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Kapitel 14

 

~ She moves

 

Carry on, carry on, deeper into the rabbit hole

Carry on, carry on until you reach the hallway made of gold

Into a paradise without day and without night

 

Aidan dachte noch eine Weile darüber nach, ob es tatsächlich Joe gewesen war, die er da hatte verschwinden sehen. Doch wer hätte es sonst sein sollen? Wusste sie, dass Robert auch ihretwegen ging? Weil sie ihm auf ihre Art einen Spiegel vorgehalten hatte? Er hätte sie gerne gefragt, was wirklich passiert war, denn Robert war nicht wirklich mit der Sprache herausgerückt. Scheinbar war ihm die Sache zu peinlich gewesen. Doch natürlich tauchte sie die nächsten Tage nicht mehr am Set auf, als hätte sie geahnt, dass er wieder auf sie zukommen würde.


Seine Bemühungen um sie waren schon ernst gemeint gewesen und es hatte ihn tatsächlich tief getroffen, als Pete ihn darum gebeten hatte, auf Abstand zu gehen. Doch er war ja nicht unsensibel. Er war vielleicht nur ein bisschen jung und ungestüm, wie seine Mutter es immer so liebevoll ausdrückte.

Als er Pete fragte, wo sie denn bei den Dreharbeiten wäre, zuckte der nur mit den Schultern. Vermutlich hatte er auch andere Sorgen, als sich um seine verirrte Kostümdesignerin zu kümmern. Ganz zu schweigen davon, dass sie nun jedes Mal, wenn etwas kaputt ging, ins Art Department rüberlaufen mussten, damit es wieder in Ordnung gebracht werden konnte.

Das hatte Aidan tatsächlich einmal ausgenutzt, als er absichtlich den Saum seines Mantels abgerissen hatte. Der Dreh war unterbrochen worden und er hatte sich beeilt, die Studios von der B Stage bis ans andere Ende zu durchqueren. Im Art Department angekommen hatte er nach Joe gefragt, doch ihre Kollegin Ann hatte nur mit den Schultern gezuckt und gemurmelt, dass sie sich krank gemeldet hätte. Daraufhin hatte er sich flicken lassen und war wieder zurückgekehrt. Doch er hatte nicht noch einmal nachgefragt. Außerdem würde nun bald das gemeinsame Casting mit ihm und dem neuen Fíli anstehen und er wusste noch nicht so recht, was er davon zu halten hatte.

In ihrem kleinen Häuschen hatte Joe es geschafft, drei Tage lang ihr Schlafzimmer nur zu verlassen, wenn die Natur sie rief. Und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie froh über Emilys Tiefkühlfraß gewesen, denn so hatte sie weder das Haus verlassen, noch großartig etwas kochen müssen, wenn sie Hunger hatte. Doch das war selten genug vorgekommen und bald merkte sie, wie sie immer schlapper wurde.

Gern hätte sie sich einfach weiter unter ihrer Bettdecke verkrochen, denn die Ereignisse um diesen Robert hatten sie stark mitgenommen. Natürlich wusste sie, dass das alles nur ihre Schuld war, dass er jetzt ging und die Produktion ins Stocken geriet. Und wenn sie keinen neuen Schauspieler für Fíli fanden, dann konnte man den Film gleich vergessen. Und selbstverständlich war das allein ihre Schuld gewesen.

Bevor sie die Instant-Nudeln ganz aufgegessen hatte, überkam sie erneut diese fiese Übelkeit und sie musste ins Bad stolpern und das Essen wieder loswerden. Erschöpft sank sie danach neben der Toilette zu Boden und lehnte ihre heiße Stirn gegen die kühlende Keramik. Sie fühlte sie hundeelend, fiebrig, krank und so schlapp wie ein Sack ohne Knochen. Sie schaffte es kaum noch, auf die Beine zu kommen, also blieb sie einfach an Ort und Stelle liegen und betete dafür, dass der Tod schnell kommen mochte. Denn würde sie nicht mehr zurück in die Studios müssen und sich dem Zorn von wer weiß wie vielen Leuten aussetzen. Das Klingeln des Telefons hörte sie schon gar nicht mehr.

Als Emily abends nach Hause kam, blinkte der Anrufbeantworter wie wild. Unschlüssig, ob sie die Nachrichten abhören sollte, hängte sie ihre Schlüssel an das altmodische Schlüsselbrett im Flur. Dann betrat sie den Wohnbereich und musste erst einmal schlucken. Seitdem Joe sich krank gemeldet hatte, sah es hier aus wie Sau. Und irgendwie überkam sie dabei ein abgrundtief schlechtes Gewissen.

Schnell versuchte sie ein bisschen Ordnung in das Chaos zu bringen, doch eindeutige Geräusche aus dem Obergeschoss ließen sie wieder innehalten. Sie biss sich auf die Unterlippe, warf dann den Spüllappen bei Seite und marschierte entschlossen nach oben. Zeit, das Versteckspiel endlich zu beendet!

So entschlossen sie auch war, als sie die Badezimmertür aufmachte, so schnell verflog das Hochgefühl wieder, als sie ihre Freundin vor der Toilette kauern sah. Sofort stieg ihr der beißende Geruch von Erbrochenem in die Nase und sie musste sich zusammenreißen, überhaupt weiterzugehen. Doch Joe brauchte sie jetzt! Mit spitzen Fingern tippte sie ihr auf die Schulter, erntete nur ein unflätiges Grummeln und hockte sich dann neben sie. Ihr Mitleid siegte über ihren Ekel. „Hey, was ist denn los mit dir? Hast du dir etwas eingefangen? Bist du krank?“

Als Antwort erhielt sie nur ein müdes Kopfschütteln.

Emily biss sich wieder auf die Lippe, dieses Mal schmeckte sie Blut. Das, was sie nun aussprechen würde, fiel ihr nicht gerade leicht. „Ist es“, begann sie, „vielleicht wegen mir?“

Doch das brachte Joe nur dazu, laut aufzuheulen. Erschrocken machte Emily einen Satz nach hinten, besann sich dann wieder, nahm ein Handtuch aus dem Metallregal neben sich und reichte es ihrer Freundin. Die nahm es dankbar an und wischte sich damit einmal über den Mund, bevor sie sich aufrichtete.

Verheulte, verquollene Augen blickten der Schneiderin entgegen, die so gar nicht zu dem sonst so gepflegten Äußeren der Designerin passen wollten. Auch ihre Lippen waren rot und leicht angeschwollen, genauso wie ihre Nase, die vom Putzen schon ganz wund war. Was war nur mit ihr los?

Und als Joe immer noch nicht antwortete, sondern nur leer vor sich hin starrte, harkte Emily nach. „Ist was auf der Arbeit passiert?“

Die kleine Blonde presste ihren Mund zusammen, wagte nicht, noch einmal Luft zu holen, weil sie befürchtete, sofort wieder in Tränen auszubrechen. Wenn sie jetzt etwas sagte, musste sie die ganze Geschichte erzählen. Und das wollte sie nicht. Dazu war sie noch nicht bereit. Sie wollte sich nicht die Schuld eingestehen, obwohl es ihr natürlich sonnenklar war. Doch es jemand anderem zu erzählen machte es irgendwie noch viel realer.

Es dauerte eine Weile, bis Emily sich dazu überwinden konnte, ihre Freundin in den Arm zu nehmen. Doch als sie sie einmal hielt, merkte sie gleich, wie gut ihnen beiden das tat und wie dringend sie das gebraucht hatten. Als Joe dann wieder zu weinen begann, flossen auch bei Emily die Tränen.

Schluchzend atmete sie ein. „Es tut mir wirklich leid, Liebes“, heulte sie nun ungeniert. „Es tut mir leid, was ich dir alles angetan hab. Aber ich dachte, das wäre mein gutes Recht. Ich dachte, ich müsste jetzt traurig und wütend sein dürfen und keine Rücksicht mehr auf andere nehmen. Dabei hätte mir klar sein müssen, dass du nie etwas sagen würdest. Ich bin so eine schlechte Freundin.“

Und als sie es aussprach, fiel auch mit einem Mal der ganze Mist, den sie mit Mike erlebt hatte, von ihr ab und sie begriff, was in den letzten Wochen und Monaten alles passiert war. Dann straffte sie sich innerlich, denn sie wusste, dass ihre Leidenszeit nun zu Ende war, dass sie es überwunden hatte, und dass Joe dafür gesorgt hatte, dass es soweit kam. Nun würde sie ihr etwas zurückgeben.

Also schob sie sie auf Armeslänge von sich und sah ihr tief in die grünen Augen. „Ich möchte jetzt, dass du mir sagst, was los ist. Und wenn es etwas ist, das mich verletzten könnte: Ich will es hören! Verstanden?“ Und weil Joe kein Zeichen von sich gab, dass sie es verstanden hatte, schüttelte sie sie leicht. „Verstanden?!“

Die Designerin hing schlaff wie ein nasser Sack in den Armen ihrer Freundin und nickte schließlich schwach. Dann wurde sie von ihr unter die Dusche gesteckt, anschließend fast zärtlich trocken gerubbelt und in einen flauschigen Bademantel gepackt. Dass es draußen noch warm genug war für einen Minirock störte sie dabei nicht. Dann nahm sie sie mit nach unten und setzte sich mit ihr auf die gemütliche Couch. Dort blieben sie so lange sitzen, bis Joe ihr alles erzählt hatte, was sie mit Robert erlebt hatte.

Als sie fertig war, staunte Emily nicht schlecht. „Er hat dich wirklich so hart angefasst? Dass das niemand gesehen hat, ist einfach unglaublich. Eigentlich hätte man ihm dafür eine ordentliche Abreibung verpassen müssen!“

„Er war wütend“, versuchte Joe es abzuschwächen, doch ihre Freundin wollte davon nichts hören. „Das mag zwar ein Grund sein, meine Liebe“, sagte sie, „doch es ist keinesfalls eine Entschuldigung! Er hätte um Verzeihung bitten müssen, bevor er abgereist ist. Aber dafür ist es jetzt wohl zu spät.“

„Wer nimmt jetzt eigentlich seinen Platz ein?“, wagte Joe schließlich zu fragen. Die Angst, erneut die Produktion zum Straucheln zu bringen, saß noch immer sehr tief in ihr. Und vermutlich hätte nicht einmal Pete ihr diesen fiesen Splitter ziehen können. Das war etwas, was sie alleine überwinden musste. Doch wenn es so weiterging und immer etwas derartiges dazwischen kam, würde sie das nie schaffen.

Emily zuckte auf ihre Frage hin nur müde mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich kenne ihn nicht. Kommt wohl aus Auckland, aber ich hab noch nie von ihm gehört. Vermutlich hab ich auch deswegen den Namen schon wieder vergessen. Aber wenn du morgen wieder mit zur Arbeit kommst, kannst du ihn dir selbst ansehen. Er soll morgen seinen ersten Tag bei uns haben.“

„Ich glaube nicht“, erwiderte sie, „dass ich schon soweit bin. Ich möchte lieber noch einen Tag zu Hause bleiben.“

Darauf hatte Emily nur gewartet. Mit einem lauten Aufschrei sprang sie auf, packte ihre Freundin am Arm und zog sie auf die Beine. „Nichts da!“, rief sie. „Wenn du dich jetzt hier verkriechst, kommst du nie wieder hier raus. Du gehst morgen wieder zur Arbeit! Pete braucht dich.“

Verlegen schaute sie zu ihrer Freundin auf, die vor ihr aufragte und durch ihre gestrafften Schultern noch größer wirkte als sonst. „Er braucht mich? Wozu das denn?“

„Ist das dein Ernst?!“ Fassungslos starrten sich die beiden Frauen eine Weile an, bis Joe schließlich aufgab. Sie ließ sich nicht nur zu einer Pizza vom Lieferanten überreden, sie ließ sich auch dazu bewegen, am nächsten Tag wieder auf der Arbeit zu erscheinen. Doch das tat sie nicht für sich oder Emily. Das tat sie für Pete. Sie wollte ihn nicht schon wieder enttäuschen. Ganz abgesehen davon, dass Richard sie auch immer noch feuern konnte, wenn sie sich weigerte, Aufgaben zu übernehmen, die ihr ganz klar aufgetragen worden waren.

Und damit sie etwas hatte, woran sie sich festhalten konnte, hatte sie die Bilder von Graham und Archy mitgebracht. Diese hielt sie nun sorgsam fest, als sie vom Art Department rüber zur B Stage lief. Sie wusste nicht genau, ob man da bereits mit den Dreharbeiten fertig war und ob man sie dort heute brauchen würde, doch als sie nachgefragt hatte, hatte man ihr versichert, dass Pete mit seinen kleinen Bastarden dort war.

Leicht zitternd setzte sie einen Fuß vor den anderen und war die ganze Zeit darauf gedacht, dass sie auch ja niemandem auffiel, der ihr hier begegnete. Leider gelang ihr das nicht ganz. Als sie nämlich den Trailerpark hinter sich gelassen hatte, hörte sie plötzlich von links einen lauten Ruf. Im ersten Moment erschreckte sie sich so sehr, dass sie zusammenzuckte und die Bilder fallen ließ. Doch als sie in die Richtung sah, aus der sie nun auch merkwürdig trappelnde Geräusche hörte, entspannte sie sich wieder.

Vermutlich wäre jeder normale Mensch sofort aus dem Weg gesprungen und hätte sich irgendwo versteckt, bis es vorbei war. Und das wäre wohl auch das, was man von Joe in dieser Situation erwartet hätte. Doch die kleine blonde Frau dachte gar nicht daran. Sie streckte beide Arme mit den Handflächen nach außen weit von sich und ging langsam weiter.

In wilder Flucht preschte ein braunes Pferd auf sie zu, sah sie und wollte sie umrunden, das Hindernis umgehen. Doch damit hatte Joe bereits gerechnet und trat dem Pferd in den Weg. Das war vielleicht nicht ihre klügste Idee, aber irgendwie schien es zu wirken. Das Tier warf noch ein paar Mal laut schnaubend und wiehernd den Kopf in den Nacken, scheute kurz, blieb dann jedoch stehen. Sofort war Joe bei ihm, legte ihm beruhigend beide Hände an die Nüstern und streichelte es, während sie leise auf es einredete.

„Na, mein Hübscher?“, flüsterte sie. „Von wo bist du denn abgehauen? Hat man dich erschreckt?“ Das Pferd antwortete ihr, indem es seine Nase an ihre Handflächen drückte und dagegen pustete. Es musste sich ein Stück zu der jungen Frau hinunterbeugen, weil sie im Gegensatz zu dem großen Reittier so klein war, während Joe tief den warmen Duft nach Pferd und Heu einatmete.

Schon früher hatte sie Tiere lieber gemocht als Menschen und war immer besser mit ihnen klargekommen, als mit ihresgleichen. Tiere stellten nämlich keine blöden Fragen. Sie erwarteten keine Wunder von einem, sondern schlicht, dass man sie liebte. Deswegen hatten die Therapien mit Tieren ihr auch immer am meisten Spaß gemacht. Nicht, dass es ihr etwas für den Umgang mit Menschen gebracht hätte, doch damals war sie viel lieber zum Onkel Doktor gegangen und hatte sich dessen Gequatschte angehört, wenn sie danach wieder im Sattel sitzen durfte. Als man jedoch festgestellt hatte, dass ihr das auch nichts nützte, hatte man es wieder eingestellt. Und nach dem Tod ihrer Mutter hatte Joe nie wieder einen Reiterhof betreten.

Jetzt die starken Muskeln unter dem weichen Fell zu spüren, mit den Fingern durch seine Mähne zu fahren und es zu streicheln, zu riechen und zu spüren war wie eine Art Déjà-vu für sie, was sie an glücklichere Zeiten erinnerte. Lächelnd schmiegte sie ihre Wange an den Pferdehals und wäre am liebsten den ganzen Tag einfach so hier stehen geblieben und hätte die Nähe des Tieres genossen.

In diesen intimen Moment jedoch drang plötzlich eine Stimme, die ihr unbekannt war. Ein Mann Anfang dreißig kam atemlos aus sie zugelaufen, stemmte die Hände auf die Knie und holte erst einmal tief Luft, bevor er japste: „Ist alles okay bei dir?“

Seine blonden Haare klebten ihm dank der Hitze und des ungewollten Sprints auf der Stirn. Seine blauen Augen blickten besorgt und als er endlich wieder Luft bekam, kam er näher. Er streckte seine Hand nach dem Pferd aus, was sich dieses Mal auch bereitwillig von ihm anfassen ließ. Verblüfft streichelte er es. „Wow“, machte er, immer noch leicht außer Atem. „Eben ist es direkt ausgerissen, als ich ihm das Zaumzeug anlegen wollte.“

Joe lächelte in sich hinein. Sie sparte sich eine Antwort, ob es ihr gut ging, denn das war offensichtlich. Stattdessen sagte sie leise, fast flüsternd: „Tiere spüren die eigene Unsicherheit mehr, als wir denken. Wenn man ihnen gegenüber Angst zeigt, hat man schon verloren.“

Beeindruckt sah er sie von oben herab an. Er selbst war für einen Mann auch nicht besonders groß. Doch sie überragte er noch um gute fünfzehn Zentimeter. Das hatte er auch schon lange nicht mehr gehabt. Das machte ihre Aktion, sich dem rasenden Wildpferd zu stellen noch einmal eine Spur eindrucksvoller. Mehr zu sich selbst als zu ihr sagte er: „Und deswegen konntest du dich ihm auch in den Weg stellen.“ Dann hielt er ihr seine rechte Hand hin. „Ich bin Dean.“

Nun endlich schien Joe aus ihrer Lethargie zu erwachen. Sie registrierte mit einem Mal, was passiert war, und sofort lief sie wieder rot an. Sie vermied es, ihm ins Gesicht zu schauen, denn sie hatte bei jedem neuen Menschen, den sie traf, Angst davor, was sie darin wohl erkennen könnte. Machte er sich über sie lustig? Fand er sie gar lächerlich, weil sie so winzig und unbedeutend war? Oder würde er sie wohlmöglich offen angraben und sie damit nur noch mehr in Verlegenheit bringen?

Daher starrte sie nur seine dargebotene Hand an und sagte nichts, strich sich nur wieder ein ihrer goldenen Strähnen hinters Ohr. Und weil sie ihn nicht ansehen konnte, suchte sie den Boden zu seinen Füßen ab und entdeckte die zwei Fotos, die sie fallen gelassen hatte. Auch Deans Augen fanden die Bilder und bevor sie sich danach bücken konnte, hatte er sie schon aufgehoben. Allerdings gab er sie ihr nicht direkt zurück, sondern betrachtete sie erst einmal gründlich. „Das sind Thorin und ein anderer von den Zwergen, oder?“ Und weil sie immer noch nichts sagte, fügte er noch hinzu, indem er ihr die Bilder zurückgab: „Die sind wirklich schön geworden. Deine Kamera muss schon sehr alt sein. Dieser Farbstich ist einmalig. Ich würde davon gerne mehr sehen.“

Überrascht sah sie ihn nun doch an. Kennst du dich damit etwa aus?, hatte sie fragen wollen, doch bevor sie den Mund aufmachen konnte, rief jemand nach ihm. Dean drehte sich nur zeitverzögert um, denn als sie ihn endlich ansah, wollte er sie erst einmal richtig betrachten.

In dem kurzen Augenblick kam er zu dem Schluss, dass sie wirklich hübsch war. Ihre goldblonden Haare, die ihr in großen Wellen auf die schmalen Schultern fielen, umrahmten ein herzförmiges Gesicht. Ihre Haut war leicht gebräunt, was ihn zu dem Schluss kommen ließ, dass sie gerne draußen war. Sie trug weder Makeup, noch Lippenstift. Nur ihre Wimpern waren leicht getuscht, was ihre grünen Augen noch stärker betonte. Die schmale Stupsnase rundete das Gesamtbild ab. Schade nur, dass sie stumm ist, fügte er in Gedanken hinzu, dann drückte er ihr die Bilder in die Hand und führte das Pferd von ihr weg.

„Ich hoffe, wir sehen uns noch mal hier“, rief er ihr noch über die Schulter zu, dann war er um die nächste Ecke verschwunden.

Ungläubig starrte Joe noch eine Weile an die Stelle, wo er hinter der K Stage verschwunden war. Dann registrierte sie, dass sie noch immer die Fotos in den Händen hielt, und setzte ihren Weg fort.

Es dauerte, bis sie Graham und Archy gefunden hatte. Doch es gab ein großes Hallo, als die beiden Männer sie entdeckten. „Mensch, wir hatten schon Angst um dich!“, rief Graham aus und zog sie in eine feste Umarmung. Er musste sein Kostüm schon eine Weile getragen haben, denn er müffelte bereits nach Schweiß und so etwas Ähnlichem wie nassem Hund. Details dazu wollte sie lieber gar nicht wissen.

Als sie sich begrüßt hatten, nahmen die Zwerge Joe mit zum Mittagessen. Dort setzten sich Graham und Richard wie gewohnt rechts und links von ihr hin. Aidan mied jedoch dieses Mal ihren Tisch, was Joe mit großer Erleichterung feststellte. So fiel es ihr nicht schwer, den beiden die Bilder zu schenken, die sie extra mitgebracht hatte.

Nachdem sie ihr auf den Boden gefallen waren, hatte sie schon befürchtet, dass das Pferd vermutlich draufgetreten haben könnte. Doch zum Glück war nichts dergleichen passiert und die Oberfläche war nicht einmal angekratzt.

„Die sind wirklich schön geworden“, sagte Richard und drückte schon noch einmal an sich. Auch er roch streng, was wohl auch zum großen Teil der Spätsommerhitze geschuldet war. Joe störte es jedoch nicht. Sie war froh wieder hier zu sein, denn sie fühlte sich wohl in der Gegenwart dieser großen Männer. Sie strahlten eine Sicherheit für sie aus, die sie, seitdem ihre Mutter gestorben war, nicht mehr verspürt hatte. Und sie konnte nur hoffen, dass es noch eine Weile so weitergehen würde mit ihnen.

In diesem Moment war sie Emily unendlich dankbar dafür, dass sie ihr in den Hintern getreten und dafür gesorgt hatte, dass sie wieder zur Arbeit ging. Wer konnte auch schon sagen, wie ihr Leben sonst verlaufen wäre, hätte sie an diesem Morgen nicht den Weg in die Stone Street eingeschlagen, sondern sich weiter zu Hause vergraben.


***


Deine kleinen ungelenken Finger grapschen fahrig nach dem weichen Fellknäul, das sich vor dir in der Papierkiste hin und her bewegt. Dünne Krallen, nicht viel dicker und stabiler als die frischen Stachel eines Kaktusses, tapsen nach deiner Hand.

Von hinten ertönt die schrille Stimme der seltsamen Frau, die die Katzen zum Verkauf anbietet. „Nicht!“, ruft sie, doch du ignorierst sie, wie du alle Erwachsenen ignorierst. Schließlich wendet sie sich an deine Mutter, die dich mit verklärtem Blick mustert und warm lächelt. „Sie wird sie noch kratzen.“

„Keine Angst“, sagt deine Mama. „Sie konnte mit Tieren schon immer sehr gut.“

Doch die Frau hört nicht auf. „Aber das ist der Schlimmste von allen! Er haut die anderen immer. Sie sollten sie da wegnehmen. Sonst weint sie noch.“

Deine Mutter ignoriert die Frau nun auch. Sie kommt zu dir herüber und beobachtet, wie du vorsichtig das kleine Kätzchen anfängst zu streicheln. Ganz weiches, seidiges Fell hat es. So schön flauschig, dass du es gar nicht loslassen willst.

Der grau getigerte Kater hebt sich deutlich durch seine Fellzeichnung von seinen schwarzweißen Geschwistern ab. Seine Brust ist jedoch weiß, genauso wie die Spitzen seiner Vorderpfoten. Die Hälfte seiner Nase ist ebenfalls weiß und an den Hinterpfoten trägt er weiße Söckchen. Du hast dich sofort in ihn verliebt.

„Möchtest du ihn haben?“, fragt dich deine Mutter und du nickst begeistert. Deine Augen funkeln. Dieser Kater bedeutet dir in diesem Moment die Welt.

© by LilórienSilme 2015

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