sogar noch viel besser aussah, als sie es sich damals in ihrer Fantasie ausgemalt hatte. Es schien beinahe unglaublich, was ein Computer errechnen und erstellen konnte.

 

„Schau dir diese Wurzel von dem Baum da an!“, rief sie begeistert aus und zeigte aufgeregt auf den Bildschirm. „Die Vorlage hat ja leider keine richtig große Schlachtszene geliefert, aber was daraus gemacht wurde, ist echt der Wahnsinn.“

 

Andrew sah sie stolz an und legte einen Arm um ihre Schultern. „Du meinst wohl, was du daraus gemacht hast“, sagte er und gab ihr einen Knuff in die Seite. Sie winkte schnell ab, murmelte etwas von „Unsinn“ und verließ daraufhin hochrot den Raum. Aber Andrew war noch nicht fertig mit ihr. Er lief ihr hinterher und fing sie auf dem Flur wieder ab. „Ich wollte dich noch etwas fragen, Vic.“

 

Überrascht sah sie ihn an. „Hab ich etwas gemacht?“, fragte sie unsicher und zog die Schultern hoch. „Nein, nein, keine Sorge!“, sagte er schnell und zog sie an den Rand des Flurs. Er hatte bisher nur Isis, der Kostümbildnerin, von seiner Idee erzählt und wollte nichts riskieren, bis sie Ja gesagt hatte. „Ich wollte dich nur etwas Fragen. Eine Kleinigkeit, wenn du so willst.“

 

Skeptisch sah sie ihn von der Seite an. „Eine Kleinigkeit also?“, fragte sie daher vorsichtig und rückte unweigerlich ein paar Zentimeter von ihm weg. „Was willst du von mir?“

 

„Eigentlich möchte ich dir einen Gefallen tun“, sagte er und grinste sie an. Hoffentlich würde sie es nicht als Anschlag auffassen. „Ich hab mir gedacht, dass bei der letzten Szene, die wir heute und morgen noch drehen wollen, ja jede Menge Leute im Hintergrund in tollen Kleidern rumstehen. Und weil du so tolle Arbeit geleistet hast, habe ich mir überlegt, dass du ja vielleicht auch mitmachen könntest, wenn die Pevensies und Kaspian feierlich in das telmarische Schloss einziehen. Was meinst du?“

 

Als sie begriff, dass es bedeuten würde, dass sie sich selbst vor die Kamera stellen sollte, setzte ihr Gehirn automatisch aus. Ihre Kehle schnürte sich zu, ihr Mund wurde trocken und ihr brach der Schweiß in kalten Bächen aus. Sie schluckte schwer, versuchte aber noch ein Lächeln zustande zu bringen. „Muss das sein?“, flüsterte sie, weil sie befürchtete, ihre Stimme würde ihr sonst versagen.

 

Andrew sah enttäuscht aus, als sie das sagte. „Ich dachte, es würde dir vielleicht Spaß machen“, sagte er und ließ sie wieder los. „Oh ja“, sagte sie, „wir haben ja beim letzten Mal gesehen, wie viel Spaß es mir macht, wenn mich alle anstarren. Und vor allem, welchen Blödsinn ich dann mache.“

 

Andrew musste ein Lachen unterdrücken, als er an die Szene vor dem magischen Baum zurück dachte, und hielt sich, in der Hoffnung, das Lachen als Husten tarnen zu können, eine Hand vor den Mund. Bevor Vittoria genervt verschwinden konnte, riss er sich zusammen. Er hielt sie am Handgelenk fest und drehte sie zu sich um. „Dieses Mal wäre es aber anders. Niemand würde dich anstarren, weil du ja nur eine von Vielen wärst.“ Als er das gesagt hatte, hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Keine Frau mochte es, so bezeichnet zu werden.

 

Doch Vittoria sah das anders. Ihr Gesicht hellte sich auf. „Du meinst also, dass ich gar nicht auffallen würde unter den vielen Leuten?“ Und Andrew nickte. „Okay, ich überleg es mir. Wie lange hab ich Zeit?“

 

Demonstrativ sah er auf seine Uhr, überlegte ein paar Sekunden, dann sagte er: „Ich gebe dir genau fünf Minuten. Wenn du willst, sieh dir das Kostüm an, was Isis für dich gemacht hat. Es hängt in der Garderobe.“ Und ohne ein weiteres Wort verschwand er Richtung Set.

 

Verwirrt blieb sie alleine auf dem Flur zurück und sah ihm nach. Das klang verdächtig nach einem Andrew Adamson-Plan, wenn sie es recht bedachte. Wenn er nicht etwas ausgeheckt hatte. Hoffentlich würde es nicht allzu peinlich werden. Wobei es wohl kaum peinlicher als dieser Kuss vor versammelter Mannschaft sein konnte. Zum Glück war es für sie und Ben gleich unangenehm gewesen. Die Sache mit der Dusche hatte sie ihm mit Cassandra heimzahlen wollen. Doch irgendwie war die Aktion nach hinten losgegangen und sie hatte sich selbst als Opfer der Rothaarigen wieder gefunden. Das Veilchen um ihr rechtes Auge zeugte davon.

 

Doch eigentlich war sie gar nicht mehr sauer auf ihn deswegen. Sie konnte ihn einfach so nicht leiden. Es mochte zwar sein, dass der letzte Abend ganz nett gewesen war und sie hatten sich auch ganz normal unterhalten können, aber er blieb trotzdem ein verzogenes Weichei, obwohl er bereits sechsundzwanzig war. Als kleiner Milchbubie machte er sich in der Rolle des jugendlichen Prinzen ganz gut, aber ob er jemals ein ernst zu nehmender Schauspieler werden würde blieb für sie fraglich.

 

In Gedanken darüber, dass er ihr gestern den einen oder anderen Drink ausgegeben hatte, weil er ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber hatte, schlenderte sie zu den Garderoben. Selbst wenn Andrew ihr fünf Minuten gegeben hatte, sie würde daraus einfach fünfzehn machen. Wieso hatte er eigentlich ein schlechtes Gewissen? Selbst wenn Cassandra wirklich seine Freundin war, war es doch nicht seine Schuld gewesen, dass sie ihr eine Ohrfeige verpasst hatte. Aber wenn sie es genau bedachte, konnte sie besser damit leben, wenn er sich schuldig fühlte. So konnte sie die Sache mit der Dusche vielleicht damit verrechnen.

 

In der Garderobe angekommen staunte sie erst mal nicht schlecht. Bisher war sie noch nie hier drin gewesen und war beeindruckt von der Vielfalt und der Masse an Kostümen, die hier hingen. Besonders toll fand sie immer noch Susans Kleider. Einerseits waren sie ziemlich kitschig und prinzessinnenhaft, aber andererseits hatten sie auch immer einen praktischen Hauch. Und außerdem träumte schließlich jedes Mädchen irgendwann einmal davon, eine Prinzessin zu sein.

 

„Hallo Vittoria“, hörte sie eine Stimme gedämpft durch die vielen Stoffe, die sie umgaben, und gleich darauf schob sich Isis nach vorne. Sie hatte einen Riemen über der Schulter, auf dem sie Nadeln und andere Sachen aufgereiht hatte, die sie zum Nähen und Abstecken benötigte. „Bist du hier, um dir das Kostüm anzusehen?“

 

Vittoria nickte leicht. Irgendwie hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass ein so aufwendiges Teil extra für sie gemacht worden war. Wenn es ihr nun nicht gefiel und sie kalte Füße bekam? Dann wäre alles umsonst gewesen.

 

Doch der Gedanke, dass es ihr nicht gefallen könnte, verpuffte, als sie das Kleid sah. Es war aus hellgrünem Stoff genäht, hatte einen weit ausgestellten, leichten Rock, auf dem im Licht goldene Blumenapplikationen schimmerten. Es gab kleine Ärmelchen aus Gold und auf dem Korsett prangte ein Dreieck mit der Spitze nach unten, was eine schmale Taille und ein tolles Dekollete zaubern würden, in dem gleichen goldenen Saum, den auch Kaspian an seinem Wams hatte. „Es sieht toll aus“, hauchte sie und berührte vorsichtig den Stoff. „Und das ist alles nur für mich?“ Ungläubig betrachtete sie es eine Weile, bis Isis sie ermutigte, es doch einmal anzuprobieren.

 

Kurze Zeit später schmiegte sich der Stoff an ihre Haut und sie fühlte sich pudelwohl darin. Wenn es im Mittelalter nur solche Kleider gegeben hätte, hätte sie liebend gerne zu der Zeit gelebt. „Du siehst toll aus!“, sagte die Kostümbildnerin und betrachtete ihr Meisterwerk von allen Seiten. „Sitzt wie angegossen. Man, bin ich gut!“ Sie lachte auf.

 

„Meinst du, ich soll das wirklich anziehen?“, fragte Vittoria. Sie betrachtete sich skeptisch im Spiegel von oben bis unten. Wenn sie es recht bedachte, hätte sie das Kleid sogar am liebsten mit nach Hause genommen. Aber irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass man sie damit die ganze Zeit anstarren würde. Und selbst wenn noch hunderte andere Menschen neben ihr standen, man würde sie trotzdem sehen.

 

Isis prüfte ein paar Stellen ab, ob das Kleid wirklich gut saß. „Ich finde, es steht dir prima! Alle werden dich wunderhübsch finden.“

 

„Genau das macht mir ja Sorgen“, flüsterte sie und strich sich den Rock glatt. „Ich glaube nicht, dass ich das tragen möchte. Aber dann hast du dir ja die ganze Arbeit umsonst gemacht. Also habe ich eigentlich keine andere Wahl, als es anzuziehen, oder?“

 

Am liebsten hätte sie der Kleinen einen Schubs verpasst, aber Isis spürte, dass Vittoria sich nicht wohl in ihrer Haut fühlte. Obwohl das Kleid wirklich umwerfend aussah, behagte es ihr offensichtlich in ihrem Schlabberlook lieber hinter der Kamera zu stehen. „Das Kleid passt auch noch Sarah, einer Statistin“, lenkte sie schließlich ein, nachdem sie innerlich mit sich gefochten hatte. „An ihr habe ich Maß genommen. Wenn du es also nicht tragen möchtest, werde ich es ihr geben. Dann musst du kein schlechtes Gewissen haben, dass du es nicht anziehst. Ich an deiner Stelle würde es mir aber noch mal überlegen. Du siehst wirklich toll darin aus. Die Farbe schmeichelt deiner Haut und deinen Augen sehr.“

 

Vittoria warf noch einen Blick in den Spiegel. „Ich überlege es mir“, versprach sie. Dann ging die Türe zur Garderobe auf und Ben steckte den Kopf herein. Er rief nach Isis. Vittoria erkannte seine Stimme sofort. Erschrocken weiteten sich ihre Augen. Wenn er sie in dem Kleid sehen würde, würde er sich über sie lustig machen.

 

Während Isis sich entschuldigte und nach vorne eilte, beeilte Vittoria sich das Kleid schnell wieder auszuziehen, bevor sie jemand so sehen konnte, und hängte es auf seinen Bügel zurück. Sie streifte sich ihre Jeans wieder über, zog ihr Unterhemd an und band sich die Schuhe. Gerade war sie dabei, ihren Pulli überzustreifen, als Ben den Kopf zwischen den Kostümen hindurch steckte. „Ist mein Gürtel vielleicht hier?“, fragte er, ohne sie richtig anzusehen. Als er sie erkannte, huschte ein undefinierbares Lächeln über seine Lippen. „Guckst du dir die hübschen Kleidchen an?“

 

Irgendwie hatte sie geahnt, dass er es lustig finden würde. Sie zog sich ihre Haare aus dem Kragen und strich sie glatt. „Ich hab nur mal sehen wollen, wie es hier drin aussieht“, sagte sie schnell, wie sie hoffte, nicht zu schnell. „Ich war nämlich noch nie hier drin.“

 

Ohne mehr dazu zu sagen, zog er den Kopf wieder zurück, rief daraufhin, dass er seinen Gürtel gefunden hatte und verschwand so schnell er gekommen war. Vittoria atmete erleichtert aus. Das war knapp gewesen. Sie beeilte sich wieder den Raum zu verlassen, rief Isis noch schnell zu, dass sie ihr dankte, das Kleid aber lieber Sarah geben sollte, und warf die Tür hinter sich zu. So lieb Andrew das auch gemeint hatte, ihr Platz war nicht vor der Kamera. Sie wusste zwar noch nicht genau, wo er tatsächlich war. Aber sie war sich ziemlich sicher, wo er nicht war. Auf Zelluloid gehörten richtige Schauspieler und keine Schriftsteller.

 

Als sie in ihrem üblichen Look am Set erschien, machte Andrew ein enttäuschtes Gesicht. Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern und setzte sich neben ihn. „Das ist nichts für mich“, sagte sie. „Es war nett gemeint von dir, aber ich sitze lieber neben dem Regisseur.“ Ihr Kompliment verfehlte seine Wirkung nicht und er lächelte wieder. Er nahm sie in den Arm. „Schon gut“, sagte er. „Ich möchte diese letzten beiden Tage nur schnell hinter mich bringen.“

 

Doch das war nicht so einfach, wie er sich das vorgestellt hatte. Dank der vielen Darsteller war es schwierig alles zu koordinieren und den restlichen Tag verbrachte er fast nur damit, jedem seinen Platz zuzuweisen. Abends war er so geschafft, dass er kaum noch etwas sagen konnte. Er rief nur, dass es Feierabend für alle war, und verschwand daraufhin im Taxi zum Hotel.

 

Vittoria hingegen hatte noch genügend Energie und gesellte sich zu Anna und Georgie in deren Garderobe. „Ihr seht richtig schick aus in euren Kleidern“, sagte sie und bürstete der Jüngsten vorsichtig die Zöpfe aus der Frisur.

 

„Solltest du nicht auch eins bekommen?“, fragte Anna, während sie sich wieder anzog. Doch Vittoria machte nur ein ausweichendes Geräusch. Sie hatte keine Lust darüber zu reden. Ein falsches Wort zu Benji, und er hätte wieder einen Grund mehr sich über sie lustig zu machen. Dass sie nur darauf gewartet hätte, sich auch in so einen Fummel zu schmeißen.

 

Sie wusste gar nicht, wieso sie so viel Wert darauf legte, was er von ihr dachte. Wahrscheinlich dachte sie, dass er genug Einfluss auf genügend Leute hätte, die sie während der ganzen Monate, die sie bei diesem Projekt verbracht hatte, kennen und schätzend gelernt hatte, dass er sie lächerlich machen konnte. Zum Glück hatte er das Fiasko mit der Dusche nicht ausgeplaudert, weil er dann auch hätte zugeben müssen, dass sie mit der Schampooflasche ziemlich gut gezielt hatte. Und den Kuss hatte wohl leider jeder mitbekommen. Sie könnte sich immer noch dafür ohrfeigen, dass sie das getan hatte.

 

Ohne, dass sie es wollte, lief sie tiefrot an und beschäftigte sich noch intensiver mit Georgies Haaren. Als es da nichts mehr zu kämmen gab, flocht sie ihr einfach einen Bauernzopf, um ihre Hände weiter zu beschäftigen und ihr Gesicht hinter ihrer braunen Mähne verbergen zu können.

 

„Gehen wir heute Abend ein letztes Mal in den Pub?“, fragte Anna. Vittoria überlegte kurz, ob sie dafür Zeit haben würden. Aber der Rückflug würde erst übermorgen Nacht gehen. Heute konnten sie noch einen gemütlichen Abend miteinander verbringen. Da sprach nichts gegen. Also nickte sie. „Gut, ich warte in der Lobby auf euch. Ich muss noch mit meinen Eltern telefonieren, dass sie mich auch am Flughafen abholen kommen.“

 

Später auf ihrem Zimmer stand sie vor ihrem Kleiderschrank und überlegte, ob sie sich vielleicht ein wenig schicker anziehen sollte. Aber sie entschied sich dagegen. Sie hasste es, wenn sie sich in ihrer Kleidung nicht wohl fühlte. Sie entschied sich nur für ihre neuen Chucks, die sie bisher noch nicht angehabt hatte. Dann ging sie nach unten.

 

In der Lobby wartete Anna bereits auf sie. Sie strahlte und freute sich offensichtlich wieder nach Hause zu können. Vittoria selbst wusste noch nicht so genau, ob sie lachen oder weinen sollte. Seit sie damals in Neu Seeland mit Lelex telefoniert hatte, war ihr Handy irgendwie unauffindbar gewesen. Sie konnte sich noch erinnern, es wütend in den Wald geworfen zu haben, aber wieder gefunden hatte sie es nicht. Deswegen hatte sie auch nicht mehr mit Meg gesprochen. Das würde erst anstehen, wenn sie wieder in London war. Und bei dem Gedanken zog sich ihr Magen zusammen. Was würde sie ihrer besten Freundin nur sagen?

 

„Da sind die Jungs!“, rief Anna begeistert und zog Vittoria mit sich. Sie hatte keine andere Wahl als mitzukommen. Will mochte sie auch ganz gerne. Aber wieso mussten sie immer Ben mitnehmen? Eigentlich hätte er als Kaspian mehr Szenen haben und auch viel mehr arbeiten müssen. Nur irgendwie war ihr das nicht aufgefallen. Jedes Mal, wenn sie etwas mit Anna und Georgie unternehmen wollte, hatten sich die Jungs zu dritt angeschlossen. Er war immer dabei gewesen.

 

Mittlerweile hatte sie sich an seine Gegenwart gewöhnt und es brachte sie auch nicht mehr so zur Weißglut. Nur wenn ihm mal wieder ein blöder Spruch rausgerutscht war, hätte sie ihn am liebsten zum Mond geschossen. Doch sie beschloss, dass sie es für die letzten paar Stunden noch mit ihm aushalten und ihn auch bald bei der Premiere ertragen konnte. Zumindest hoffte sie das.

 

Im Pub herrschte wie immer eine leicht neblige Atmosphäre. Zigarettenrauch hing in der Luft, es roch nach schalem Bier und irgendwo im Hintergrund lief ein Fußballspiel, für das sich kaum jemand interessierte. Sie nahmen an dem üblichen Tisch in der Ecke platz und jeder studierte die Karte. Vittoria rückte ganz in die Ecke, Anna setzte sich neben sie und Ben pflanzte sich auf den Sitz ihr gegenüber. Wahrscheinlich hatte Will das vorher mit ihm besprochen, damit er Anna besser in die Augen sehen konnte. Er war irgendwie niedlich, dachte Vittoria, wie er Anna immer vorließ, ihr die Tür aufhielt und sie jedes Mal fragte, ob sie noch etwas benötigte. Ein richtiger Gentleman. Wenn er nicht so jung gewesen wäre, hätte er ihr sogar gefallen können. Aber sie war der Meinung, dass Männer nicht mal wussten, was sie wollten, wenn sie bereits dreißig waren. Wie sollte ein Junge von grade mal zwanzig wissen, was los war. Doch als Freund war er definitiv eine Bereicherung. Und ein gutes Polster, wenn es mal wieder zu Spannungen zwischen ihr und Ben kam.

 

„Wisst ihr schon, was ihr trinken wollt?“, fragte Will in die Runde und erhob sich, um zur Theke zu gehen. Die erste Runde ging wie immer auf ihn. „Ich nehme eine Bacardi-Cola, wenn die das hier haben“, sagte Vittoria, ohne in die Karte zu gucken. Ben orderte ein Bier und Anna sagte, dass sie noch etwas bräuchte und danach selber gehen würde, da sie ohnehin noch die Toiletten aufsuchen musste.

 

Als Will gegangen war und Anna immer noch in die Karte gucke, sah Ben Vittoria amüsiert an. „Ich habe bisher nur gehört, dass es so was geben soll“, sagte er, „aber noch nie gesehen, dass es tatsächlich Frauen gibt, die wissen, was sie wollen.“

 

Und das war wieder einer dieser Momente, in denen sie ihm am liebsten über den Mund gefahren wäre und ihm eine verpasst hätte. Da sie aber bisher mit Gewalt nicht wirklich weit gekommen war, legte sie den Kopf schief und sah ihn an, als wäre sie neun und würde ihrem Idol gegenüber stehen. „Stell dir vor“, sagte sie, „es soll sogar schon Frauen geben, die Auto fahren können und arbeiten gehen.“

 

In diesem Moment kam Will mit den Getränken zurück und lachte laut auf, als er das verdutzte Gesicht seines Kollegen sah. Ben jedoch fasste sich schnell wieder, nahm Will das Bier ab und sagte, indem er Vittoria die Falsche hinhielt: „Dein Zynismus ist mal wieder äußerst erfrischend.“ Sie grinste ihn frech an, nahm ihr Glas und ließ es gegen die Flasche klirren. „Na, auf dieses nette Kompliment trinke ich aber!“, rief sie und nahm einen kräftigen Schluck.

 

Anna entschuldigte sich und ging in Richtung Toiletten. Vittoria war nicht scharf darauf, mit den Jungs alleine zu sein, aber Georgie und Skandar waren definitiv noch zu jung, um sich in der Öffentlichkeit in einem Pub sehen zu lassen. Trotzdem hätte sie sich lieber die Kleine zum Gesprächspartner gewünscht, als den Briten mit den großen brauen Augen. Auch wenn sie braune Augen äußerst anziehend fand, konnte auch diese eine positive Eigenschaft nicht wirklich über die restlichen negativen bei ihm hinweg helfen. Deswegen wandte sie sich an Will. „Weißt du schon, ob neue Angebote auf dich warten, wenn du nach Hause kommst?“

 

Er seufzte tief, weil er dieses Thema eigentlich vermeiden wollte. Obwohl er ziemlich früh mit der Schauspielerei angefangen hatte, hatte es bis zu den Narnia-Filmen nie wirklich geklappt, eine gute Rolle zu bekommen. Manchmal hatte er sogar schon begonnen an sich selbst zu zweifeln, ob das wirklich der richtige Beruf für ihn war. Doch wenn er dann vor der Kamera stand, vergaß er das alles und ging richtig in dieser Sache auf. Nur wenn wieder ein Casting anstand, wurde er nervös wie ein Schuljunge und hatte Angst davor, den Text zu vergessen. Weil ihm die Sache aber unglaublich peinlich war, sagte er stattdessen: „Nein, ich werde die Zeit nutzen und zu meinen Eltern nach Sheepscombe fahren. Der Trubel war mir doch etwas zu viel und ich denke, dass es mal wieder ganz schön wird, nichts zu tun.“

 

„Ja, ich weiß, was du meinst“, sagte Ben und ignorierte dabei völlig die Tatsache, dass er in dieses Gespräch gar nicht mit eingebunden werden sollte. „Wenn ich nach Hause komme, ist es die erste Zeit wirklich toll, einfach den Tag zu planen, wie es einem gefällt. Keiner sitzt einem im Nacken, man muss keinen Text auswendig lernen, man muss nicht Reiten oder Kämpfen lernen, man genießt es einfach, auf der faulen Haut zu liegen. Aber das wird schnell langweilig und dann komme ich mir richtig überflüssig vor.“ Er spielte mit seinen Fingern, die um die Bierflasche lagen, und sah dabei an ihr vorbei auf irgendeinen Punkt im Raum, den nur er sehen konnte. Er kam ihr fast ein wenig traurig vor. Doch dann biss sie sich auf die Lippen und runzelte die Stirn. Schließlich war es nicht ihre Sache, was er in seiner Freizeit machte.

 

Will jedoch konnte zu gut verstehen, was Ben dachte. Auch er hatte nach den Dreharbeiten zu „Der König von Narnia“ das Gefühl habt, in ein Loch zu fallen. Wenn man arbeitete, hatte man ständig Leute um sich herum, die auch permanent etwas von einem wollten. Das war so lange schön, wie man es aushalten konnte. Aber wenn man dann alleine zu Hause saß und einem die Decke auf den Kopf fiel, wünschte man sich zurück. Er konnte Peter sehr gut verstehen, wenn er sich zurück nach Narnia wünschte. Auch er wäre lieber dort als hier.

 

„Ihr seid mir eindeutig zu negativ“, sagte Vittoria, als sie die beiden sah, wie sie ihren Kopf auf die Hände aufgestützt hatten und in die Ferne starrten, als wäre jemand gestorben. Schauspieler waren wirklich ein seltsames Völkchen. Sie erhob sich, ging zur Bar, bestellte noch eine Runde Getränke und reichte jedem seins. „Los, austrinken!“, befahl sie. „Das macht euch hoffentlich wieder etwas munter. Wenn ihr nämlich hierher gekommen seid, um Trübsal zu blasen, können wir auch gleich schlafen gehen.“

 

„Wer geht schlafen?“, fragte Anna, als sie mit einem Eistee endlich an den Tisch zurück kehrte. Vittoria wies mit dem Daumen auf die beiden Jungs. „Na, die zwei Kaffeetanten hier! Hilf mir, sie ein wenig aufzumuntern. Ich will meinen letzten Abend in der Goldenen Stadt nicht mit diesen langen Gesichtern verbringen.“

 

Doch ein Aufmunterungsversuch war nicht mehr nötig. Ben blickte auf, als er hörte, wie sie ihn bezeichnet hatte, und fuhr auf. „Wer ist hier eine Kaffeetante?“, empörte er sich. Gleich darauf schob er Vittoria einen Spruch zurück über den Tisch und zwischen den beiden entbrannte eine hitzige Diskussion, die Anna und Will zu ignorieren versuchten. Allerdings gelang ihnen das nicht so wirklich und bald waren auch sie eingebunden.

 

Viel später lag dann jeder in seinem eigenen Bett und starrte an die Decke. Obwohl alle sich am Ende nur noch blöde Sprüche zugeworfen und sich über den anderen geärgert hatten, hatte jeder einzelne von ihnen das Gefühl, dass sie das alles vermissen würden. Vittoria lächelte leicht, als sie daran dachte. Wie sollte sie nur ohne Annas ruhige, Wills zuvorkommende und Bens ätzende Art in London überleben?

© by LilórienSilme 2015

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