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Kapitel 14

~ Flucht

 

Es war in den nun folgenden Jahren schnell zu erkennen gewesen, dass Sahîrim der Kräftigere von beiden war. Schon bei der Geburt hatte Carim schwächlicher gewirkt. Und mit der Zeit überstrahlte sein Bruder ihn immer mehr. Während Carim vom Körperbau eher klein und zierlich wirkte, bekam Sahîrim breite Schultern und eine schmale Taille. Seine Augen leuchteten blau und sein braunes Haar wurde lang und seidig. Er trainierte jeden Tag hart mit seinem Vater und wurde immer kräftiger.

 

Carim saß auf dem Gatter des Übungsplatzes und sah den Schwertübungen zu, die sein Bruder vollführte. Er hatte das Hemd ausgezogen und sein junger, aber schon fast erwachsener, Körper glänzte vom Schweiß in der heißen Mittagssonne. Neidisch betrachtete er, wie sich die Muskeln unter der leicht gebräunten Haut abzeichneten, während man bei ihm jede Ader durch die durchscheinend blasse Haut sehen konnte. Wie hatten sie nur so unterschiedlich werden können, wo sie doch von der gleichen Mutter geboren worden waren?

 

„Sieht er nicht wunderschön aus?“ Seardin war neben ihn getreten, hatte die Ellbogen auf das Gatter gestützt und betrachtete seinen Bruder sehnsüchtig. Sie war ein paar Jahre nach ihnen geboren worden, als die Gemeinschaft am Steilhang der Klippen bereits um eine beträchtliche Zahl angewachsen war. In der Zwischenzeit hatte es weitere Elbenkinder gegeben und vermutlich dachte sein Vater bereits daran, sie beide zu verheiraten. Aber würde eine Frau ihn überhaupt haben wollen, wenn sie stattdessen seinen Bruder haben könnte? Seardin war das beste Beispiel dafür. Ihre weiblichen Reize waren noch nicht vollständig entwickelt, doch ihr Herz trachtete bereits nach Liebe. Wahrscheinlich wäre sie Sahîrim ohne zu Zögern überall hin gefolgt.

 

Sahîrim unterdessen hatte bemerkt, dass er Zuschauer bekommen hatte. Er sah, wie sein kleiner Bruder sich mit Seardin unterhielt und es freute ihn. Sie war wunderschön, hatte langes, seidig schwarzes Haar und riesige braune Augen. Wenn sie in ein paar Jahren erwachsen war, würden sich die Männer sehr um sie bemühen. Vielleicht würde sein Bruder ja auch über seinen Schatten springen und sich einmal alleine mit ihr treffen.

 

Kurz dachte er daran, was sein Vater heute Morgen zu ihm gesagt hatte. Er war der Älteste unter den Neugeborenen und schon nahezu im heiratsfähigen Alter. Sollte ihm eine Elbe gefallen, hatte Delos gesagt, müsse er es ihm nur sagen und er würde mit ihren Eltern sprechen. Doch Sahîrim hatte abgewinkt. Er interessierte sich nicht für so etwas. Lieber wollte er sich weiter im Schwertkämpfen üben, als einer jungen Dame den Hof zu machen. Er wusste ohnehin, dass sie sich ihm nicht widersetzen würde. Aber was konnte er mit einem jungen flatterhaften Ding schon anfangen.

 

„Mein Sohn!“, rief Delos vom Eingang des Übungsplatzes her zu ihm herüber. Sahîrim hielt mitten in der Bewegung inne und ging zu ihm. Er senkte leicht den Kopf, legte seine Hand mit dem Schwert auf seine linke Brust und sagte: „Ja, Vater, was wünscht Ihr?“

 

Delos zog eines der Schwerter aus dem Holzgestell, in welchem die Übungsgeräte bereit standen. Er wog es kurz in der Hand, schwang es ein paar Mal um sein Handgelenk, dann richtete er die Spitze auf seinen Ältesten. „Zeig mir, was du gelernt hast.“

 

Ohne zu zögern riss Sahîrim sein Schwert hoch und schlug das seines Vaters weg. Er machte einen Satz nach hinten, um seine Deckung aufzubauen, hatte gerade noch Zeit, einen festeren Griff zu wählen, als Delos bereits zum Angriff überging. Er hielt den Bihänder nur mit der Rechten und sein Sohn konnte nur ahnen, was für eine Kraft er haben musste, um so zu kämpfen. Er selbst war mit einem Kurzschwert bewaffnet, was mehr zum Üben der Bewegungsabläufe als zum Kämpfen gedacht war. So musste er seinen Gegner näher an sich herankommen lassen, um selbst einen Treffer landen zu können.

 

Doch Sahîrim ließ sich nichts anmerken. Er blockte die Schläge gekonnt ab, merkte aber bald, dass sein Arm lahm wurde. Mit solch einer Heftigkeit hatte er nicht gerechnet. Schon nach kurzer Zeit schnaufte er merklich, während sein Vater immer wieder die Schwerthand wechselte und mit neuer Kraft zuschlug. Er selbst hatte bisher immer nur mit Rechts gekämpft, seinem stärksten Arm. In einem kleinen Augenblick des Verschnaufens nahm er das Schwert in die Linke und versuchte den nächsten Schlag zu blocken. Doch sein Handgelenkt knickte ein, ein stechender Schmerz jagte durch seinen Arm und Tränen traten ihm in die Augen. Geschlagen ging er in die Knie. Er wischte sich die Tränen wieder ab, um wenigstens etwas von seiner Würde zu wahren, dann blickte er seinen Vater an, der ihm die Schwertspitze an die Kehle hielt.

 

Mittlerweile hatten sich mehr und mehr Leute am Gatter eingefunden und das Schauspiel interessiert verfolgt. Es war zu einer festen Instanz im Leben der Elben hier geworden. Jeden Tag zur Mittagsstunde trainierten Vater und Sohn gemeinsam. Als erstes gab es einen Kampf, der die Stärke der Streiter demonstrieren sollte. Danach übten sie Seite an Seite einzelne Positionen und Schrittabfolgen. Gelegentlich gesellte sich ein anderer Elb dazu, doch meist waren Vater und Sohn alleine.

 

Später saßen Delos, Sahîrim und Carim in ihrem Haus zusammen. Eine Magd hatte ihnen einen Eintopf gekocht, doch während sein Vater mit Genuss aß, schob Sahîrim seine Schale von sich. „Was hast du, mein Sohn?“

 

Sein Ältester erhob sich von seinem Stuhl, verschränkte die Arme und trat ans Fenster heran. Er blickte auf den Hof, der ihr Haus mittlerweile umgab. In den Jahren, die sie hier nun schon lebten, hatte sich vieles verändert. Er konnte sich daran erinnern, dass in seiner Kindheit nur eine Hand voll Häuser auf der Anhöhe gestanden hatten. Nun war diese kleine Ansammlung zu einer großen Siedlung geworden. Beinahe mit jedem neuen Jahr hatte man das Herrenhaus seines Vaters erweitert. Neue Räume, manches Mal sogar ganze Korridore, waren dazu gekommen. Die Stallungen waren größer geworden, sodass sie nun Platz für alle Tiere boten. Sogar Diener hatte Delos eingestellt, weil er alle Aufgaben nicht mehr alleine bewältigen konnte, ohne die führende weibliche Hand im Haushalt. Doch das alles konnte ihn nicht zufrieden stellen.

 

Sahîrim schnaubte, als er sah, wie eine junge Elbe, die vielleicht halb so alt war wie er, zwei schwere Eimer voll Wasser über den Hof schleppte. „Seit so vielen Jahren leben wir nun schon hier, Vater. Und vermutlich sollte ich dankbar für das Dach sein, was du uns geschenkt hast. Doch es fehlt etwas.“ Aus dem Augenwinkel sah er, wie sein jüngerer Bruder weiter in den Eintopf starrte, als könnte dieser noch davonlaufen. Wahrscheinlich teilte Carim seine Meinung, hatte aber zu große Angst vor dem Vater, diese auch laut auszusprechen.

 

Delos legte den Löffel bei Seite und blickte seinen Sohn unverwandt an. Er legte die Fingerspitzen aneinander, sah ihn herausfordernd an und sagte: „Nun, sprich, mein Junge. Was genau sollte dir hier fehlen? Du hungerst nicht, du hast ein weiches, warmes Bett, in dem du schlafen kannst. Viele junge Mädchen stellen dir nach. Du müsstest nur die Hand ausstrecken und könntest dir jede von ihnen nehmen. Du hast hier alles, was dein Herz begehren könnte. Und doch bist zu unzufrieden. Ich bin gespannt darauf, was es sein könnte, das dein Herz sehnen lässt.“

 

Sahîrim holte tief Luft. Sein Vater hatte Recht: es gab hier nichts, was er nicht haben konnte. Bis auf diese eine Sache. Aber würde Delos das verstehen? „Es gibt hier keine Liebe, Vater.“ Er erwartete beinahe, dass man ihm eine Ohrfeige verpassen und ihn zwei Wochen bei Wasser und Brot hungern lassen würde.

 

Doch es geschah nichts. Es wurde so still im Raum, dass man den Flügelschlag einer Biene hätte hören können. Und während Delos seinen Sohn mit unverhohlener Wut anstarrte, wünschte Carim sich, er könnte in einem Mauseloch verschwinden. So oft hatte auch er diesen Gedanken gehabt. Wie viele Nächte hatte er wach gelegen, aus dem Fenster geblickt und sich gefragt, wo seine Mutter wohl war. Ob sie ihn geliebt hätte?

 

Sie wussten von ihrem Vater, dass Milui bei der Geburt der Zwillinge gestorben war. Ihr Körper hatte es nicht überstanden. Aber wo war ihre Seele? Weilte sie in Mandos’ Hallen? Wachte sie von dort aus über ihre Söhne? Schämte sie sich gar für sie?

 

All diese Fragen hatten sich die Brüder nachts, wenn ihr Vater bereits schlief, immer und immer wieder gestellt. Als beide älter wurden, nahm Sahîrims Interesse am Ableben der Mutter ab. Doch Carim suchte Zuflucht in dem Gedanken, dass sie ihn, wenn er Trost gebraucht hätte, in den Arm genommen und ihn gewiegt hätte wie ein kleines Kind. Sie hätte seine Tränen getrocknet und ihm Mut gemacht, dass er nicht immer so schwächlich bleiben würde, wie er nun war. Und sie hätte ihm gesagt, dass sie ihn liebte, egal wie er sich entwickelte.

 

Doch das alles war nur eine traurige Vorstellung. Nichts davon würde je geschehen, denn ihre Mutter war gestorben. Sie würde auch nicht wieder zurückkehren, das wusste er. Und genau deswegen ängstigte ihn der Gedanke, was mit ihm geschehen würde, sollte Sahîrim vom Vater verstoßen werden, weil er seine Empfindungen nicht für sich behalten konnte. Denn er wusste, dass Delos ihn nur so behandelte, weil seine ganze Aufmerksamkeit dem Ältesten galt. Sollte sich das jemals ändern, würde der Vater merken, was für ein erbärmlicher Schwächling er in Wirklichkeit war.

 

„Wie ich feststellen muss“, sagte Delos und setzte sich etwas bequemer hin, „wirst du wohlmöglich doch noch vernünftig. Ich fasse das als ein Ja auf, deine Verlobung mit Merenriel, Oranors Tochter, bekanntzugeben. Es freut mich, dass du dich so entschieden hast, mein Sohn.“

 

Natürlich wusste Delos genau, was sein Sohn damit gemeint hatte. Doch er wusste, dass Sahîrim noch nicht soweit war, die Wahrheit zu erfahren. Die Jahre hatten seinen Hass reifen lassen, wie einen guten Wein. Und er war heute mehr denn je davon überzeugt, dass es die Schuld der Carahrim war, die seine geliebte Milui das Leben gekostet hatte. Aber die Zeit der Rache war noch nicht gekommen. Sein Volk war noch zu jung und unerfahren. Es würde ihn noch ein paar Jahre, wenn nicht Dekaden, kosten, sie auf einen derartigen Kampf vorzubereiten.

 

Entsetzt ließ er seine beiden Söhne im Wohnraum zurück und betrat sein Arbeitszimmer. Er zündete eine Kerze an und öffnete das Fenster. Da es nun offiziell war, würde er Oranor einen Brief zur Verlobung schreiben müssen und ihn fragen, ob beide Parteien mit der Heirat einverstanden waren.

 

Und während Delos sein Siegel unter den Brief setzte, stürmte Sahîrim ebenfalls aus dem Raum. Er war sich sicher, dass sein Vater genau wusste, wovon er gesprochen hatte. Doch natürlich hatte er das Offensichtliche übergangen. Sein Wunsch, ihn mit Merenriel zu verheiraten, hatte er schon früh kundgetan. Ebenso ablehnend hatte Sahîrim reagiert, als er davon erfahren hatte. Merenriel war noch ein Kind. Außerdem interessierte es ihn nicht, zu heiraten. Es hatte ihn nie sonderlich interessiert. Wieso sollte er sich an eine Frau binden, wenn er sie alle haben konnte?

 

Wütend stapfte er zur Treppe. Sein Vater sah in ihm nichts anderes, als ein besonders fähiges Pferd, welches man verkaufen und formen konnte, wie es ihm beliebte. Doch das würde er sich nicht gefallen lassen.

 

Sein Bruder lief hinter ihm her und packte ihn am Arm, als er gerade die Treppe in die oberen Räume hinaufgehen wollte. „Was hast du vor?“, fragte Carim mit panischem Blick. „Du kannst mich nicht mit ihm alleine lassen.“

 

Zunächst wollte Sahîrim die Hand seines Bruders abschütteln, doch der Blick, mit dem er ihn maß, ließ sein Herz wieder weicher werden. Er wusste, dass Carim sich vor dem Vater fürchtete, doch wie konnte er weiter hier blieben, wenn man ihn nur als kampferprobten Jüngling und nicht als volles Mitglied dieses Hauses mit einer Stimme betrachtete? Sein Vater hatte in ihm immer nur den Erben gesehen, jedoch nie den Sohn, der er einfach nur sein wollte. Er hatte eine eigene Vorstellung vom Leben.

 

„Hör mir zu, honeg“, sagte er und ging in die Knie. Da er bereits zwei Stufen der Treppe genommen hatte, konnte er Carim nun genau in die Augen blicken. Er fasste ihn sanft bei den Schultern. „Ich weiß, dass du Angst hast. Aber ich kann nicht länger hier blieben. Vater nimmt mich nicht ernst. Doch vielleicht tut er es, wenn er mich vermisst. Vielleicht ändert er seine Meinung und lässt uns unser Schicksal selber in die Hand nehmen. Denn, obwohl er nichts sagt, ahne ich, dass er große Pläne mit uns hat, die uns sicherlich nicht gefallen werden. Verstehst du das, kleiner Bruder?“

 

Carim senkte traurig den Blick. Wie konnte er es nicht verstehen? Sie hatten sich bis vor ein paar Jahren das Zimmer und ihr Leben geteilt. Er wusste um die Gedanken seines Bruders. „Versprich mir, dass du zurück kommst.“

 

Das Gesicht von Sahîrim hellte sich auf, als er die, wenn auch sehr leise, Zustimmung erhielt. Er küsste seinen Bruder auf die Stirn und drückte ihn fest an sich. „Ich verspreche es bei meinem Leben, honeg. Ich werde dir mein Pferd hier lassen. Solltest du jemals versuche mich zu erreichen, reite mit ihm. Er kennt den Weg zu mir. Doch nun: namárië." Und mit diesen Worten stürmte er die Treppe hinauf in sein Zimmer, packte in aller Eile ein paar Sachen zusammen und verließ eilends das Haus. Im Stall sattelte er das schnellste Pferd und war aus der Dorf heraus, bevor jemand merkte, dass er verschwunden war.

 

Nur sein Bruder stand im Türrahmen und blickte ihm nach. „Lin galu“, flüsterte er und meinte es so, wie er es sagte.

 

 

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Namensbedeutung:

 

Seardin – bitterlich (sear – bitter)

Merenriel – fröhliches Mädchen

Oranor – Sonnentag

Carahrim – Stadtelben (Name, den Delos den Elben aus Valmar gegeben hat)

 

Übersetzung:

 

Honeg – Brüderchen

Lin galu – Viel Glück

© by LilórienSilme 2015

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