LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
~ Vergangenheit
Die Jahre zogen zäh ins Land und die Gemeinschaft um Delos wuchs. Immer mehr Elben schienen aus Valmar zu fliehen, um sich ihm anzuschließen. Und so entstanden immer mehr Hütten um seine eigene herum.
Eines Tages, als er seine beiden Söhne mit hinaus auf das Feld nahm, trat eine Elbe zu ihnen. Sie war schon in die Jahre gekommen, erste graue Strähnen durchzogen ihr sonst goldgelbes Haar und leichte Falten kräuselten sich um ihre Mundwinkel, als sie den Kindern zulächelte. Sahîrim stellte sich auf seine noch wackligen Beinchen und schaukelte auf sie zu. Er ging ihr gerade bis zu den Knien, doch es reichte aus, ihr Herz sofort für ihn zu erwärmen.
Ihr Name war Díhena und leider war es ihr in ihrem Leben nicht vergönnt gewesen, selber Kinder zu haben. Sie war bereits hier in Valinor geboren worden, zu einer Zeit, da es keine Elbenkinder gegeben hatte. Und nun, da die Jahre verstrichen und der Einfluss der Valar immer mehr abnahm, zeichnete sich ihr Alter deutlich ab. Ihr Körper war nun nicht mehr in der Lage, Leben zu schenken.
Delos sah von seiner Arbeit auf. Er rammte die Hacke in den Boden, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und hob die Hand an die Augen, um sie gegen die Sonne abzuschirmen. Es war eine anstrengende Arbeit, doch sie musste gemacht werden, wenn sie im nächsten Winter auch wieder etwas zu Essen haben wollten. „Wer bist du?“, sagte er und sprach die Frau direkt an, die mittlerweile seinen Sohn auf den Arm genommen hatte und nun zu ihm herüber kam. Carim hatte das Laufen zwar auch schon erlernt, war aber noch nicht kräftig genug, sich alleine hinzustellen. Er musste sich immer noch an etwas hochziehen.
„Mein Name ist Díhena und ich möchte dir meine Hilfe anbieten“, sagte sie und er hörte mehr als er es sah, dass sie lächelte. „Hilfe?“, sagte er, „wofür?“
Sahîrim zog an einer ihrer Haarsträhnen und lachte ausgelassen. Sie griff nach seiner kleinen Faust und löste sie sanft. Dabei sah sie ihn strafend an, doch selbst auf die Entfernung konnte Delos sehen, dass ihre Augen kein bisschen verärgert blickten. „Willst du dich um meine Kinder kümmern?“ Sie nickte nur. „Nun, mein Ältester scheint dich jedenfalls schon in sein Herz geschlossen zu haben.“ Delos überlegte eine Weile. Es war nicht leicht für ihn, auf zwei Kinder aufzupassen, einen Haushalt zu führen und auch noch Feldarbeiten zu verrichten. Natürlich waren mittlerweile genug kräftige Männer bei ihm, die ihm helfen konnten. Doch auch zu Hause überforderte ihn die Situation manchmal.
„Ich werde mir deinen Umgang mit meinen Söhnen für eine Weile ansehen und werde mich dann entscheiden.“ Ihr Lächeln wurde breiter. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, brachte er sie mit einer Bewegung zum Schweigen. „Nimm sie mit in mein Haus und versorge sie. Wenn ich heute Nachmittag zurückkomme, soll es ihnen an nichts fehlen. Hast du mich verstanden?“
„Ja!“, sagte sie und nickte noch einmal, dieses Mal energischer und entschlossener. Delos schenkte ihr noch einen letzten argwöhnischen Blick, dann wandte er sich wieder der Arbeit zu. Er dachte kurz darüber nach, dass sie vielleicht mit seinen Söhnen verschwinden oder ihnen etwas antun könnte. Doch die Wärme in ihrem Blick, als sein Ältester ihr an den Haaren gezogen hatte, hielt ihn davon ab, das Schlimmste zu vermuten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihn hintergehen würde. Nicht auf Kosten seiner Söhne.
Als er am späten Nachmittag, als die Sonne bereits tief herabgesunken war, sein Haus betrat, roch es nach warmer Milch, frischem Brot und Eintopf. Über dem Feuer hing ein Topf, in dem es köchelte. Auch schienen die Fenster geöffnet worden zu sein und das Bettzeug wirkte frisch ausgeklopft. Díhena saß mit seinen Söhnen auf dem Boden, unter sich ein Schaffell ausgebreitet, und spielte mit ihnen.
Er blickte in die blauen Augen seiner beiden Kinder und sah das Lachen darin. Noch nie hatte er sie so lächeln sehen und es versetzte ihm einen Stich. Wie konnten sie so fröhlich sein, wo doch ihre Mutter gestorben war, um ihnen das Leben zu schenken?
Doch er schüttelte schnell den Kopf, wie um diesen Gedanken loszuwerden. Seine Söhne konnten noch nicht wissen, wie es in dieser Welt zuging. Ihre kleinen Gehirne konnte noch nicht begreifen, was geschehen war. Erst, wenn sie älter waren, würde er es ihnen verständlich machen können. Dann würde er ihnen die Geschichte ihrer Geburt erzählen.
Und so vergingen die Jahre und während Sahîrim und Carim unter der Obhut von Díhena aufwuchsen, gefiel sich Delos immer mehr in der Rolle eines Oberhauptes. Die Elben, die nun mit ihm am Rande der Klippen wohnten, suchte ihn auf, um seinen Rat einzuholen, um Ehen zu schließen und Arbeiten einzuteilen. Da blieb ihm kaum noch Zeit, sich um seine beiden Söhne zu kümmern, doch wusste er sie sicher in den Armen der Kinderfrau.
So auch eines Tages, als es wieder Herbst geworden war. Sahîrim reichte seinem Vater nun beinahe bis zur Brust, hatte für sein junges Alter kräftige Beine, die ihn so manches Mal in Schwierigkeiten trugen, und einen äußerst wachen Verstand. Er war lange nicht so klug wie sein jüngerer Bruder und meistens sprach er aus, was er dachte, doch Díhena war stolz auf ihre Zöglinge. Sie saß mit beiden vor dem offenen Kaminfeuer, streichelte Carim über sein braunes Haar und sang leise. Draußen tobte ein leichter Herbststurm, der die Blätter von den Bäumen riss und sie hinaus aufs Meer trug.
„Erzähl uns eine Geschichte, Didi“, sagte Carim. Seine zarten Finger spielten mit einer Holzpuppe, die sie ihm gemacht hatte, während sein älterer Bruder einen graden Stock schwang, als wäre es ein Schwert. „Welche Geschichte wollt ihr denn hören?“, fragte sie und lächelte. Sie wusste ganz genau, welche Weise ihnen am Besten gefiel.
Sahîrim schlug auf einen imaginären Gegner ein. „Erzähl uns von Tom Bombadil und seinen Abenteuern! Wie er gegen den alten Weidenmann kämpfte und wie er Goldbeere kennen lernte.“ Díhena lachte auf. „Na gut, ihr kleinen Räuber.“ Sie setzte Carim neben sich und wartete, bis sein Bruder zu ihren Füßen saß, wie er es immer tat, wenn sie erzählte. Dann begann sie. „Wie ihr wisst, war Tom sehr alt. Älter als wir alle zusammen. Und er trug einen alten, schäbigen Hut mit einem hohen Hutkopf und einer langen blauen Feder, einen blauen Mantel, dazu einen grünen Gürtel, lederne Hosen und hohe, gelbe Stiefel. Sein Gesicht war rot wie ein reifer Apfel, aber zerknittert von hundert Lachfalten, er hatte blaue Augen und einen langen braunen Bart. Er selbst nannte sich den Ältesten und behauptete von sich, dass er schon vor dem Fluss und vor den Blumen lebte.“
Weiter kam sie nicht. Denn plötzlich ertönte ein verächtliches Schnauben aus einer Ecke des Raumes. Delos hatte sich dort in den Schatten versteckt, die Arme vor der Brust verschränkt, und blickte nun verächtlich auf seine Söhne hinab. „Diese albernen Kindergeschichten“, sagte er, mehr zu sich selbst. Er stieß sich mit der Schulter von der Wand ab und trat in den Schein des Feuers. Draußen war es mittlerweile so dunkel geworden, dass es die einzige Lichtquelle war.
Beschwichtigend wandte Díhena ein, dass sie noch Kinder waren, doch er brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. „Sie sind keine Kinder mehr. Du kannst jetzt gehen“, er machte eine beiläufige Geste, „ich werde ihnen dieses Mal eine Gutenacht-Geschichte erzählen.“
Widerwillig erhob sie sich, gab Carim noch einen Kuss auf den Schopf und streichelte Sahîrim über das Haar, dann ging sie zur Tür. Dort drehte sie sich noch ein letztes Mal um, doch der abwesende Gesichtsausdruck in Delos’ Gesicht erstickte jeden weiteren Protest.
Als sie die Türe von Außen geschlossen hatte, setzte Delos sich auf ihren Platz. Seine Söhne sahen ihn erwartungsvoll an. Wohlmöglich erhofften sie sich eine besonders spannende Erzählung, die sie von Díhena niemals gehört hätten. Doch es kam ganz anders.
„Habe ich euch jemals die Geschichte eurer Geburt erzählt?“ Beide schüttelten den Kopf. „Nun, dann wird es Zeit, etwas über eure Mutter zu hören.“ Er sah den Glanz in ihren Augen und konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Jedes Mal, wenn sie nach Milui gefragt hatten, hatte er barsch geantwortet, dass sie noch nicht alt genug waren. Jetzt sollten sie es sein. Sahîrim kam sich beinahe erwachsen vor.
Carim jedoch blickte verwirrt. Warum wollte ihr Vater ihnen ausgerechnet heute von ihrer Mutter erzählen? Gestern noch war er wieder wütend geworden, als er ihn gefragt hatte, wie sie ausgesehen hatte. Díhena konnte er nicht fragen, sie hatte Milui nicht gekannt.
„Sie war eine wundervolle Frau“, begann er, als hätte er die Gedanken seines Jüngsten gelesen, und sein Blick glitt in die Vergangenheit zurück. Er sah sie vor sich, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie ihren letzten Atemzug getan hatte. Er konnte ihre weiche Haut noch unter seinen Fingern spüren, roch ihren lieblichen Duft, schmeckte ihre Küsse auf seinen Lippen. Er versuchte sich nicht zu sehr an den Erinnerungen festzuhalten, doch es gelang ihm nur schwer, sich wieder davon zu lösen. „Doch es gab jemanden, der neidisch auf sie und unser Glück war. Sie ist angeblich eine Gesandte der Valar und ihr Name ist Lilórien. Sie vertrieb uns aus der Stadt. Doch eure Mutter trug euch bereits sehr lange unter ihrem Herzen und stand kurz vor der Niederkunft. Ihr schwacher Körper, durch die vorschnelle Flucht überansprucht, schaffte es nicht. Sie starb, als sie euch das Leben schenkte, gab ihre letzte Kraft für euch hin, und starb, weil es jemanden gab, der nicht damit leben konnte, dass wir glücklich waren.“
Nun herrschte Stille in dem Haus. Delos war erneut weit abgedriftet mit seinen Gedanken und seine Söhne wagten nicht, etwas zu sagen. Er wusste nicht, wieso er ihnen heute die Geschichte ihrer Mutter erzählt hatte. Dass Díhena ihnen erneut diese albernen Märchen vorgetragen hatte, hatte ihn wütend gemacht. Sie sollten lernen, dass das Leben nicht aus Märchen bestand. Das Leben war hart und ungerecht. Und sie mussten wissen, wie sie sich in dieser Welt zurecht finden sollten. Er musste sie auf das Zusammentreffen mit den Verrätern an ihrer eigenen Art vorbereiten.
Was würde nur aus ihnen werden, wenn man sie den lieben langen Tag verhätschelte? Sobald sie alt und kräftig genug waren, würde er mit ihnen den Schwertkampf üben. Jeden Tag würde er sie trainieren lassen, bis sie soweit waren. Bei Sahîrim zeichnete sich jetzt bereits die Freude an der Schlacht ab. Er würde zu einem großen Krieger heranwachsen und er würde es sein, der Lilórien und ihre Brut zu Fall brachte. Nur er alleine konnte sich dafür rächen, dass man ihm seine geliebte Milui genommen hatte.
Er erhob sich von seinem Platz, blickte ins Feuer und sagte: „Geht jetzt schlafen. Morgen wird ein anstrengender Tag für euch.“ Sie gehorchten ohne ein Widerwort, denn sie wussten, dass der Vater furchtbar aufgebracht wäre, würden sie sich weigern. Sie hatten es ein paar Mal versucht, doch jedes Mal war es aus dem Ruder gelaufen und er hatte ihnen zwei Wochen lang das Essen verweigert. Díhena hatte Mitleid mit ihnen gehabt und ihnen heimlich etwas gebracht. Zum Glück hatte Delos es nicht herausgefunden. Carim wagte es sich nicht einmal auszumalen, was er wohl mit ihnen angestellt hätte.
Schweigend glitten sie unter das Fell, welches ihnen als Decke diente. Kurz darauf schlossen sie die Augen. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Jedes Mal, wenn Sahîrim grade ein Traum umfing und er dachte, endlich einschlafen zu können, schob sich ein grässliches Bild seiner Mutter vor sein inneres Auge und er erwachte wieder. Noch bis in die frühen Morgenstunden konnte er den eisenhaltigen Geschmack von Blut auf der Zunge spüren, welches seine Mutter in seinem Traum über und über bedeckt hatte. Dahinter erkannte er eine Frau. Und weil er das Gesicht der Mörderin seiner Mutter nicht kannte, hüllte er sie in seinen Gedanken in Schatten ein. Sie hielt ein Messer in der Hand und ihre Augen schienen aus dem Dunkel heraus zu glühen.
Erschrocken fuhr er erneut aus dem Halbschlaf hoch, der ihm nicht vergönnt gewesen war. Kurz sah er nach seinem Bruder, stellte jedoch erleichtert fest, dass er noch tief schlief. Also schlich er sich vorsichtig aus dem Bett, um Carim nicht zu wecken, setzte sich an das Fenster in der Küche und wartete, dass der Morgen graute und vielleicht die schrecklichen Gedanken vertreiben konnte.
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Namensbedeutung:
Díhena - vergeben