LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 15
~ Schicksalhafte Begegnung
Unser Dorf war nach Jahrzehnten des Bauens und Planen schließlich soweit gediegen, dass wir sagen konnten, es war fertig. In der Mitte befand sich ein kleiner Platz, auf dem immer noch der alte Brunnen stand. Dahinter reckte sich eine große Versammlungshalle in den Himmel. Wir hatten ihr die Türen der alten Halle wieder eingesetzt und sie so hergerichtet, dass wir alle darin sitzen und unser wöchentliches gemeinsames Mahl einnehmen konnten.
Nachdem wir nun so viele waren, aßen die einzelnen Familien meist in ihren eigenen Häusern. Nur einmal in der Woche, am Orbelain, dem Tag der Valar, kamen wir alle zusammen, um gemeinsam zu speisen und unsere Gedanken zu teilen. Wir erzählten uns, was alles in der Woche geschehen war und welche neuen Ereignisse auf uns zukommen würden. So wurden an diesem Tag auch traditionellerweise die Verlobungen bekannt gegeben.
Davon gab es nun wieder sehr viele. Die ersten Anzeichen, dass unser kleines Volk wieder aufzuleben begann. Auch wenn der Gipfel des Götterberges nun in den Wolken lag und wir Ilmarin nicht mehr gefahrlos betreten konnten. Zu unsicher war der Weg geworden und das Gebäude war schon so alt und verrottet, dass es wahrscheinlich über uns zusammen gebrochen wäre. Manchmal wagten sich noch junge Elben hinauf, um ihren Mut zu beweisen, doch sie kehrten meist unverrichteter Dinge zurück, weil sie den Pfad verloren hatten.
Die Häuser der Familien lagen in drei Ringen um den großen Platz herum. Jedes von ihnen hatte einen kleinen Garten angrenzend und meistens auch einen kleinen Stall dabei. Die großen Stallungen lagen außerhalb des äußeren Ringes, sodass die Tiere genug Platz hatten. Unser Haus lag im inneren Ring, genau hinter der Großen Halle. Es gab einen direkten Weg hinauf auf den Máhanaxar, den wir weiterhin für unsere Gebete nutzten. Es hatte vorne heraus einen Garten, in welchem ich Gemüse anpflanzte. Unten gab es einen großen Raum, den wir als Wohnküche nutzten. Und oben befanden sich die großzügigen Schlafzimmer. Nebenan standen vier Pferde in unserem privaten kleinen Stall.
Vor beinahe nun vierzig Sommern hatte ich einer Tochter das Leben geschenkt. Sie war mir wie aus dem Gesicht geschnitten, nur hatte sie die strahlend blauen Augen und den stechenden, alles durchschauenden Blick ihres Vaters geerbt. Sie war unser ganzer Stolz, weil wir dachten, dass sie unser einziges Kind bleiben würde, und so hatten wir ihr den Namen Nefertirî gegeben.
Doch ein paar Jahre später hatten die Götter uns mit einem zweiten Kind, einer weiteren Tochter, gesegnet. Und sie sah aus wie ihr Vater. Wir liebten unsere Mädchen und waren sehr glücklich, dass wir sie um uns haben durften. Sie waren Geschenke, die mehr Wert besaßen, als ganz Arda, weil sie nur mir und Legolas gehörten. Sie beide waren die Krönung unserer innigen Liebe, die durch die Geburt zweier so wundervoller Kinder gesegnet war.
Voller Mutterstolz drückte ich meine älteste Tochter an mich und küsste sie auf den Scheitel. Sofort entwand sie sich mir und sah mich mit diesem Blick an, den nur Kinder ihren Eltern schenken konnten. „Mutter, lass das bitte“, sagte sie, blieb aber neben mir sitzen und legte ihren Kopf wieder zurück auf meinen Schoß.
Gedankenverloren strich ich ihr über die Haare. Manchmal konnte ich mein Glück kaum fassen. Wenn ich daran zurück dachte, wie ich mit meinem Schicksal gezaudert und es verflucht hatte, kam mir dies nun wie ein anderes Leben vor. Als ich das Meer überquerte, hatte ich auch einen Teil von mir zurück gelassen, der nun nichts mehr mit der Lilórien gemeinsam hatte, die damals im Ringkrieg gekämpft hatte. Selbst wenn ich gewollt hätte, vermutlich hätte ich meine Hände nicht mehr dazu bewegen können, den Griff eines Schwertes zu packen.
„Weißt du eigentlich, was für ein großes Glück du für uns warst?“, flüsterte ich. Meine Tochter hob lächelnd den Kopf und sah mich mit den Augen ihres Vaters an. „Was sollte ich sonst für euch sein, Mutter?“, erwiderte sie, mit einem schelmischen Funkeln im Blick. „Du bist ganz schön frech!“, rief ich aus und erhob mich.
Nefertirî rannte lachend aus dem Haus und ließ mich dabei im Türrahmen zurück. Gespielt empört stemmte ich die Hände in die Hüften und rief ihr noch nach, doch sie ignorierte es, wie es Kinder taten, die man beinahe erwachsen nennen konnte. Eigentlich hätte ich ihr böse sein müssen, doch ich wusste, dass sie mehr von ihrem Vater hatte als von mir und sich daher wohl kaum etwas sagen ließe. Sowieso war sie mehr auf Legolas fixiert, als auf mich.
Mîram hingegen verbrachte so viel Zeit wie möglich bei mir. Sie war ein paar Jahre jünger als ihre Schwester. Während Nefertirî nun beinahe so groß war wie ich, reichte Mîram mir grade bis zum Kinn. Sie war gerade dabei, eine junge Frau zu werden und meist versteckte sie sich schüchtern hinter mir, wenn jemand sie ansprach. Doch ich war mir sicher, dass sich das bald ändern würde.
Froh über meine Familie streichelte ich über meinen gewölbten Leib. Es war nun schon mein drittes Kind, was ich durch die Gnade der Valar empfangen durfte. Bisher hatten sie mich mit zwei wundervollen Mädchen gesegnet und sowohl Legolas wie auch ich hofften, dass es dieses Mal ein Junge werden würde. Doch dies würde erst die Zeit zeigen können.
„Wie geht es dem Baby?“, fragte meine jüngste Tochter und kam aus dem Haus. Sie stellte sich vor mich, legte beide Hände an meinen Bauch und streichelte ihn vorsichtig. „Es geht ihm gut“, sagte ich lächelnd. „Fühlst du, wie es tritt?“ Mîrams Augen leuchteten, als sie die winzige Bewegung wahrnahm, und legte ein Ohr dorthin, wo sie den Tritt gespürt hatte. „Hallo, kleiner Bruder“, flüsterte sie und ich streichelte ihr entzückt über den Kopf. Sie hatte schlohweißes Haar, wie ihre Schwester, was in der Sonne manchmal silbern glänzte. Es unterschied sie beide von den anderen Elbenkindern, wie wenn sie nur die Größe einen Hobbits besessen hätten, denn die meisten Neugeborenen wurden mit blondem oder braunem Haar gesegnet. Ich wusste nicht, ob es ein Geschenk oder ein Fluch sein würde, doch ich nahm es hin, wie es war. Zu sehr liebte ich meine Mädchen, als dass ich mich um ihr Äußeres sorgen konnte.
Und während ich mit Mîram und dem Baby zu Hause blieb, sattelte Nefertirî ihre Stute und galoppierte aus der Stadt. Es war schwer, sie im Haus zu halten. Ihre Liebe galt dem Wind, der sie mit sich zog, wohin er auch wehte. Und sie folgte ihm ohne zu zögern.
Dieses Mal wagte sie sich weiter aus dem Umkreis der Stadt heraus, als bisher zuvor. Denn, nachdem sie tagelang wegen einer Krankheit das Bett hatte hüten müssen, sehnte sich ihr Herz danach, endlich wieder die Weiten der Natur um sie herum zu entdecken. Sie ließ ihrer Stute die Zügel und genoss das Gefühl der leichten Brise, die ihr Kleid und ihre Haare zum Flattern brachten.
Das Wetter war für Frühling angenehm mild. Es hatte den ganzen Winter über nicht eine Nacht Frost gegeben und die Flora schien es nun Mutter Natur danken zu wollen, dass ihre Wurzeln vor dem Erfrieren geschont worden waren. Mit voller Pracht reckten sie ihre Blüten der wärmenden Sonne entgegen und Nefertirî genoss besonders den Anblick der alfirin, ihrer Lieblingsblume. Auf einer Wiese sprang sie vom Pferd und ließ sich im Gras nieder.
Seit sie geboren worden war, waren nun viele Sommer ins Land gegangen und sie war nun beinahe so alt, dass man sie in Menschenjahren vermutlich für volljährig angesehen hätte. Und trotzdem war sie im Herzen noch ein kleines Mädchen, was lieber den ganzen Tag herumtollen und laufen wollte, als sich um die ernsten Angelegenheiten des Lebens zu kümmern. Der Elb, der sie einmal heiraten würde, begann bereits jetzt, mir leid zu tun.
Sie schmunzelte, als die im Wind wiegenden Grashalme ihre nackten Sohlen kitzelten, und streckte sich im Gras aus. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt betrachtete sie gebannt, wie die Wolken über den Himmel zogen. Mittlerweile hatte das Meer schon große Teile des einstigen Strandes wieder zurück erobert, an dem ich einst vor vielen Jahren gelandet war, und der große, weite Kontinent Aman schien mehr zu mehr einer Insel zu gleichen. Doch das verringerte die Schönheit unserer neuen Heimat nicht im Mindesten.
Im Gegenteil. Seit das Meer sich immer mehr Land zurück holte, was es zu Anbeginn der Zeit freigegeben hatte, schien es immer wärmer zu werden. Die Winter wurden mildert und die Apfelbäume, die sich selbst rund um unsere Siedlung gepflanzt hatten, blühten beinahe das ganze Jahr über. Sobald es kühler wurde und die letzten bunten Blätter gefallen waren, bildeten sich schon die ersten Knospen. Seit Jahren hatte es keinen Schnee mehr gegeben und manche von den jüngeren Elbenkindern wussten nicht einmal mehr, was Winter wirklich bedeuten konnte. Es war, als würden wir im ewigen Spätfrühling leben und nur das Wachsen unserer Kinder zeigte uns an, dass die Zeit nicht stehen geblieben war.
Für meine Tochter jedoch konnte die Zeit nicht schnell genug vergehen. Sie sehnte sich den Tag herbei, an dem ein stattlicher Elb des Weges kommen und sie sich in ihn verliebten würde. Bisher waren ihr jedoch die, die sich bereits bei ihrem Vater vorgestellt hatten, nicht gut genug gewesen. Nicht einer von ihnen hätte ihr Temperament zu zügeln gewusst und wäre vermutlich an ihrer frohen Natur eines Tages verzweifelt. Doch sie wusste zum Glück um diesen Umstand und verhielt sich seltsam erwachsen, was eine Heirat anging.
Nefertirî seufzte und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Wie würde er wohl aussehen, wenn sie ihm begegnete? Schon oft hatte sie überlegt, dass er vermutlich genauso sein musste, wie ihr Vater: stark, gutaussehend, liebevoll und ein wahrer Krieger. Doch die Elben, die mit ihr zusammen aufgewachsen waren, allen voran ihr Cousin Thalion, hatten nie einen Kampf gefochten. Ihre Herzen waren rein, ihre Augen hatten nie dem Blutvergießen zusehen müssen, ihre Hände noch nie ein Herz am Schlagen gehindert. Was wussten sie also schon vom Leben?
Tief in Gedanken erhob sie sich, streichelte ihrer Stute kurz über den Hals, dann begab sie sich in das angrenzende Wäldchen, wo sie einen kleinen Bach fließen hörte. Es gab eine kleine Lagune, die Süßwasser enthielt und ein wenig versteckt lag. Also streifte sie ihr Kleid ab und stieg in das kühle Wasser. Sofort überzog eine Gänsehaut ihren Körper, doch sie genoss das Gefühl.
Als sie sich wieder sauber fühlte, legte sie sich nackt in die Sonne und ließ sich vom Wind trocknen. Danach verspürte sie ein wenig Hunger, doch da sie noch nicht bereit war, wieder in die beengende Siedlung zurückzukehren, sammelte sie sich ein wenig Essbares am Rande der Lagune zusammen und setzte sich damit unter eine Weide.
Sie wusste, dass ihre Stute sich nicht weit von ihr entfernen würde. Also legte sie sich, nachdem sie aufgegessen hatte, einfach ins Gras uns schloss die Augen. Sie war sich sicher, dass ihr hier nichts geschehen konnte. Wie sehr sie damit im Unrecht war, ahnte sie nicht, als ihre Träume sie umfingen.
Mitten in der Nacht schreckte sie plötzlich wieder hoch. Erst war sie verwirrt darüber, dass es schon dunkel geworden war, doch dann schob sie diesen Gedanken bei Seite, als sie überlegte, warum sie wohl wach geworden war. Und weil sie sich nicht erklären konnte, was das wohl gewesen war, blieb sie reglos liegen und lauschte in die Dunkelheit hinein. Für ein anderes Wesen als einen Elb wären die beinahe lautlosen Bewegungen nicht zu hören gewesen und selbst sie hatte nun Mühe, etwas zu vernehmen. Sie spitzte gespannt die Ohren.
Sahîrim schlich durch das zwei Fuß hohe Gras. Er hatte seinen Dolch in der Hand und lauschte. Die Stute, die draußen auf der Ebene fraß, war sicherlich nicht ohne Reiter hier. Doch er konnte keine Spuren entdecken. Nur ein seltsamer Geruch lag ihm in der Nase. Es roch nach Ruß, Mehl und Schweiß, doch gleichzeitig auch nach Wald, Blumen und vor allem nach Wind. Behutsam pirschte er sich weiter vor, erreichte schließlich die kleine Lagune und den Weidenbaum.
Sein Instinkt verriet ihm, dass es der Baum war. Also bewegte er sich darauf zu, schob mit der Klinge die Zweige bei Seite und blickte hinein. Er sah die Umrisse eines Körpers auf dem Boden, konnte aber dank der Dunkelheit nicht erkennen, um welches Wesen es sich handelte. Bevor er jedoch etwas unternehmen konnte, bewegte sich die Gestalt.
Sein Dolch schnellte vor, dorthin, wo er die Kehle vermutete, und ritzte die Haut etwas an. Er roch das Blut eines Angehörigen seines Volkes. „Gebt Euch zu erkennen“, zischte er, sich seiner überlegenen Position bewusst.
Nefertirî rührte sich nicht. Sie spürte das kalte Metall auf ihrer Haut und wagte kaum zu atmen. Wieso war sie nur so naiv gewesen und hatte keine Waffe mitgenommen?
Weil das nicht nötig sein sollte, gab sie sich selbst die Antwort. Noch nie hatte sie die Sehne eines Bogens gespannt, noch nie den Griff eines Schwertes gehalten. Sie hätte nicht einmal kämpfen können, wenn ihr Leben davon abhinge. Doch in der sicheren Elbensiedlung war dies auch nie notwendig gewesen. Erst jetzt erkannte sie, wie töricht es von ihr gewesen war, dass sie sich immer den Anweisungen ihres Vaters, sich nicht zu weit von zu Hause zu entfernen, widersetzt hatte. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Zunge schärfer war als die Klinge ihres Gegners.
„Ich bin eine friedvolle Wanderin von jenseits der Hügel“, sagte sie deshalb in einem, wie sie hoffte, versöhnlichen Ton. „Bitte tötet mich nicht, edler Herr. Ich hatte bestimmt keine bösen Absichten.“
Sahîrim erkannte die Stimme einer Elbe und lockerte augenblicklich seinen Griff um den Dolch. Gegen eine Frau würde er nicht kämpfen.
Doch Nefertirî spürte sein Zaudern sofort. Ohne zu überlegen sprang sie nach vorne, versuchte seine Handgelenke zu erhaschen und warf ihm ihre Schulter gegen die Brust. Zu überrascht von ihrem Angriff flog ihm das Messer aus der Hand und verlor sich irgendwo in der Dunkelheit. Er keuchte, als sie ihm die Luft aus den Lungen presste, kippte nach hinten und wurde von ihrem Gewicht auf dem Boden festgenagelt. Sie wog nicht viel, doch das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite und machte ihn bewegungsunfähig.
Sie rangen eine Weile miteinander, bis er sich ihrem Griff entwenden konnte. Schnell nutzte er diesen kleinen Vorteil, zwängte ein Knie zwischen ihre Beine und warf sie nun ihrerseits auf den Rücken. Doch das wollte sie sich nicht gefallen lassen. So stemmte sie ihre Knie in seinen Bauch, zog ihre Arme so weit hinter ihren Kopf, wie sie konnte, und trat zu.
Sahîrim flog durch die Äste der Weide, sah den Boden auf sich zukommen und rollte sich ab. Dabei packte er ihre Handgelenkte nur noch fester, zog sie dadurch mit sich und landete dank ihrem Schwung mit ihr platschend in der Lagune.
Prustend kamen sie wieder an die Wasseroberfläche. Zischend zog Nefertirî die Luft ein. Plötzlich wurde ihr wieder bewusst, dass sie noch immer nackt war, und schämte sich augenblicklich. Sie versuchte ihre Blöße zu bedecken, doch dann stellte sie fest, dass mittlerweile zwar die Sonne aufgegangen, es aber immer noch zu dunkel war, um durch die Wasseroberfläche blicken zu können.
„Du bist ein Mädchen!“, hörte sie nun ihren Gegner erstaunt ausrufen. Danach brach er in schallendes Gelächter aus. Empört verschränkte sie die Arme vor der Brust und drehte sich weg. „Ich bin eine Frau“, sagte sie trotzig.
Als er sich wieder beruhigt hatte, griff er vorsichtig nach ihren Schultern und drehte sie wieder zu sich um. Er lächelte noch immer, doch sein Blick glitt dabei über ihren Körper, dessen Umrissen im Wasser nun erkennbar waren. „Wie ich sehe, hast du Recht“, sagte er. Bevor sie ihn jedoch für diese Unverschämtheit züchtigen konnte, sah er ihr in die Augen. „Ich heiße Sahîrim. Und wie ist dein Name, schönes Kind?“
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Namensbedeutungen:
Orbelain – Samstag, Tag der Valar
Nefertirî – diesseits alleine die Krone bewachen
Mîram – eine Mauer aus Juwelen (frei übersetzt)