top of page

Kapitel 15

 

~ Tat out of Hell

 

„Tee oder Kaffee?”, fragte Anna Vittoria, als sie sich alle zur morgendlichen Besprechung am Set eingefunden hatten. Die Ältere sah die Jüngere genervt an, als hätte diese grade gefragt, ob der Himmel blau wäre. Anna zuckte entschuldigend mit den Schultern und verschwand, um der Freundin ihre tägliche Dosis Koffein zu besorgen. Heute war wieder ein Tag, an dem Vittoria alle mit ihren Blicken am liebsten in die Hölle geschickt hätte, sobald man ihr auf die Füße trat. Ob sie schlecht geschlafen hatte?

 

Will gesellte sich zu Anna, die gerade damit beschäftigt war, die Montagmorgen-Taste an dem Kaffeeautomaten zu finden. „Hat sie schlecht geschlafen?“, fragte er mit einem Kopfnicken in Vittorias Richtung. Mittlerweile hatten sich alle an ihre Marotten gewöhnt und fanden es sogar zeitweise amüsant, wenn sie sich künstlich aufregte. Denn so laut sie auch wettern konnte, so nett war sie, wenn sie ausgeschlafen und satt gegessen war. Da sie meist mit drei Tassen Kaffee als Frühstück zufrieden zu stellen war, wie sie nach Wochen endlich rausgefunden hatten, wurden die Arbeitstage mit ihr auch immer besser.

 

Nur seit diese Cassandra aufgetaucht war, schien sich ihre Laune auf einen neuen Tiefpunkt zu zu bewegen. Sobald die attraktive Rothaarige in der Nähe war, stellte Vittoria die Stacheln auf und reagierte wie eine Katze auf Wasser.

 

„Kann sein, dass sie sauer ist, weil Ben und Cassandra heute bei uns am Tisch gesessen haben“, sagte Anna und warf zwei Stücke Zucker in ihren Becher, wohingegen der von Vittoria schwarz blieb. „Seit die“, sie wies mit ihrer Schulter auf Cassandra, die bei Ben auf dem Schoß saß und damit beschäftigt war, sich in seinen Augen zu verlieren, „hier aufgetaucht ist, scheint sie irgendwie angefressen. Ich weiß nur nicht, wieso.“

 

Als Anna ihr endlich den Kaffee brachte, war der Becher in weniger als vier Sekunden leer. Andrew ignorierte das Geflirte zu seiner Linken, den unnormalen Kaffeekonsum zu seiner Rechten und die genervten Blicke, die dazwischen hin- und herflogen und setze schließlich zu seiner Ansprache an, als es endlich etwas ruhiger geworden war. „Guten Morgen“, sagte er und warf einen Blick in die Runde. Müde Gesichter blickten ihm entgegen, was er ihnen nicht verdenken konnte. Die letzten Tage waren ziemlich voll gestopft gewesen, weil der Drehplan es nicht anders zuließ, aber heute hatte er endlich ein paar gute Nachrichten für sie alle.

 

„Das Material, was wir bisher haben, sieht wirklich sehr gut aus.“ Leiser Jubel brandete los, da alle darauf hofften, in der vorgegebenen Zeit auch fertig zu werden. „Und ich kann voller Stolz sagen, dass wir jetzt nur noch zwei Szenen haben, die wir fertig stellen müssen. Danach geht es für fast alle nach Hause.“ Die Leute, die wussten, dass sie danach wieder zu ihrer Familie nach Hause durften, klatschen nun besonders laut, während diejenigen, die für die Nachbearbeitung zuständig waren, leise Buh-Rufe zum Besten gaben.

 

„Schon gut“, sagte Andrew grinsend. „Der Drehplan endet in drei Tagen. Und in weniger als vier Monaten ist bereits die Premiere. Was mich zu meinem nächsten Punkt bringt: unsere liebe Jen hat mir mitgeteilt, dass wir eine Location für die Premiere haben. Kurze Pause für die Reaktion…“ Jennifer Butcher, die Regieassistentin, stand auf, ging in die Mitte und verbeugte sich kurz. „Ja, vielen Dank. Und zwar werden wir im Ziegfeld Theatre Weltpremiere halten. Für diejenigen, die es nicht wissen: das ist in New York.“

 

„Komm zum Punkt, Andy“, rief jemand von hinten. „Wir haben noch zu arbeiten.“ Darauf hin mussten alle laut lachen und sogar Ben richtete seine Aufmerksamkeit für kurze Zeit auf seinen Regisseur, anstatt auf die Frau, die auf seinem Schoß saß. Da jedoch neben Andrew auch Vittoria saß, begegnete er kurz ihrem Blick und wäre beinahe vom Stuhl gefallen, weil sie ihn so böse ansah.

 

Als die Besprechung vorbei war und die Darsteller wieder zurück in die Garderobe gingen, um sich weiter fertig zu machen, beugte Ben sich zu Will hin, der neben ihm saß und abgepudert wurde. Er steckte bereits in seinem Outfit für die letzte Szene, in der die vier Geschwister wieder in ihre eigene Welt zurückkehren würden. „Sag mal, hat Miss Besserwisserin heute schlecht geschlafen?“

 

Will zuckte die Schultern und zupfte seine blaue Tunika zu Recht. „Ich glaube, ihr geht euer Geknutsche auf die Nerven.“ Er machte eine kleine Pause, in der er Ben ansah. „Genauso wie uns allen.“ Bevor der jedoch was sagen konnte, lenkte Will ein. „Versteh mich bitte nicht falsch. Ich mag Cass. Sie ist wirklich nett. Aber für meinen Geschmack hängt ihr ein bisschen viel aufeinander. Ist ja schön, dass ihr so verliebt seid. Aber müsst ihr das immer vor allen so demonstrieren?“

 

Ben senkte den Blick und sah auf seine Hände. Von den vielen Schwertkämpfen hatte er Schwielen an den Handflächen bekommen, die Cassandra immer mehr zu stören schienen. Jedes Mal, wenn er sie streichelte, wurde sie schlechter gelaunt, weil er ihren Rat, sich seine Hände mindestens zehn Mal am Tag einzucremen, offensichtlich missachtete. Er hatte jedoch keine Lust sich darüber zu streiten und ließ es immer dabei bewenden. Wenn sie hinsah, nahm er sich eine Tube Handcreme, die sie ihm besorgt hatte, und tat so, als würde er es tun. Doch sobald sie wieder wegsah, ließ er die Creme irgendwo verschwinden.

 

Sie war jetzt beinahe zwei Wochen hier und mittlerweile wusste er wieder, wieso sie ihn am Ende so genervt hatte. Er hatte es nach ein paar Tagen auch endlich über sich gebracht und seinen Bruder angerufen. Jack hatte behauptet, er und Cassandra würden sich eine Auszeit gönnen und so getan, als würde es ihm nichts ausmachen, dass sie nun bei ihm in Prag wäre. Doch er kannte seinen kleinen Bruder und wusste, dass es ihn trotzdem beschäftigte.

 

Er hatte sich eingebildet, sie zu vermissen. Doch wenn er abends mit ihr im Bett lag und ihr Profil betrachtete, wie sie leise atmete, musste er sich eingestehen, dass er nicht Cassandra selbst, sondern schlicht und ergreifend die Gesellschaft einer Frau vermisste. Seit er so viel arbeitete, hatte er keine ernst zu nehmende Beziehung mehr gehabt, sondern eher Eintagsfliegen, die er dann doch nicht zurückrief, weil sie ihm viel zu oberflächlich waren. Doch so langsam kamen ihm die Betten, in denen er schlief, wenn er unterwegs war, immer größer und leerer vor. Wie würde es wohl sein, wenn er wieder zurück in London war? Würde er sich besser fühlen, wenn er seine gewohnten Freunde um sich hatte?

 

Jennifer holte ihn aus seinen Gedanken, als sie ihn an der Schulter fasste und ihm sagte, dass es nur noch fünf Minuten bis zur ersten Klappe waren. Er nickte mechanisch, doch dann hellte sich sein Gesicht wieder auf, als er sich ins Gedächtnis rief, was das für eine Szene war. Heute würde er Susan küssen.

 

Besser gelaunt als er dachte schlenderte er auf den Green Screen zu, wo sich bereits die anderen eingefunden hatten. Anna sah in ihrem hellblauen Kleid einfach umwerfend aus und er freute sich bereits darauf, mit ihr zu spielen. Schelmisch zwinkerte er ihr zu und sie streckte ihm die Zunge raus. Daraufhin spitzte er die Lippen, doch sie sah ihn nur gelangweilt an.

 

„Okay, können wir dann?“, fragte Andrew und trat neben die Kamera. Er sah jeden einzeln an. „Ihr wisst alle, worum es geht?“ Als sie nickten, sah er neben sich. „Vittoria? Kommst du bitte auch nach vorne? Wo steckst du denn wieder?“ Von irgendwo ganz weit hinten konnte Ben hören, wie ein Plastikbecher zu Boden fiel und musste grinsen. Wahrscheinlich war sie wieder in ihrem Stuhl eingeschlafen. Als sie dann endlich gähnend neben Andrew auftauchte, gab dieser das Zeichen für die Klappe.

 

Der erste Versuch lief ziemlich glatt, doch als Ben zu Andrew und Vittoria sah, die sich das Material auf dem Bildschirm noch mal ansahen, wusste er, dass es doch nicht so gut gelaufen war. Mittlerweile konnte er es an ihrem Gesichtsausdruck sehen, wenn sie nicht zufrieden war. Dann zog sie immer den linken Mundwinkel nach unten und kaute auf der Innenseite ihrer Wange herum. Er gab den anderen ein Zeichen, dass sie es noch mal wiederholen müssten.

 

Schließlich ertönte die zweite Klappe, doch als Ben und Anna kurz vor dem Kuss waren, rief Vittoria: „Schnitt!“ Genervt rollte er mit den Augen. Was hatte sie denn nun schon wieder auszusetzen? Anna nahm es mit Humor und sagte: „Wahrscheinlich hast du nicht genug Gefühl gezeigt.“

 

„Ich zeig dir gleich Gefühle, Kleine“, sagte er und wollte sie schon an sich reißen, doch als er den Blick von Cassandra sah, ließ er es bleiben. Er wusste nicht mal, wieso er so darauf reagierte. Aber irgendwie schien ihr Blick noch stechender zu sein, als Vittorias. Und er konnte sich eigentlich nur schwer vorstellen, dass das möglich war.

 

Nun kam Vittoria die Stufen zu ihnen hoch und guckte zwischen Anna und Ben hin und her. Sie runzelte die Stirn und kaute an ihrer Unterlippe. „Irgendetwas passt mir hier gar nicht“, sagte sie und er hätte beinahe etwas von wegen Eifersucht gesagt, hielt sich aber doch zurück. Er wollte kein blaues Auge so kurz vor Schluss riskieren. „Ihr wart doch sicher schon mal beide so richtig verliebt, oder? Stellt euch vor, vor euch stünde eure erste große Liebe aus der Schulzeit. Ihr müsst dieses Bauchkribbeln fühlen, wie wenn derjenige euch damals angesehen hat. Stellt euch vor, ihr seid wieder dreizehn und das erste Mal so richtig heftig verknallt. Wisst ihr, was ich meine?“ Sie sah beide abwechselnd an, doch sie konnte in ihren Augen sehen, dass sie beide dachten, sie hätte ein Rad ab.

 

„Okay, passt auf.“ Sie schob Anna sanft zur Seite und nahm deren Platz ein. „Du siehst ihm tief in die Augen, etwa so…“ Dabei sah sie Ben in die braunen Augen und stellte sich dabei vor, wie sie damals gefühlt hatte, als sie ihren ersten Kuss bekommen hatte. Sie hatte so lange an der Szene gearbeitet, jetzt sollte es auch richtig laufen. „Ich bin froh, dass ich hier war“, zitierte sie den Text aus dem Drehbuch und forderte Ben somit auf, die Szene zu spielen.

 

Erst etwas zögerlich, doch dann ging er darauf ein, weil er wissen wollte, wie weit sie bereit war zu gehen. „Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit gehabt.“ In diesem Moment achtete er nicht darauf, was um ihn herum geschah. Auch er sah ihr nun tief in die Augen und bemerkte zum ersten Mal, dass sie grün waren. Sofort schoss ihm das Bild einer Frühlingswiese durch den Kopf und er musste sich zusammen nehmen, um bei der Sache zu bleiben. Er sah das Mienenspiel auf ihrem Gesicht und tatsächlich fühlte er sich, als wäre er dreizehn und würde seiner ersten Liebe gerade vor aller Welt gestehen, was er für sie empfand.

 

Etwas schüchtern besah sie sich sein Kostüm und stellte fest, dass der goldene Kragen ein wenig lächerlich wirkte. Doch das Wams saß ziemlich gut und betonte seine breiten Schultern und die schmale Taille. Wieso war es auf einmal so warm hier? Ihre Stimme fühlte sich leicht belegt an und sie hatte Angst, dass sie ihr versagen würde, wenn sie jetzt sprach. Doch die Gewissheit, dass sie den Text auswendig kannte, gab ihr Sicherheit. „Es hätte sowieso nicht funktioniert“, sagte sie und sah ihm wieder in die Augen. Sie liebte braune Augen.

 

„Warum nicht?“, sagte er und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Er klang wirklich enttäuscht. Er war ziemlich gut.

 

Für den nächsten Satz versuchte sie ihre Stimme ein wenig zu erhöhen, um es lustiger klingen zu lassen. Sie wusste, dass sie eine schlechte Schauspielerin war, und die Tatsache, dass sie im Moment alle beobachteten, machte es ganz und gar nicht besser. Sie zwang sich dazu, sich wieder auf Ben zu konzentrieren und ihn nicht aus den Augen zu lassen. Sie musste sich regelrecht an ihm festhalten, um nicht in Panik davon zu laufen. Gott, wie sie es hasste, im Mittelpunkt zu stehen. Aber er sah so niedlich aus, wie er sie jetzt enttäuscht ansah, als sie sagte: „Ich bin tausenddreihundert Jahre älter als du.“

 

Als er sich Vittoria etwas genauso ansah, dachte er darüber nach, wie alt sie wohl war. Irgendwann hatte er mal aufgeschnappt, dass sie drei Jahre jünger war als er. Aber als er sie jetzt so sah, konnte er das fast nicht glauben. Dank der weiten Jeans, dem grünen Pulli und den pinken Chucks sah sie jünger aus als dreiundzwanzig. Irgendwie sah sie sogar mal richtig niedlich aus.

 

Nun trat sie einen Schritt zurück, ließ ihn dabei nicht aus den Augen, und machte dann zwei Schritte auf Will und die anderen zu. Ohne seine braunen Augen aus dem Blick zu verlieren, weil sie Angst hatte, sie könne sich dann wieder an die Meute erinnern, die sie grade anstarrte, rang sie die Hände. Kurz überlegte sie, ob sie hier abbrechen sollte, doch die Szene war noch nicht zu Ende.

 

Verzweifelt folgten seine Augen ihr, als sie sich von ihm wegdrehte. Enttäuscht darüber, dass sie ging, sah er sie an und hoffte, sie würde sich doch noch mal zu ihm umdrehen. In dem Moment wusste er nicht mehr, ob er Kaspian oder Ben war, doch er wusste, dass das noch nicht alles war.

 

In dem Augenblick, in welchem sie sich wieder zu ihm drehte und auf ihn zulief, machte er einen Schritt nach vorne und kam ihr entgegen. Ohne etwas dagegen tun zu können, schob sich seine rechte Hand in ihr Haar, während seine linke an ihre Hüfte wanderte. Ihre Rechte griff in seinen Nacken und zog seinen Kopf zu sich herunter. Am Rande registrierte er noch, dass sie ein Stück größer war als Anna, aber als sich ihre Lippen berührten, verschwamm alles um ihn herum.

 

Vittoria fühlte seine Hände an ihrem Körper und seine Lippen auf ihren. Für ein paar Sekunden genoss sie die Berührungen, dann nahm ihr Gehirn wieder Dinge außerhalb einer Reichweite von einem Meter wahr. Sie erinnerte sich plötzlich wieder an die Menschen, die um sie herum standen, und löste sich mit einem Ruck von ihm.

 

Verwirrt blickte er sie an, als erwache er gerade aus einem tiefen Schlaf. Er zwinkerte ein paar Mal, dann wurde er sich wieder bewusst, wo er war. „Das war wohl etwas zu viel“, murmelte sie und berührte mit den Fingern ihre Lippen. Wann hatte sie zum letzten Mal einen richtigen Kuss bekommen?

 

Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er die Situation entschärfen musste. Er konnte die Spannung spüren, die in der Luft lag. Alle warteten gespannt darauf, dass jemand etwas sagen würde, und er hatte Angst davor, dass es Cassandra sein könnte. „Nein“, sagte er deswegen lauter als beabsichtigt. „Das war ziemlich gut für… Naja, für jemanden, der eigentlich kein Schauspieler ist. Woran hast du gedacht?“ Als er merkte, dass das die peinliche Situation eher weniger entspannte, sah er sich hilfesuchend zu Andrew um.

 

Der nahm den Wink zu seiner großen Erleichterung richtig auf und rief das Set erneut zur Ordnung. Bevor jemand noch was sagen konnte, stahl sich Vittoria im allgemeinen Gewusel davon und verschwand bei den Garderoben. Ben folgte ihr mit den Blicken und als er sah, dass Cassandra ihr hinterher ging, wollte er den beiden schon folgen, aber Anna hielt ihn am Arm fest und wies ihn darauf hin, dass es gleich weitergehen würde. Er nickte ihr zu, konnte sich aber nicht dagegen wehren, dass er sich Sorgen machte.

 

Vittoria ging erst langsam, dann immer schneller durch die Leute, die ihr alle mit den Augen zu folgen schienen. Am liebsten wäre sie vor Scham im Boden versunken und nie wieder herausgekommen. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht, ihn zu küssen? Was dachten denn jetzt alle von ihr?

 

Erleichtert, dass sie endlich aus der Schusslinie war, warf sie die Garderobentüre hinter sich zu und lehnte sich dagegen. Sie atmete aus und sah an die Decke. „Che cazzo fai, Vittoria?!“, fluchte sie und wollte schon nach einem Eimer treten, der auf dem Boden lag, als die Türe hinter ihr wieder aufging.

 

Ehe sie reagieren und sie wieder zuwerfen konnte, schob sich ein roter Haarschopf hinein und sie stöhnte innerlich auf. Das roch schwer nach einer Szene, dachte sie erschöpft und hoffte auf ein Wunder. Vielleicht würde ja ein Blitz auf sie hernieder fahren und sie töten, bevor das Gezetere losging.

 

Doch sie hatte leider kein Glück. Cassandra, die gute fünfzehn Zentimeter größer war als sie, baute sich vor ihr auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Was bildest du dir eigentlich ein, du kleines spanisches Flittchen? Wie kannst du es wagen, meinen Freund vor allen Leuten zu küssen und es auch noch toll zu finden?“

 

Vittoria hatte selten so viel Falsches in zwei Sätzen gehört, dass sie sich zusammennehmen musste, um ihr nicht einfach auf die Schultern zu klopfen und zu gehen. Aber sie hatte sie beleidigt und das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen. „Jetzt pass mal auf, du Angehörige einer Haarminderheit: Erstens bin ich weder spanisch noch ein Flittchen. Ich bin Angehörige eines alten, italienischen Adels und stolz drauf. Nicht so sehr auf meine noch lebende Familie, aber auf meine Abstammung. Zweitens war ich nicht die einzige, die deinen Benji heute schon geküsst hat, was dich aber offenbar wenig zu stören scheint und das fasse ich mal als Kompliment auf, wenn du mich als Konkurrenz ansiehst, Anna aber nicht. Drittens liegst du völlig daneben, wenn du denkst es hat mir gefallen. Und viertens scheinst du eher das Flittchen zu sein, wenn du es gleichzeitig mit Ben und seinem Bruder treibst.“

 

Sie hatte noch gar nicht zu Ende gesprochen, als ihre rechte Wange anfing zu brennen. Sie hatte den Schlag gar nicht kommen sehen und vermutete daher, dass sich Models wohl öfter kleine Streitereien lieferten und sie Übung in Ohrfeigen verpassen hatte. Allerdings hatte sie wenig Muße darauf einzugehen und ließ Cassandra deswegen einfach stehen. Auch wenn sie selber schon einige Backpfeifen verteilt hatte, von denen sogar klein Benji eine hatte einstecken müssen, wusste sie, dass es keinen Sinn machte, dieses Spiel weiter zu spielen. Deswegen schüttelte sie nur den Kopf und verließ die Garderobe wieder. Sie konnte noch hören, wie Miss Legally Red etwas durch die Gegend warf, doch sie ignorierte es.

 

Am Set herrschte Stille und sie konnte sehen, dass Ben und Anna mittlerweile wieder an der Stelle angelangt waren, die sie eben so grandios vorgemacht hatte. Sofort schoss ihr die Schamesröte wieder ins Gesicht, als sie daran dachte, und hätte beinahe wieder umgedreht. Doch sie hatte entweder die Wahl zwischen einem Drachen, der bereit war, sie mit seinem Feuer zu grillen, oder einer Crew, die sie wohlmöglich bis zur Premiere damit aufziehen würde, dass sie Prinzessin Kaspian geküsst hatte. Sie entschied sich für das geringere Übel und nahm im Regiestuhl Platz und versuchte dabei die dämlichen Blicke zu ignorieren, die man ihr zuwarf.

 

Am Abend, als die Szene im Kasten war und man schon Vorbereitungen für den großen Einmarsch in das telmarische Schloss getroffen hatte, wartete Vittoria wieder unten in der Lobby, um mit Anna und Will in die Stadt zu gehen. Sie hatten es sich bereits zur Tradition gemacht, jeden Tag noch ein wenig in kleiner Runde ausklingen zu lassen, und sie hoffte, dass man einfach ignorieren würde, was heute passiert war.

 

Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass Will es so toll fand, was passiert war. Mit einem breiten Grinsen kam er auf sie zu, als sie es sich gerade in einer der Sessel bequem gemacht hatte, und setzte sich auf die Lehne neben sie. „Und ich dachte immer, dass du Ben gar nicht magst. Aber dieser Kuss, Mann oh Mann, das sah aber mal ganz anders aus.“ Sie versuchte ihn zu ignorieren, aber irgendwie gelang ihr das nicht. Er strahlte sie mit seinen blauen Augen so an, dass sie gar nicht anders konnte.

 

„Schon gut“, grinste sie und schlug spielerisch nach ihm. „Können wir das Thema bitte hier und jetzt beenden? Ich möchte es nicht mit in die Stadt, und erst recht nicht mit in den Abend nehmen.“

 

„Komm schon“, sagte er und sah sie flehend an. „Sag mir wenigstens, wie es war.“

 

Sie glaubte, sich verhört zu haben. „Spinnst du?“, rief sie und ihre Stimme schraubte sich dabei unbeabsichtigt nach oben. „Stehst du jetzt auf ihn, oder was?“

 

„Wer steht auf wen?“, schaltete sich Anna an, die gerade aus dem Aufzug in die Lobby trat. Sie hatte sich natürlich wieder fein gemacht und sah um Welten besser aus, als Vittoria. Doch die hatte sich inzwischen daran gewöhnt, neben der Britin wenig Beachtung zu erhalten. Es war ihr sogar ganz recht.

 

Bevor Vittoria jedoch was sagen konnte, entkam Will ihrem Griff, lief auf Anna zu und versteckte sich hinter ihrem Rücken. „Vic steht auf Ben!“, rief er wie ein Teenager und grinste dabei wie ein kleiner Junge, der gerade ein Entennest ausgehoben hatte.

 

Auf Annas Gesicht breitete sich sofort ein breites Grinsen aus und Vittoria ahnte, wohin das führen würde. Wie hatte sie auch annehmen können, dass dieser peinliche Fauxpas am Set geblieben war? „Seine Lippen fühlen sich gut an, oder?“, sagte die Jüngere. Dabei wirkte sie, als würde sie ihrer besten Freundin gerade ein Geheimnis erzählen. Vittoria rollte nur mit den Augen und tat so, als würde sie das alles nicht interessieren. „Können wir denn nicht über etwas anderes reden?“

 

„Können wir nicht“, flötete Will und packte sich ihren Arm. „Gib es doch zu: du stehst auf ihn! Und du würdest auch viel besser zu ihm passen, als…“ Doch er brach mitten im Satz ab, als sein Blick auf den Treppenabsatz fiel.

 

Ben trug ein weißes Hemd über einer Jeans und eine Lederjacke. Und Vittoria erwischte sich dabei, wie ihre Augen am obersten Knopf hängen blieben, wo ein wenig Haut durchblitzte. Sie hätte sich am liebsten selbst eine Ohrfeige verpasst, tat aber schnell so, als hätte sie ihm ohnehin in die Augen sehen wollen.

 

Langsam kam er jetzt auf die Drei zu, die mittlerweile verstummt waren, und blieb vor ihr stehen. Eindringlich sah er sich ihre rechte Gesichtshälfte an, bis sie dachte, er würde ihre Poren alle zählen wollen. Bevor es jedoch unangenehm werden konnte, sagte er: „Sie hat dich geschlagen, oder?“

 

Sofort richteten sich Wills und Annas Augen wieder auf Vittoria. „Es ist nichts“, sagte sie schnell und drehte sich weg. Doch Ben hielt sie an den Schultern fest und drehte sie wieder zurück. „Sie wird morgen wieder zurück nach London fliegen und sie wird uns ganz sicher nicht mehr belästigen. Es tut mir wirklich leid“, sagte er und sah ihr tief in die Augen.

 

Wieder hatte sie das Gefühl, dass es hier ziemlich warm wurde, und sie löste sich schnell von ihm, ehe es heiß werden konnte. Mit einer flapsigen Bemerkung löste sie die Spannung auf und ging allen voran aus dem Hotel. Nach ein paar Drinks war der Zwischenfall „Cassandra“ vergessen und für ein paar Stunden hatte Vittoria sogar das Gefühl, wirklich gute Freunde gefunden zu haben.

© by LilórienSilme 2015

  • facebook-square
  • Instagram schwarzes Quadrat
  • Twitter schwarzes Quadrat
bottom of page