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Kapitel 15

~ Rache in Isengart

 

Laute Geräusche drangen an mein Ohr. Ich versuchte mich aufzusetzen, doch als ich mich auf meinen linken Arm stützen wollte, sank ich sofort wieder zurück. Nicht, dass ich Schmerz verspürt hätte, mein Arm war einfach nur zu schwach, um mein Gewicht zu halten. Ich spürte überhaupt nichts mehr als endlose Leere, die mein Herz, meine Seele und mein ganzes Dasein zu verschlingen schien. Unendliche Trauer erfasste mich, doch ich musste schon eine ganze Weile geweint haben, denn nun hatte ich keine Tränen mehr.

 

Etwas kühlte meine Stirn und ich blickte auf. Eowyn kniete neben mir und tupfte den Schweiß mit einem Tuch von meinem Gesicht. Sie lächelte mich an und ich wusste, dass sie nur versuchte, mir ein wenig Mut zu machen, aber ich empfand es als blanken Hohn. Ich schlug ihre Hand bei Seite und setzte mich mit einem Ruck auf, wobei ich dieses Mal meinen rechten Arm benutzte.

 

Ich erkannte, dass ich nicht mehr in der Hornburg, sondern in den Höhlen dahinter war. Jemand musste mich hierher gebracht haben. „Der Heerführer Aragorn hat Euch bewusstlos hierher gebracht“, beantwortete die Schildmaid meine unausgesprochene Frage. „Euer Arm ist gebrochen. Ein Stein hat Euch Elle und Speiche zerschlagen. Ihr solltet ruhen.“

 

Das erklärte mir, warum mein Arm so schwach war. Doch ich konnte mich nicht mehr erinnern, wann ich mir diese Verletzung zugezogen haben sollte. Auch konnte ich mich nicht entsinnen, von Aragorn hierher gebracht worden zu sein. Alles, was mir im Gedächtnis geblieben war, waren Haldirs Augen, wie sie mich leer anstarrten und wie er in meinen Armen gestorben war.

 

Wut packte mich. Ich sah mich um, doch ich konnte meine Waffen nirgends finden. Nur mein Bogen lag zersplittert neben mir, meine Schwerter waren verschwunden. Eowyn packte mich an der Schulter und wollte mich herumdrehen, doch ich stemmte mich dagegen und schritt auf die einzige Tür zu, die dieser Raum hatte. Dahinter wartete Théoden von Rohan mit seinen Männern und ich konnte hören, wie ein Rammbock gegen den Ausgang schlug, immer und immer wieder.

 

Der Feind hatte die Burg also eingenommen. Ich mochte mir gar nicht erst vorstellen, was sie mit den Leichen derer gemacht hatten, die gegen sie im Kampf gefallen waren. Entsetzt trat ich auf den König zu, der sagte: „Die Festung ist eingenommen. Es ist vorbei.“ und wollte ihn zur Rede stellen. Doch Aragorn kam mir zuvor.

 

„Ihr sagtet mir, die Festung würde niemals fallen, so lange Eure Leute sie verteidigten.“ Er half Legolas, eine Bank hochzustemmen, damit er sie gegen die Tür setzen konnte. Eine schwache Verteidigung gegen eine solche Kraft. „Sie verteidigen sie immer noch!“

 

Ich senkte den Kopf. Ich hatte jeden Kampfeswillen verloren. Auf mich musste niemand mehr zählen. Das einzige, was ich noch von dieser Schlacht wollte, war Haldirs lebloser Körper, damit ich ihn zurück in seine Heimat bringen konnte. Ich hörte, wie Aragorn und Théoden sich stritten, was sie nun unternehmen wollten, aber richtig hörte ich doch nicht hin. In mir selbst begann ein Plan zu keimen. Ich wollte mich den Uruk-hai stellen, um an den Körper zu kommen. Ob ich dabei starb oder ob ich siegreich war, war mir inzwischen egal. Sterben würde ich ohnehin an gebrochenem Herzen.

 

Schließlich hatte Aragorn den König zu einem letzten Gefecht überreden können und sie sattelten ihre Pferde. Auch ich legte Alagos ihr Zaumzeug an. Ich lieh mir ein Schwert von einem der Krieger und reihte mich ein. Ich vermied es, mich den Blicken von Aragorn auszusetzen. Vermutlich hätte er mich davon abgehalten, denn mein Arm war schließlich gebrochen. Aber noch immer konnte ich keine Schmerzen verspüren, also nahm ich die Zügel in die linke Hand und das Schwert in die rechte. Ich war bereit.

 

„Grimme Taten erwachet.“ Der König setzte sich seinen Helm auf. Die Männer wichen vom Tor zurück. „Auf zu Zorn! Auf zu Verderben und blutig Morgen!“ Ja, wir würden Blut vergießen, denn der Zorn entfachte mich und mein Herz verzehrte sich nur noch nach einer einzigen Sache: Vergeltung! Und wenn ich jedem meiner Feinde einzeln gegenübertreten müsste, ich würde jeden niedermachen, der sich gegen uns gestellt und meine Liebe vernichtet hatte. Kein Uruk-hai würde nach Isengart zurückkehren, weder lebendig noch tot.

 

Das Tor zersplitterte und eine Schar von Feinden ergoss sich in den Raum. Ich bohrte Alagos meine Fersen in die Flanken und sprengte voran, die anderen hinter mir. Als wir durch die Tür brachen und die Feinde unter den Hufen unserer Pferde den Tod fanden, erschall das Horn Helm Hammerhands und das ganze Tal halle von seinem tiefen Ton wider.

 

Ich schlug wild um mich, weder darauf achtend, wen ich erschlug noch wen nicht. Mein Blick verengte sich und ich sah Haldirs Leiche auf dem Boden liegen. Ich steuerte darauf zu, entfernte mich von den anderen. Ich konnte Legolas meinen Namen rufen hören, aber ich achtete nicht darauf. Als ich bei ihm war, sprang ich vom Pferd ab, versetzte ihr einen Klaps auf den Hintern und sie jagte davon. Nun war ich allein gegen den Feind. Ich sah meine Waffen am Boden liegen und nahm sie auf. Dann griff mich der erste an.

 

Ich konnte wieder den stinkenden Atem riechen, aber dieses Mal störte es mich nicht. Es machte mir nichts mehr aus, dass mein ganzer Körper mit dem Blut meiner Feinde bedeckt war. Ich wollte sie alle vernichten, jeden einzelnen.

 

Ich hob mein Schwert über meinen Kopf, wobei ich unbedacht auch meinen linken Arm benutzte, aber in diesem Moment überwog der Hass gegen diese Kreaturen und ich vergaß den Schmerz und die Schwäche. Uruk-hai kamen auf mich zu und mit nur einer einzigen Bewegung brachte ich zwei von ihnen zu Fall. Ihre Kumpanen störte das nicht, denn sie waren der festen Überzeugung, mich niedermachen zu können. Ich belehrte sie jedoch eines Besseren und trennte einem den Kopf von den Schultern. Dem nächsten schlug ich einen Arm ab, aber das schien ihn nicht zu kümmern. Ich rammte ihm mein Schwert durch den Körper und erst das brachte ihm den Tod.

 

Auf meinem Gesicht zeigte sich keinerlei Regung und das musste meinen Feinden wohl Angst eingejagt haben, denn sie kamen nun nicht mehr in Massen auf mich zu, sondern waren eher schüchtern mit ihrem Vorstoßen. Aber wenn sie nicht zu mir kamen, dann ging ich eben zu ihnen und innerhalb kürzester Zeit hatte ich mehr Leben ausgelöscht als in meinem ganzen Dasein zuvor.

 

Ich holte erneut aus, doch dann blendete mich ein Licht und ich warf den Kopf in den Nacken um die Quelle ausmachen zu können. Ich hatte mich so auf den Kampf hier konzentriert, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, wie Gandalf mit den Rohirrim zurückgekehrt war. Nun stürmten sie den steilen Berghang hinunter und ritten auf die Uruk-hai zu, die mit gezückten Speeren auf sie warteten. Doch kurz bevor die Pferde auf ihre Widersacher geprallt und in die Spitzen der Speere gelaufen wären, schob sich die Sonne über die Hügelkuppe und tauchte alles in gleißendes Licht. Die Falle, die sie uns stellten, wurde nun zu ihrer eigenen, denn aus der Schlucht gab es kein Entrinnen mehr für sie.

 

Ohne Vorwarnung brachen die Reihen der Uruk-hai zusammen und die Pferde der Rohirrim pflügten durch sie hindurch. Es gab eine Schlacht, die nun endlich ausgeglichen war, denn nun waren wir vielleicht noch immer zahlenmäßig unterlegen, aber dass wir nun mehr Reiter hatten, brachte uns den entscheidenden Vorteil. Die Schlacht dauerte nicht mehr lange und ich hatte auch kaum noch Kraft, mein Schwert zu heben, aber ich fühlte mich dazu verpflichtet, dem König beizustehen. Und ich wollte auf gar keinen Fall, dass Haldir umsonst gestorben war.

 

Trotzdem konnte ich mich dem fröhlichen Siegesrufen nicht anschließen. Als die Uruk-hai schließlich flohen, sprang ich wieder auf meine Stute, die sofort wieder zu mir kam, und ritt an Aragorns Seite. Der Feind rannte nun kopflos auf einen Wald zu, der vorher noch nicht da gewesen war. Wir wollten ihnen folgen, aber Aragorn rief: „Nicht in den Wald hinein! Haltet Euch von den Bäumen fern!“

 

Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber ich folgte seinen Worten und zügelte Alagos neben Gandalf. Auch er schaute verwundert, aber dann huschte ein Ausdruck des Wissens über sein Gesicht und auch ich begann zu begreifen. Als die Uruk-hai völlig zwischen den Bäumen verschwunden waren, herrschte plötzlich eine merkwürdige Stille. Dann, ohne Vorwarnung, begannen die Bäume sich zu bewegen und ich wusste, dass der Fangornwald hierher gekommen war, um Rache an denen zu nehmen, die sich so leichtfertig an seinem Holz bedient hatten. Die wahren Ausmaße der baumischen Wut erkannte ich allerdings erst später.

 

Wir ritten zurück nach Helms Klamm, um uns dort um die Toten und Verwundeten zu kümmern und ich nahm Haldirs Leichnam, der Dank Eru unversehrt geblieben war, mit hinein in die Burg. Dort ließ ich ihn in eine kleine Kammer bringen, die man mir zugewiesen hatte, und entkleidete und wusch ihn dort. Als er so vor mir lag, hätte ich schwören können, er würde nur schlafen. Aber seine Haut war kalt und seine Glieder bereits starr. Es waren nur wenige der Elbenkrieger übrig geblieben, die er hierher in die Schlacht geführt hatte, doch sie versprachen mir, seinen Leichnam sicher in unsere Heimat zu bringen, bevor sie sich aufmachten um nach Bruchtal zurück zu kehren. Nur schweren Herzens ließ ich sie alleine ziehen, doch ich wusste, dass wir bald nach Isengart reiten würden und dort konnte ich endlich dem Mann gegenüber treten, der dies alles eingefädelt hatte. Ja, ich wollte Saruman in die Augen sehen und ihn mit meiner Klinge durchbohren.

 

Nachdem ich Haldir entkleidet hatte, fand ich zwischen seinen Sachen einen Ring. Er war aus Silber und trug einen blauen Stein. Als ich ihn mir auf den Finger setzte, wusste ich, dass er für mich bestimmt gewesen war und erneut überflutete mich die Trauer. Hatte er vorgehabt, sein Versprechen zu erneuern, wenn wir beide diese Schlacht überlebt hätten?

 

Doch nun führte uns unser Weg nach Isengart und Gandalf hatte nur teilweise Recht, als er sagte: „Die Schlacht um Helms Klamm ist vorüber. Aber die Schlacht um Mittelerde hat erst begonnen. Unsere Hoffnung ruht jetzt bei zwei kleinen Hobbits, irgendwo in der Wildnis.“ Denn ich hatte ein Gefühl, das mir sagte, dass die ganze Hoffnung nicht nur auf den Schultern von Frodo und Sam lag. Sie lag nun auch wieder zum Teil in unseren Händen. Wir würden Saurons Zorn die Stirn bieten müssen, denn seine Vergeltung würde rasch folgen. Wir würden den beiden den Weg erleichtern müssen, denn ohne ein wenig Hilfe würde Frodo mit dem Ring nicht nah genug an den Schicksalsberg herankommen, auch wenn Sam bei ihm war.

 

~*~*~*~

 

Der Ritt nach Isengart war verschwiegen. Ich hing meinen Gedanken nach, wie jeder andere von uns. Ich dachte immerzu an den Ring, der nun an meinem Finger glänzte und betrachtete ihn oft. Manches Mal bildete ich mir sogar ein, dass der Stein Haldirs Augen widerspiegelten und in diesen Momenten rollten immer wieder Tränen meine Wangen hinunter. Ich konnte den Gedanken, dass er nie wieder bei mir sein würde, einfach nicht ertragen. Denn er war immer da gewesen. Auch wenn er nur in der Ferne war, er war da, irgendwo. Und jetzt war er es nicht mehr, nicht einmal ein Schiff konnte mich nun in seine Nähe bringen. Sein Körper war noch hier, aber sein Geist weilte in Mandos’ Hallen, ein unerreichbarer Ort für mich.

 

„Ihr tragt einen wunderschönen Ring, Herrin.“ Eine sanfte Stimme drang an mein Ohr und ließ mich wieder in die Realität zurückkehren. Ich blickte mich um und sah Arod neben Alagos reiten, und auf seinem Rücken saßen Legolas und Gimli. „Vor der Schlacht habe ich nie Schmuck an Euch gesehen“, sagte der Elb.

 

„Nein“, sagte ich und ich musste mich sehr zusammennehmen, damit ich nicht in unkontrolliertes Schluchzen ausbrach. „Diesen Ring habe ich erst vor zwei Tagen erhalten.“ Einem Impuls folgend drehte ich mich im Sattel nach hinten und blickte den Weg entlang, den wir gekommen waren. Ich bildete mir damit ein, noch ein letztes Mal auf Haldir zu blicken, auch wenn die Bäume des Fangornwaldes meine Sicht verstellten. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, dass ich nun alleine war.

 

„Ihr solltet nicht zurücksehen, junge Herrin“, sagte Gimli. Ich richtete meinen Blick in die dunklen Augen des Zwerges. Mein Gesicht zeigte Missverständnis. „Ich will damit sagen, dass es keinen Sinn macht, sich über vergossene Milch zu sorgen. Die Schlacht ist geschlagen und sie ist so zu Ende gegangen, wie es sein sollte. Denn nur so, wie sie ausgegangen ist, sind wir in der Lage, unseren Weg so fortzusetzen, wie es für das Wohl dieser Welt am Besten ist. Und deswegen solltet Ihr nicht mehr weinen, denn es werden noch schwärzere Tage folgen als dieser.“

 

Dies waren weise Worte für einen Zwerg, doch ich kam nicht umhin, ihm mein Eingeständnis zu machen, denn es lag Wahrheit darin. Und trotzdem vermochten sie die düstere Stimmung nicht zu erhellen. Es wurde weiterhin nicht sehr viel gesprochen, als wir durch den Wald ritten. Jeder Blick von uns war wachsam, denn obwohl die Bäume uns wohl freundlich gesonnen waren, konnten wir das, was vor zwei Tagen mit unserem Feind gesehen war, nicht ganz hinter uns lassen.

 

Dann tauchte Isengart von uns auf. Der dunkle Turm Orthanc ragte hoch über die eingerissen Mauern auf, die ihn und seine Ebene umgaben. Es war ein düsterer Ort und dennoch drangen plötzlich fröhlich laute Stimmen an unser Ohr. „Willkommen, meine Herren, in Isengart!“ Vor uns saßen doch tatsächlich Merry und Pippin, die beiden Hobbits, die mit uns von Bruchtal aus aufgebrochen waren, um diese gefährliche Reise zu unternehmen.

 

Allerdings teilten nicht alle meine Freude, diese beiden wieder zu sehen. „Ihr jungen Nichtsnutze!“, rief Gimli aus. „Da jagt man euretwegen durch die Gegend und jetzt findet man euch schmausend und Pfeife rauchend!“

 

Doch Pippin ließ sich seine Freude nicht verderben. Er grinste uns nur entgegen, während Merry genüsslich seine Pfeife rauchte. „Nun, wir sitzen hier auf dem Feld des Sieges und erfreuen uns einiger wohlverdienter Annehmlichkeiten. Das Pökelfleisch ist wirklich ausgesprochen delikat.“ Als Merry schließlich Baumbart erwähnte, ging unsere Reise weiter. Die Hobbits kletterten zu uns auf die Pferde, Merry saß hinter mir, und wir durchritten das Tor.

 

Vor uns machte sich ein riesiger See breit, aus dessen Mitte Orthanc aufragte. Die Ents hatten anscheinend ihrer Wut freien Lauf gelassen und Saruman all seiner Freiheit beraubt. Doch Gandalf schien etwas daran zu zweifeln, wo er den feindlichen Zauberer doch so gut kannte. Er wollte wohl auf Nummer sicher gehen. Also zügelte er Schattenfell vor dem dunklen Turm. Dann trat ein gewaltiger Baum auf uns zu.

 

„Junger Meister Gandalf“, sagte Baumbart und breitete seine langen Äste zum Willkommen weit aus.

 

Merry hinter mir verkniff sich ein Lachen. „Hat er Gandalf wirklich gerade jung genannt?“

 

„Allerdings“, antwortete ich. „Denn im Vergleich zu einem Ent, der zu den ältesten Geschöpfen dieser Welt zählt, ist unser Gandalf noch ein Schössling, ein Jungspunt, möchte ich fast sagen.“ Und zum ersten Mal, seit wir Helms Klamm verlassen hatten, stahl sich ein winziges Lächeln auf mein Gesicht. Jedoch erstarb es gleich wieder, denn meine Muskeln machten sich bemerkbar, die diese Art von Anstrengung wohl nicht mehr gewöhnt waren.

 

„Ich bin froh über Euer kommen“, sprach Baumbart weiter. „Holz und Wasser, Stock und Stein kann ich beherrschten. Doch hier gilt es mit einem Zauberer fertig zu werden, eingesperrt in seinem Turm.“

 

Alle blickten nun hoch zu der gewaltigen Plattform, die der Turm aufwies und der wohl mal für das Studium der Sterne angelegt worden war. Doch nun war es die einzige Möglichkeit für Saruman, aus seinem selbst gewählten Gefängnis herauszukommen. „Zeig dich gefälligst!“, flüsterte Aragorn.

 

Gandalf wies ihn zurück. „Sei vorsichtig. Sogar in der Niederlage ist Saruman gefährlich.“ „Holen wir uns seinen Kopf, dann haben wir endlich Ruhe!“, rief der Zwerg, doch ich sagte sofort Nein. Auch Gandalf verneinte. „Wir brauchen ihn lebendig. Wir müssen ihn zum Reden bringen.“

 

Jedem war natürlich klar, dass Gandalf von seinem früheren Lehrer wissen wollte, was nun dessen Meister für Pläne hatte. Aber uns war auch klar, dass es sehr schwer werden würde, ihm solche Geheimnisse zu entlocken. Schließlich hing sein Leben davon ab. Und das wäre er sicher nicht bereit, so leichtfertig aufs Spiel zu setzen, nur um jemandem einen Gefallen zu tun. Er hasste Gandalf, weil er der einzige Zauberer in ganz Mittelerde war, der ihm an Kraft gleich kam. Das würde er nie und nimmer dulden wollen. Dafür war sein Durst nach Macht einfach zu groß.

 

Plötzlich ertönte eine Stimme über unseren Köpfen. „Ihr habt viele Kriege geführt und viele Männer getötet, Théoden König. Und habt hinterher Frieden geschlossen. Könnten wir nicht gemeinsam beratschlagen, so wie wir das einst taten, mein alter Freund? Können wir nicht Frieden haben, Ihr und ich?“ Saruman war hinaus gekommen, seinen Stab in der Hand, und blickte auf unsere Häupter herab. Ich verschloss sofort meinen Geist vor seiner Stimme, denn seine Zunge war nicht weniger gefährlich, als die von Gríma, der Théodens Sinne verdorben hatte.

 

Allerdings schien es, als hätte der König nicht viel aus seinen bisherigen Fehlern gelernt, denn er sagte: „Das werden wir. Wir werden Frieden haben.“ Alle blickten nun auf Théoden. Wir waren bereit, uns ihm in den Weg zu stellen, sollte er Anstalten machen, sich dem Verräter anzuschließen. Doch zum Glück schien es endlich, als wenn der König stark geworden wäre und wir alle nahmen dankbar die Worte auf, die er nun an den Feind wendete. Der Hass war beinahe mit bloßen Händen greifbar. „Wenn das Leben der Soldaten, die vor den Toren der Hornburg zerhackt wurden, nachdem sie schon tot waren, gerächt ist! Wenn ihr an einem Galgen baumelt, zum Vergnügen Eurer eigenen Krähen, dann haben wir Frieden.“

 

Aber der Zauberer ließ sich von den scharfen Worten nicht beeindrucken. Er wäre vermutlich auch nicht zu solcher Größe gekommen, wenn er sich hätte beeindrucken lassen. Denn dann hätte der Herr des Dunklen Landes sicher nicht ihn gewählt, um seine Pläne zu unterstützen, auch wenn er noch so sehr darum gebettelt hätte. „Galgen und Krähen! Du Greis!“ Saruman schien nun jedoch entschlossener denn je, seine Feinde zu zerschlagen, obwohl er nicht in der idealen Lage dafür war. „Was willst du, Gandalf Graurock? Lass mich raten. Den Schlüssel von Orthanc? Oder wohlmöglich die Schlüssel von Barad-dûr selbst? Zusammen mit den Kronen der sieben Könige und den Stäben der fünf Zauberer?“

 

Mir war klar, warum er bewusst Gandalfs alten Namen gewählt hatte. Auch wenn der Zauberer, der nun in unserer Mitte stand, ein anderer war, als der, den Saruman noch kannte, wollte und konnte er nicht sehen, dass es nun einen gab, der ihm ebenbürtig war, jemand, der ihn vielleicht sogar besiegen konnte.

 

„Dein hinterhältiger Verrat kostete schon viele das Leben“, erwiderte Gandalf nun. „Tausenden mehr droht jetzt Unheil. Doch du könntest sie retten, Saruman. Du warst tief in innersten Rat des Feindes.“

 

Nun erhellten sich die Züge des Angesprochenen und ich konnte ahnen, dass ihm Gandalfs Worte in die Hände gespielt hatten. Gut würde das nicht für uns sein, doch wir konnten uns dem nicht entziehen, jetzt da die Worte gesprochen waren, also mussten wir geduldig warten, ob nicht doch freundlichere Parolen zu unserem Feind vordringen würden.

 

Leider wurde ich eines Besseren belehrt. „Dann seid Ihr gekommen, weil Ihr Auskünfte wollt? Ich habe welche für Euch.“ Er griff unter sein Gewand und zog etwas hervor. Dank meiner Elbenaugen konnte ich einen schwarzen Stein erkennen. Doch erst, als ich das Entsetzen neben mir spürte, das von Gandalf ausging, wurde mir klar, dass es ein Sehender Stein, ein Palantír, war. Er musste gewusst haben, dass Saruman einen solchen Stein besaß, doch dieser konnte ihn unmöglich eingesetzt haben, um mit Sauron zu verhandeln. So töricht könnte ein so wissender und weiser Mann nicht sein! Selbst wenn er die Seite gewechselt hatte.

 

„Etwas wuchert im Herzen von Mittelerde. Ein Geschwür, und Ihr vermögt es nicht zu sehen. Aber das Große Auge hat es gesehen.“ Saruman schaute in den Stein hinein und seine Augen wurden glasig, Im Inneren des Palantírs begann es zu glühen und ich wusste, dass er gerade in diesem Augenblick in die Gedanken des Dunklen Herrn hinein sah. Ein Schauer jagte meinen Rücken herunter. „Selbst jetzt baut er seinen Vorteil aus. Sein Angriff wird bald erfolgen. Ihr werdet alle den Tod erleiden.“

 

Diese Worte lösten Angst aus. Ich spürte es von jedem um mich herum, mich eingeschlossen. Selbst wenn alle wussten, dass dies eine Lüge war, die er mit gespaltener Zunge gesprochen hatte, so konnten wir doch nicht umhin, ihm ein wenig zu glauben. Schließlich hatten wir so viel Tod und Verderben gesehen, dass es wohl für mehr als ein Leben gereicht hätte. Jeder von uns wünschte sich nur noch, dass dieser endlose Krieg doch noch enden würde.

 

Plötzlich musste ich an meine Eltern denken. Waren sie sicher in ihrem Reich? Würden die Bäume von Lothlorien und der Ring Nenya, dessen Hüter meine Mutter war, die Gefahren von dem Elbenreich fern halten? Oder musste ich nun auch um sie bangen? Was wäre, wenn wir gegen den übermächtigen Feind gesiegt hätten und ich danach nur noch Trümmer mein Zuhause nennen konnte? Was wäre, wenn ich in nur wenigen Monaten mehr verlor, als ich jemals zu hoffen gewagt hatte? Konnte ich wissen, dass der Weg, auf dem ich mich jetzt befand, der richtige für mich, für die Zukunft war?

 

„Aber das weißt du, nicht wahr, Gandalf?“ Diese merkwürdige Antwort auf meine Frage kam jedoch nicht aus meinem Inneren, oder von Varda, meiner geliebten Ziehmutter. Saruman sprach immer noch, und mit jedem seiner Worte, die er nun zu uns schickte, sank mein Herz etwas tiefer. Verzweiflung stahl sich langsam in meine Gefühle hinein. „Glaubt Ihr wirklich, dass dieser Waldläufer jemals auf dem Throne Gondors sitzen wird? Dieser Heimatlose, aus dem Schatten gekrochen, wird niemals zum König gekrönt. Gandalf zögert nicht, jene zu opfern, die ihm am nächsten stehen, jene die er vorgibt zu lieben. Sag mir, welche Worte des Trostes hast du dem Halbling gespendet, bevor du ihn in sein Verderben schicktest? Der Weg, den du ihn nehmen ließest, endet einzig und allein im Tod.“

 

Erneut erklang dieses schreckliche Wort. Wie oft hatten wir es nun schon gehört und wie oft waren wir ihm begegnet? Es war nicht mehr zu zählen und langsam schienen auch meine Sinne dagegen abzustumpfen und die Verzweiflung verflog wieder, wie ein Nebelschleier in der Sonne. Doch ich war nicht alleine. Eine tiefe Stimme hinter mir grollte auf. „Ich hab jetzt genug davon! Mach Schluss mit ihm. Ein Pfeil direkt ins Maul!“ Gimli hatte Legolas angewiesen, der auch schon nach seinem Köcher griff, doch ihm wurde von Gandalf Einhalt geboten.

 

„Nein!“, rief er und wandte sich dann wieder seinem alten Freund zu. „Komm herunter, Saruman! Dann wird dein Leben verschont.“ Ich hatte schon lange nicht mehr gebetet, doch nun schien es mir an der Zeit, wieder einmal einen Hilferuf an Eru zu schicken und ihn zu bitten, er möge die Vernunft walten lassen und dem hier ein Ende setzen.

 

Mein Beten war vergebens. „Spar dir deine Gnade und dein Mitleid.“ Saruman spuckte diese Worte förmlich aus, als wären sie Gift, das ihn schon in der nächsten Sekunde nach dem Leben trachten könnte. „Ich habe keine Verwendung dafür!“

 

Ohne eine Vorwarnung raste plötzlich ein riesiger Feuerball auf uns zu und umhüllte Gandalf und Schattenfell. Die Hitze schien mein Gesicht versengen zu wollen, doch dann war es so schnell vorbei, wie es angefangen hatte und um Pferd und Reiter erloschen die Flammen wieder, als wäre nie etwas geschehen.

 

Unbeeindruckt erhob Gandalf seine Stimme gegen Saruman, auf dessen Gesicht das Entsetzen geschrieben stand. „Saruman, dein Stab ist zerbrochen.“ Und der Stab zerbarst. Seine Reste regneten auf uns hernieder.

 

Nun erschien ein zweiter Mann auf dem Turm und König Théoden ließ seine Stimme hören. „Gríma!“ Es war des Königs alter Berater, der zum Feind übergelaufen war. Die Reue jedoch schien ihn geplagt zu haben. „Du musst ihm nicht gehorchen. Du warst nicht immer so wie jetzt. Einst warst du ein Manne Rohans. Komm herunter.“

 

Saruman wurde wütend. Die schützende Hülle seiner schmeichelnden Stimme zerbrach und sein blanker Hass drang nun auf uns ein. Vielleicht hoffte er nun damit etwas zu gewinnen, wo seine Zauberkunst versagt hatte. Er griff nun die Ehre der Männer an, auf deren Gnade er angewiesen war. „Ein Manne Rohans? Was ist Rohans Haus, als eine strohgedeckte Scheune, wo Straßenräuber in stinkigem Rauch trinken und ihre Sprösslinge sich zwischen den Hunden auf dem Fußboden sielen. Der Sieg in Helms Klamm gebührt nicht Euch, Théoden, Pferdemensch. Ihr seid der minderwertige Sohn größerer Herren.“

 

Doch König Théoden ließ sich dieses Mal nicht einschüchtern. Er hatte seine Stärke gefunden und wusste, dass dies ihm niemand mehr rauben konnte. Er wandte sich noch einmal an seinen einstigen Vertrauten. „Gríma! Komm herunter. Befreie dich von ihm!“

 

„Befreien?“ Saruman schrie nun beinahe. Auch er musste spüren, dass seine Macht erlosch. Nun griff die Verzweiflung nach seinem Herzen. „Er wird niemals frei sein.“ Gríma erhob kurz seine Stimme, ein schwaches Auflehnen gegen seinen jetzigen Herrn, doch Saruman erboste das nur noch mehr. Er drehte sich zu ihm um und spuckte: „Auf die Knie, Köter!“ Ein heftiger Schlag, ausgeführt von des Zauberers Hand, sauste auf den Manne Rohans nieder und warf ihn zu Boden.

 

Dies war unsere Chance. Der Wille unseres Widersachers war gebrochen. Wenn er sich schon zu körperlicher Gewalt herabließ, war es nicht mehr weit, bis er sich uns unterwerfen würde. Und dies wollte Gandalf nutzen, indem er noch einmal zur Sprache brachte, warum wir hier waren. „Saruman, du warst tief in innersten Rat des Feindes. Sag uns, was du weißt.“

 

„Schicke deine Wächter fort“, sagte er und ich wusste, dass er nun kooperieren würde, „dann sage ich dir, wo euer Verderben entschieden wird. Ich werde hier nicht dein Gefangener sein.“

 

Doch kaum hatte er dies ausgesprochen, erschien Gríma wieder hinter ihm. Er hatte sich vom Boden erhoben, auf den er befördert worden war, und wankte auf seinen Herrn zu. Ich spürte, dass dort etwas nicht stimmte und rief Legolas zu, er solle ihn erschießen. Aber es war zu spät. Mit einem Messer stach der Diener auf den Herrn ein und Legolas’ Pfeil konnte nichts mehr ändern. Gríma stürzte wieder zu Boden, während Sarumans Körper vom Turm herunterfiel und aufgespießt wurde, als er unten eintraf.

 

Ich musste ein Würgen unterdrücken. Gandalf sprach schnell mit Théoden, damit dieser Boten in das ganze Reich entsandte und Männer fand, die noch an unserer Seite kämpfen würden. Dann sah ich, wie Pippin hinter Aragorn von dessen Pferd kletterte. Er hatte etwas im Wasser gesehen und holte es heraus.

 

Mein Herz setzte für einen kurzen Moment aus. Der Hobbit hatte den Palantír in den Händen! Doch Gandalf hatte schon reagiert und ihm den Sehenden Stein wieder entwendet. Trotzdem lag ein Glühen in den Augen des jungen Halblings, das ich mir nicht erklären konnte.

 

Dann begriff ich endlich, was gesehen war. Saruman war tot. Er war gestorben durch die Hand seines Dieners, dem er Vertrauen entgegen gebracht hatte. Sein eigener Verrat war auf ihn selbst zurückgefallen. So etwas nannte man wohl Ironie des Schicksals. Und Schicksal war es wirklich. Denn nun konnte ich, auch wenn es nicht meine Hand gewesen war, durch die Saruman gefallen war, sagen, dass mein Verlobter gerächt worden war. Der ganze Schmutz Sarumans würden nun fortgespült werden und unser einziger Feind war nun das lidlose Auge, dessen feuriger Blick vom Schwarzen Land aus über Mittelerde wanderte.

© by LilórienSilme 2015

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