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Kapitel 14

 

~ Needs of London

 

Ein leichter Nieselregel lag über London, wie er im Frühling üblich war. Doch die wahren Bewohner dieser Stadt konnte das nicht abschrecken. Sie waren daran gewöhnt, dass es außerhalb der Tube selten über 25°C wurde, und falls doch, der Ausnahmezustand in der gesamten Stadt herrschte. Dann war es kaum möglich, noch einen freien Platz in den vielen Parks zu bekommen, geschweige denn jemanden zu finden, der noch ordnungsgemäß seiner Arbeit nachging.

 

Doch dank des Wetters und der Jahreszeit waren die Straßen noch nicht überfüllt mit Touristen und so konnten Thomas und Megara es sogar riskieren ein wenig an der Themse spazieren zu gehen. Er hielt den Regenschirm und sie hatte sie bei ihm untergehakt, während sie die Promenade vor dem Tower entlang zur Tower Bridge gingen. Die blaue Farbe der Brücke war in dem Dunst kaum zu erkennen. Nur das Rot leuchtete ihnen noch ein wenig entgegen.

 

„Du hast also schon mit ihr gesprochen“, sagte er und blickte dabei in die Ferne. Er hatte selbst darüber nachgedacht, Vittoria anzurufen und ihr von ihm und Meg zu erzählen, aber dann hatte er den Gedanken wieder verworfen. Nach der Trennung waren sie keine Freunde geblieben. Sie hatte ihn eher verabscheut, als gemocht, weil er sie zum Hausmädchen degradieren wollte, wie sie es nannte. Dass er ihr nur ein schönes Leben hatte ermöglichen wollen, hatte sie bis heute nicht verstanden. Deswegen hatte er es lieber Meg überlassen, mit ihrer besten Freundin zu sprechen.

 

Doch ihrem Schweigen nach zu urteilen war das Gespräch nicht besonders glücklich verlaufen. Er hörte, wie sie die Nase hochzog und sah sie an. Eine Träne kullerte ihr über die Wange und verfing sich in ihren Haaren. Sofort blieb er stehen und nahm sie in den Arm. Sie versuchte sich noch zusammen zu reißen, doch der Damm brach und sie fing an zu weinen.

 

„Es war schrecklich“, schluchzte sie. „Lex hat versucht mit ihr zu reden, aber sie wurde so wütend. Ich habe noch mal versucht sie zu erreichen, aber es ging nicht…“ Ihre Stimme brach und sie krallte sich in seinem Anzug fest, während er sie an sich drückte.

 

So standen sie eine Weile da und hielten sich aneinander fest, bis Meg sich beruhigt hatte und sich von ihm löste. Sie wischte sich die Tränen ab, die leichte Spuren in ihrem Make-up hinterlassen hatten. „Ich weiß, dass es nicht einfach für sie ist“, sagte sie und sah ihm in die Augen. Noch immer konnte sie nicht verstehen, wie Vittoria diesen Mann hatte ablehnen können. „Aber sie könnte doch wenigstens versuchen mit mir zu reden. Stattdessen schicke ich ihr SMS und quatsche ihr auf die Mailbox, aber sie rührt sich einfach nicht. Mittlerweile ist ihr Handy nicht mal mehr an.“

 

Thomas gab ihr einen Kuss auf die Stirn, nahm sie bei der Hand und führte sie weiter Richtung Brücke. „Vielleicht braucht sie einfach ein bisschen Zeit. Oder sie möchte lieber in aller Ruhe mit dir darüber reden, wenn sie wieder zurück ist. Weißt du schon, wann sie wieder kommt?“

 

Meg seufzte. „Nein, leider nicht.“ Als Vittoria abgeflogen war, stand der Termin für ihre Rückreise noch nicht fest. Sie hatte gewusst, dass es erst noch nach Prag gehen würde, bevor sie nach London zurück kam. Aber seit Lelex das Telefonat beenden musste, wusste sie noch nicht mal mehr, ob sie noch in Neu Seeland war. Mittlerweile wäre es gut möglich gewesen, dass sie schon wieder in Europa war. Aber so oft sie es auch versuchte, das Einzige, was sie hörte, war die automatische Ansage.

 

Manchmal machte sie sich ernsthaft Sorgen um ihre Freundin, dass sie sich vielleicht sogar etwas angetan haben könnte. Sie hätte es ihr nicht verdenken können. Einen schlimmeren Verrat, als den, den sie begangen hatte, gab es unter Freundinnen eigentlich nicht. Doch sie hatte es trotzdem getan, obwohl sie wusste, wie schmerzhaft und unfair das alles war. Sie konnte einfach nicht anders. Wenn sie Thomas ansah, wusste sie, dass er sie genauso gern hatte, wie sie ihn. Wenn da nicht sogar mehr war als nur Zuneigung.

 

Genau genommen wusste sie gar nicht, was Thomas für sie empfand. Vielleicht hing sein Herz immer noch an Vittoria und sie riskierte hier eine langjährige Freundschaft für einen Mann, der im Grunde gar nicht fähig war sie so zu lieben, wie sie es verdient hatte. Was wäre, wenn das alles nur ein Spiel für ihn war? Wenn sie ihm eigentlich gar nichts bedeutete? Dann hätte sie Vittoria umsonst verloren. Und sie würde sie sicherlich nicht so schnell wieder vom Gegenteil überzeugen, dazu waren Italiener viel zu stur.

 

„Worüber denkst du nach?“ Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie wieder stehen geblieben waren. Mittlerweile hatten sie die Flussseite des Tower-Komplexes hinter sich gelassen und waren links zur Tower Hill Station der Tube abgebogen. Er sah sie eine Weile an und wartete darauf, dass sie ihm erzählte, was in ihrem Kopf vorging, doch dann zuckte sie nur mit den Schultern und sagte: „Über nichts Bestimmtes.“ Er wusste wahrscheinlich, dass das gelogen war. Aber es war ihr egal. Noch war sie nicht bereit mit ihm darüber zu sprechen.

 

Er seufzte. Er hatte ihr genau angesehen, dass die Gedanken sie ziemlich zu beschäftigen schienen. Aber er wollte sie auch nicht dazu überreden, es ihm zu sagen. Sie würde es von selbst tun, wenn sie bereit dazu war. Vielleicht zweifelte sie ein wenig an seinen Gefühlen ihr gegenüber. Wie konnte er es ihr verdenken? Wahrscheinlich hatte Vittoria ihr genug Geschichten darüber erzählt, wie er sie immer wieder angefleht hatte, zu ihm zurück zu kommen. Nicht gerade seine glanzvollsten Momente, das musste er zugeben.

 

Inzwischen war der Nieselregen in einen richtigen Regen übergegangen und auch die Sonne ging langsam unter. Wenngleich man das hinter der dichten Wolkendecke nur erahnen konnte, wurde es doch merklich dunkler. „Was hältst du davon, wenn wir nach Soho fahren und ich dich zum Essen einlade? Worauf hast du Appetit?“, fragte er.

 

Damit hatte er einen Nerv getroffen. Sie schob ihre Unterlippe ein wenig vor und sah ihn mit großen Hundeaugen von unten an. „Naja“, sagte sie und zupfte eine imaginäre Fluse von seiner Jacke. „Wenn du schon so fragst. Mir wäre jetzt eher nach einem Seelentröster mit viel Kalorien und Schokolade.“

 

„Und an was hast du da so gedacht?“, lachte er, als er ihren Gesichtsausdruck sah.

 

Doch sie grinste ihn nur an und zog ihn mit sich. „Das verrate ich nicht. Lass dich überraschen.“ Erst sah er sie skeptisch an, doch dann ließ er sich von ihr in Richtung Tube-Station ziehen.

 

Mit der Circle Line fuhren sie bis zur Liverpool Street. Dort stiegen sie in die Central Line um. Dabei begegneten sie einem Musiker, der in den engen Gängen sein Keyboard aufgebaut hatte und Songs von den Beatles zum Besten gab. Thomas sah Meg skeptisch an, als sie in ihrer Tasche nach ein paar Pfund kramte und sie in den Kasten warf, den der Mann vor sich aufgebaut hatte. Daraufhin änderte er sein Programm und stimmte „Lady Madonna“ an, was sie noch bis in die Tube verfolgte. Erst als die Türen hinter ihnen zugingen, verstummte das Lied.

 

In der Tube selber war es mal wieder restlos überfüllt. Sie hatten so grade noch einen Platz an der Tür ergattern können und mussten sich nun ziemlich eng aneinander drängen, um eine Frau mit Kinderwagen nicht zu erdrücken. „Sag bloß, du fährst jeden Tag damit“, flüsterte er ihr ungläubig zu, als er sich umsah. Die Leute, die einen Sitzplatz bekommen hatten, versteckten sich hinter Zeitungen, die sie ungeniert ausbreiteten, lasen auf ihrem Handy oder hörten Musik. Kaum jemand sah dem anderen in die Augen, sondern war ganz in sich selbst vertieft.

 

„Schon mal versucht, in der Rush Hour mit dem Auto durch die Stadt zu kommen“, sagte sie stattdessen und nahm sich die Reste einer Zeitung vom Vortag, die jemand hatte liegen lassen. „Hier ist es zwar eng, aber man kommt trotz Ausfällen noch schneller ans Ziel, als wenn man oberirdisch unterwegs wäre.“

 

Verwirrt sah er sich um. „Irgendwie kann ich das kaum glauben.“ Als sie bei der nächsten Station ankamen und sich Leute von ganz hinten zu den Ausgängen drängten, war er froh, nie mit diesem öffentlichen Verkehrsmittel zur Arbeit fahren zu müssen. Seine Wohnung lag zwei Straßen von der Kanzlei entfernt. Da lobte er sich doch das morgendliche Laufen.

 

An der Tottenham Court Road schließlich mussten auch sie aussteigen. Die Türen glitten auf und es kam ihm so vor, als würden die Leute, die direkt an den Ausgängen standen, nicht freiwillig aussteigen, sondern regelrecht rausfallen. Der Strom von Passanten und Pendlern schob sie auf die Rolltreppen zu, die zum Glück funktionierten, und ehe er sich versah, standen sie auch schon draußen.

 

Mittlerweile war es dunkel geworden und überall waren die Lichter angegangen. Cable Cars fuhren durch die Straßen und Leute drängten sich auf den Bürgersteigen. Sie wandten sich nach links und folgten der Oxford Street, bis sie schließlich links in die Wardour Street einbogen. Hier war es weniger glamourös, dafür schufen die kleinen, urigen Läden mit dem schon leicht abblätternden Lack aber eine wesentlich heimeligere Atmosphäre. „Wo, zum Teufel, sind wir hier?“, fragte Thomas bestimmt schon zum hundertsten Male, doch Meg lächelte ihn nur an.

 

Als sie schließlich vor einem winzigen Laden in einer Häuserecke stehen blieb, sah er sie an, als wäre sie verrückt geworden. „Sag bloß, du warst noch nie hier?“, fragte sie überrascht, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. „Ich begebe mich selten in Gegenden, in denen ich Angst um meine Brieftasche haben muss“, sagte er, für ihren Geschmack etwas zu hochnäsig, „denn die ist meistens gut gefüllt.“

 

Mit einem Gemurmel, was verdächtig nach „Spießer“ klang, zog sie ihn in das Geschäft, dessen Schaufenster von einem pinken Kolibri verziert wurde. Seine Augen wurden noch größer, als er drinnen die Auslagen betrachtete. An den Wänden hingen Bilder, auf denen Muffins in allen erdenklichen Pastellfarben abgebildet waren, und zu seiner Überraschung entsprach das ziemlich genau dem, was unter vielen kleinen Glasglocken zum Verkauf angeboten wurde.

 

Meg betrachtete sein Mienenspiel eine Weile, dann wandte sie sich dem Gebäck zu, was sich schmackhaft vor ihr ausbreitete. Die Torten auf der linken Seite der Theke waren bereits zu einem guten Teil verkauft worden, aber Cupcakes und Brownies gab es zum Glück noch genug.

 

„Was darf es sein?“, fragte eine gut gelaunte Verkäuferin, die sich gerade die Hände an einem Tuch abwischte. Meg drehte sich zu Thomas um, der immer noch irritiert von den bunten Farben schien. „Das kann man wirklich essen?“, fragte er und man konnte ihm ansehen, dass er am liebsten den Finger unter das Glas gesteckt und gefühlt hätte, ob es sich nicht vielleicht doch um Plastik handelte.

 

„Es ist nicht radioaktiv verstrahlt, falls du das meinst“, sagte Meg amüsiert und wandte sich zu der Verkäuferin um. „Verzeihung, er war noch nie hier.“ Doch die winkte mit einem Lächeln ab und sagte: „Kein Grund zur Aufregung. Das sind wir von Touristen gewöhnt. Also?“

 

Da Thomas immer noch nichts sagte, gab Meg ihre Bestellung auf und orderte gleich noch zwei Kaffees dazu. Damit setzten sie sich an einen kleinen Tisch, während die Verkäuferin noch ein paar Sachen für sie in eine Tüte packte. Als sie ihren ersten Muffin mit blassgrüner Glasur bereits halb gegessen hatte, er aber immer noch nicht damit angefangen hatte, das Papier zu entfernen, fragte sie ihn: „Sag mal, wie lange wohnst du jetzt schon hier?“

 

Verwirrt sah er sie kurz an, nur um die blaue Glasur gleich darauf noch näher in Augenschein zu nehmen. „Seit ich damals hier geboren wurde. Warum?“

 

„Und dann bist du noch nie hier gewesen?“ Er schüttelte den Kopf. „Nicht mal mit Vic bist du hier gewesen? Du bist ein Tourist in deiner eigenen Geburtsstadt, ist dir das eigentlich klar? Du hast die besten Seiten von London nicht gesehen. Und schon gar nicht gegessen!“

 

Endlich konnte er sich dazu durchringen, einen kleinen Bissen zu nehmen, als er sah, dass der Verzehr keine Auswirkungen auf Megara hatte. „Ich bevorzuge Restaurants, in denen das Essen nicht aussieht, als wäre es von einem Kleinkind angemalt und verziert worden.“ Er kaute eine Weile auf dem Schokomuffin herum, schluckte es schließlich runter und sah überrascht aus. „Zum Glück schmeckt es besser, als es aussieht.“

 

Als sie aufgegessen und bezahlt hatten, nahm Meg der Verkäuferin noch die weiße Papiertüte mit dem rosafarbenen Schriftzug ab, dann traten sie wieder auf die Straße. Sie hakte sich wieder bei Thomas unter, der den Regenschirm erneut über ihnen aufspannte, und schlenderte mit ihm die Straße zurück zur Oxford Street hinunter. Nach einer Weile hörte sie ihn grummeln. „Was ist?“, fragte sie belustigt. Sie konnte sich bereits denken, was los war.

 

„Ich glaube“, sagte er und fuhr sich mit der Zunge über seine Zähne, „dass ich soeben drei neue Karieslöcher dazu bekommen habe.“ Sie lachte laut auf, löste sich von seinem Arm und trat in den Regen hinaus auf die Straße. „Das ist im Preis mit drin, wusstest du das nicht?“, rief sie und lief voran auf die belebte Einkaufsstraße zu.

 

Ein paar Tage später schien der Frühling endlich auch in Englands Hauptstadt angekommen zu sein. Die Sonne schien so stark sie konnte und sorgte dafür, dass die ersten Besucher schon vormittags in den Hyde Park gingen, um sich auf einer Decke ein bisschen gute Laune einzufangen. Megara jedoch interessierte das nicht. Sie hatte seit zwei Tagen nichts mehr von Thomas gehört, denn sein Vater hatte ihm einen äußerst kniffligen Fall besorgt, und das Handy ihrer besten Freundin blieb weiterhin stumm. Sie hatte bereits bei Vittorias Eltern angerufen, doch weder Ernesto noch Karolina wussten, wo sich ihre Tochter befand.

 

Eigentlich hatte sie auch nicht erwartet, dass die beiden etwas wussten. Vittoria hatte nie ein besonders inniges Verhältnis zu ihrer Familie gehabt. Ihr Vater zeigte nur Interesse an ihr, wenn er einen Vorteil daraus schlagen konnte, und Karolina war jahrelang so auf ihre ältere Tochter Katarina fixiert gewesen, dass selbst die letzten Jahre, in denen sie und Vittoria sich langsam wieder näher gekommen waren, trotzdem nicht viel an dem distanzierten Verhältnis zwischen Mutter und Tochter geändert hatten.

 

Seit Vittoria damals von der Schule geflogen war, hatte Karolina eigentlich keine Gelegenheit ausgelassen, um ihr zu sagen, wie stolz sie doch auf ihre Katarina war, die einen guten Job bei einer renommierten Privatbank bekommen und dort bereits viel Geld verdient hatte. Dass Vittoria schon mit neunzehn in ein eigenes Haus gezogen war, schien dabei nicht viel zu zählen. Meg hatte ihre Freundin oft trösten müssen, weil sie sich von ihrer Mutter so vor den Kopf gestoßen fühlte und die Freundin um ihre intakte Familie beneidete.

 

Dass Meg ihre Freundin für ihr eigenständiges Leben beneidete, hatte sie ihr nie gesagt. Sie hatte immer davon geträumt, Kuratorin im British Museum zu werden und dort die tollsten Ausstellungen an Land ziehen zu können. Doch nachdem ihr Bruder diesen schrecklichen Unfall hatte, war dieser Traum in weite Ferne gerückt. Mit Thomas hatte sie gehofft, dem wieder etwas näher zu kommen, wenn er sie nur unterstützen würde. Doch sie hatte Angst, ihn danach zu fragen, aus Angst, er könne ihr vielleicht einen Vogel zeigen, weil er von seinem hart verdienten Geld etwas abgeben sollte.

 

Vittoria hatte sie immer in ihrem Vorhaben unterstützt, hatte ihr Bücher gekauft, wenn sie selbst kein Geld dazu hatte, oder hatte ihr das Gästezimmer in ihrem Haus zum Lernen zur Verfügung gestellt. Und jetzt musste sie ihre beste Freundin so enttäuschen. Sie hatte keine Angst jetzt alleine zu sein. Sie kannte genug Leute in dieser Stadt. Aber man ersetzte einen Menschen nicht einfach so, der einen jahrelang begleitet und unter die Arme gegriffen hatte.

 

Mit einem mehr als nur schlechten Gewissen stand sie an diesem Morgen auf und fuhr zu Vittorias Haus. Sie hatte die letzten Nächte oft bei Thomas übernachtet, doch wenn ihre Freundin nun vielleicht doch schon bald wieder zurück kam, sollte sie ihre Sachen nicht mehr in ihrem Haus vorfinden.

 

Als Meg auf der Park Road ankam, sah sie, dass die Türe offen stand. Das Herz rutschte ihr beinahe in die Hose, als sie daran dachte, Vittoria jetzt schon gegenüber zu treten. Doch dann schallt sie sich selbst einen Angsthasen. Irgendwann musste dieses Gespräch schließlich stattfinden. Also ging sie durch die offene Tür und rief vorsichtig: „Vic? Bist du zu Hause?“

 

Als keine Antwort kam, wagte sie sich weiter in den Flur rein. Auf Zehenspitzen schlich sie über den Teppich. „Hallo Miss Harding!“, rief eine Stimme von oben und ließ Meg zusammenfahren. Sie griff sich an die Brust, als hätte sie einen Herzinfarkt bekommen, und blickte die Treppe hoch in das runde Gesicht von Chiyo.

 

„Hab ich Sie erschreckt?“, fragte die Asiatin und kam die Stufen zu ihr herunter. Sie hatte Gummihandschuhe an und strömte einen Geruch von Putzmitteln aus. „Entschuldigen Sie, das wollte ich wirklich nicht.“

 

Meg winkte ab und ging in die Küche. „Schon gut, ich bin es ja selber Schuld.“ Sie setzte sich auf einen Hocker und stützte ihr Gesicht auf die Hände. „Ich bin eigentlich nur gekommen, um meine Sachen zu holen.“

 

„Kommt Miss Marconi bald wieder?“, fragte Chiyo und begann jetzt die Küchenoberflächen mit etwas einzusprühen, das seltsam fruchtig nach Zitrone duftete. Meg rümpfte leicht die Nase, zuckte aber mit den Schultern, als die Haushälterin sie ansah. „Ich habe keine Ahnung, wann Miss Marconi zurück kommt. Ich kann sie seit Wochen nicht erreichen. Ich weiß nicht mal, ob sie noch in Neu Seeland ist. Sagen Sie mal, kommen Sie jeden Tag her, um zu putzen, auch wenn Vic nicht da ist?“

 

„Seien sie nicht albern!“, lachte sie. Sie nahm einen Lappen und wischte die Oberflächen ab. Dann ging sie zur Spüle und wusch den Lappen aus. Als sie fertig war, sah sie Meg kurz an und beschloss dann, eine Kanne frischen Kaffee aufzusetzen. „Ich komme einmal die Woche her, wenn Miss Marconi nicht da ist. Nur um den Staub abzuwischen und mal zu lüften. Wenn Sie möchten, werde ich ihre Sachen noch schnell in die Waschmaschine werfen und dann für Sie packen.“

 

„Das ist nicht nötig!“, sagte Meg und sprang auf. Sie hasste es, wenn jemand hinter ihr aufräumen musste. Das hatte sie schon immer bei ihrer Mutter gehasst. Allerdings konnte sie Vic verstehen, die eine Haushälterin eingestellt hatte. Bei so einem großen Haus war es nicht schlecht, wenn sie jemand darum kümmerte, dass alles immer sauber blieb.

 

Oben angekommen stellte sie jedoch ernüchternd fest, dass Chiyo die Sachen zumindest säuberlich zusammen gelegt und in die Schränke geräumt hatte, als würde sie bereits hier wohnen. Wieso wollte sie die Sachen dann noch mal waschen? Mit schüttelndem Kopf warf sie ihre Klamotten schnell in ihre Taschen, räumte das Bad aus, ging noch schnell in die Bibliothek, die Vic ihr Büro nannte, steckte sich noch drei Bücher ein, und ging wieder nach unten. In der Küche stand bereits eine Tasse Kaffee für sie bereit.

 

„Wissen Sie, Chiyo, wenn Vic Sie nicht hätte, hätte sie vermutlich gar keine richtige Familie mehr. Wann kam eigentlich das letzte Mal jemand zu Besuch hierher?“

 

Die Asiatin runzelte kurz die Stirn. „Sie meinen, außer Ihnen? Miss Marconis Mutter war jedenfalls erst einmal hier. Sie hat mir erzählt, dass sie noch eine Schwester hat, aber die hab ich bisher genauso wenig hier gesehen, wie den Vater. Nur der Stiefvater kommt ab und zu mal vorbei. Wenn Sie mich fragen, ist das der einzig normale Mensch in dieser Familie. Man hört doch immer, dass die Italiener so viel Wert auf Famiglia legen. Aber bei denen scheint das nicht der Fall zu sein. Das tut mir wirklich manchmal sehr leid für Miss Marconi.“

 

Meg nippte an ihrem Kaffee und blickte aus dem Fenster. Chiyo hatte Recht. Vittoria war immer so sehr in ihre Arbeit vertieft gewesen, dass sie kaum Zeit für Freunde gehabt hatte. Das war schon immer so gewesen. Und wenn sie endlich mal jemanden gefunden hatte, der Zeit mit ihr verbringen wollte, nahm derjenige spätestens dann wieder Reißaus, wenn sie ein neues großes Projekt hatte. Würde sie es wirklich riskieren, nie wieder mit ihr zu sprechen, wenn ihr außer ihr nur Chiyo als echter Freund blieb?

 

Sie konnte nur hoffen, dass Vittoria nicht so unvernünftig war und sich völlig isolierte, nur damit sie nach außen hin nichts von ihrem Stolz einbüßte. Und obwohl sie sich lebhaft vorstellen konnte, wie wütend ihre Freundin auf sie sein würde bei ihrem ersten Treffen, hoffte Megara, dass sie bald wieder nach London zurückkehren würde, damit sie sie endlich wieder in den Arm nehmen konnte.

© by LilórienSilme 2015

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