LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
Kapitel 12
~ Stun House
Die letzten beiden Drehtage verschanzte sich Vittoria in ihrem Appartement und keiner konnte sie dazu bewegen es zu verlassen. In gelegentlichen Wutanfällen packte sie ihre Koffer, doch schon nach ein paar Minuten wurde sie so ungehalten, dass sie alles wieder herauskramte und wild durch das Zimmer warf. Sie reagierte nicht auf Anrufe und schon gar nicht auf Besuche und Andrew hatte zum Schluss große Angst, dass sie einfach hier bleiben würde. Normalerweise hätte er da nichts gegen gehabt, doch er brauchte sie auch noch für die Innenaufnahmen und er konnte niemanden abstellen, der sich hier um sie kümmerte und dafür sorgte, dass sie später nachkam.
Am vorletzten Tag in Neuseeland trat Anna beim Frühstück auf ihn zu. Sie machte sich große Sorgen um Vittoria, weil sie selbst auf ihre Anrufe nicht reagierte und manchmal, wenn sie länger vor der Tür gestanden hatte, wildes Geheule aus ihrer Wohnung gehört hatte. „Vielleicht sollte ich noch mal mit ihr reden“, sagte sie und sah ihren Regisseur an. Doch der schüttelte nur den Kopf. „Nein, Anna, das ist nett gemeint, aber wenn sie übermorgen nicht in diesem Flieger sitzt, dann muss sie wohl hier bleiben, so leid es mir tut.“
Resignierend setzte sie sich zu Will, Skandar, Georgie und Ben, schob ihren noch unberührten Teller von sich weg und stützte den Kopf auf die Hände auf. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Will und legte zögerlich eine Hand auf ihren Arm. Ben konnte sehen, dass er sich ein wenig scheute, sie zu berühren, er aber offenbar nichts lieber tat.
„Nein“, grummelte Anna und ignorierte die Tatsache, dass Will scheinbar trauriger wirkte als sie, völlig. „Er will Vic hier lassen, wenn sie nicht freiwillig aus der Wohnung kommt. Aber das ist doch nicht richtig.“
Ben biss genussvoll in sein Marmeladenbrot und lehnte sich bequem zurück. „Natürlich ist das nicht richtig“, sagte er und die Vier sahen ihn an, als hätte er eben die Apokalypse ausgelöst, und fragten sich, seit wann er für Vittoria eine Lanze brach. „Aber er kann schließlich auch nicht Babysitter für sie spielen, oder? Sie ist ja wohl alt genug.“ Er legte das halb aufgegessene Brot zurück und ging sich noch eine Tasse Kaffee holen.
„Die beiden sind wirklich wie Hund und Katze“, sagte Will und schüttelte den Kopf. „Weiß wirklich keiner von euch, was da zwischen ihnen ist?“ Doch niemand konnte etwas dazu beitragen. Sie wussten nur, dass es einen Vorfall gegeben hatte, denn so viel hatte Ben beim letzten Mal verraten, als er sich beinahe verplappert hatte. Wieso sie beide jedoch so ein Geheimnis daraus machten, wir ihnen schleierhaft.
„Vielleicht hatten sie mal was miteinander“, sagte Skandar nachdenklich. Die anderen sahen ihn ungläubig an. Verhielten sich Mann und Frau so unfähig, wenn sie einmal eine Beziehung und sich dann getrennt hatten? „Wäre doch möglich. Das würde zumindest erklären, warum sie sich immer so angiften.“
Anna schüttelte den Kopf. Sie kannte weder Ben noch Vittoria besonders lange, doch sie fand nicht, dass die beiden sich wie ein ehemaliges Liebespaar benahmen. „Nein“, sagte sie, „irgendwie passt das alles nicht zueinander. Da ist zu viel Eifersucht im Spiel. Und mit Eifersucht meine ich dieses merkwürdige Verhalten von Ben, als Vic seinen Platz bei dieser einen Szene eingenommen hat. Wenn Vic ein Mann wäre, würde ich sagen, dass er sie als Rivalen ansieht.“
Diese Theorie schien auch nicht die allgemeine Stimmung zu treffen. Georgie nahm einen Schluck von ihrem Kakao und drehte danach die Tasse in den Händen, sodass sie sie von allen Seiten betrachten konnte. „Für mich sieht das eher so aus“, sagte sie, „als wäre Ben in sie verknallt und will es nicht zugeben.“
Will beugte sich in die Mitte des Tisches vor und zischte ihr zu, denn in diesem Moment kam das Opfer ihrer Diskussion wieder, in seiner Hand dampfte der Kaffeebecher. Als er sich hinsetzte, bemerkte er das betretene Schweigen am Tisch und warf fragende Blicke in die Runde. Doch niemand sah ihn an. „Habt ihr über mich geredet?“, fragte er und riss erschrocken die Augen auf, als alle sofort und beinahe gleichzeitig verneinten. Er versuchte das Ganze zu ignorieren und trank einen Schluck.
Schließlich brach Anna das Schweigen, der am meisten anzusehen war, dass sie sich schuldig fühlte. Sie mochte Ben und Vic sehr gerne und war etwas damit überfordert, dass die beiden offensichtlich nicht im selben Raum sein konnten, ohne dass scharfe Worte fielen oder Dinge durch die Gegend flogen. Irgendwann würde sie einen von ihnen zur Rede stellen, doch im Moment war das mehr als ungünstig. Sie würde damit warten, bis der Dreh zu Ende ging.
„War jemand von euch schon mal in Prag?“, versuchte sie stattdessen schnell in eine andere Richtung zu steuern, was auch einigermaßen gelang. Denn kurz darauf entspann sich eine muntere Runde und inspirierte alle dazu, etwas zu sagen, was sie bisher über die Goldene Stadt gehört hatten. Und so war das Thema „Vittoria“ zumindest für diesen Tag vergessen.
Als diese jedoch am Tag des Fluges immer noch nichts von sich hatte hören lassen, wurde Anna langsam unruhig. Ihre Koffer hatte sie bereits aufgegeben und stand nun mit Georgie am Zeitschriftenstand, um sich für den langen Trip mit Lesestoff einzudecken. Jedoch schaffte sie es nicht, sich auf eine Zeitung zu konzentrieren, um sich zu entscheiden, welche sie mitnahm, denn immer wieder glitt ihr Blick zum Eingang und sie hielt die Finger gekreuzt, in der Hoffnung, dass Vittoria doch noch auftauchen würde.
Wenig später war das Flugzeug zum Einsteigen bereit und sie alle stellten sich an das Gate an, um reingelassen zu werden. Will stellte sich neben Anna, während Georgie sich zu Ben gestellt hatte, der noch mit jemandem telefonierte. „Und sie hat nicht einmal zurückgerufen?“, fragte Will und Anna schüttelte den Kopf. Schüchtern nahm er sie in den Arm, was vielleicht etwas übertrieben war, denn immerhin war niemand gestorben. Doch er wollte diese Gelegenheit nutzen, um ihr zu zeigen, dass er für sie da war.
Vorsichtig löste sie sich wieder von ihm. „Ist schon gut“, sagte sie. „Sie wird schon wissen, was sie tut. Schließlich ist sie alt genug.“ Um es mit Bens Worten zu sagen, fügte sie noch in Gedanken hinzu und beobachtete ihren älteren Kollegen nachdenklich. Er wirkte seltsam gelöst, hatte aber diese Falte auf der Stirn, die eigentlich immer darauf schließlich ließ, dass er nicht ganz mit dem zufrieden war, was er abgeliefert hatte. Das hatte sie schon einige Male beim Dreh bemerkt. Er wirkte beinahe, als würde er nicht richtig wissen, ob er sich nun freuen sollte oder nicht. Sie beschloss weiterhin ein Auge auf ihn zu haben und trat wieder einen Schritt vor.
Gerade als sie an der Reihe war eingelassen zu werden, rief jemand von hinten ihren Namen. Sie drehte sich um und sah zu ihrer großen Erleichterung Vittoria auf das Gate zulaufen. „Es tut mir leid“, sagte sie atemlos, als sie schlitternd neben den anderen zum Stehen gekommen war. „Ich bin zu spät, aber ich musste erst noch meinen Leihwagen abgeben.“ Anna drückte die Italienerin fest an sich und hielt sie bei der Hand, während ihre Tickets eingelesen wurden, um sicher zu gehen, dass sie nicht vielleicht doch noch die Flucht ergriff.
Im Flugzeug angekommen wollte Anne die Freundin loslassen, um ihren Platz einnehmen zu können, doch diese wollte ihre Hand nicht mehr hergeben. Mit festem Druck klammerte Vittoria sich daran, als wäre sie kurz vor dem Ertrinken. Als Anna sie ansah, musste sie feststellen, dass sie ganz blass geworden war und schwitzte. „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie, doch Vittoria schüttelte heftig den Kopf.
„Ich habe Flugangst“, flüsterte sie, als fürchte sie, das Flugzeug würde sie auffressen, wenn sie es laut aussprach. „Ich war bis gerade noch so im Stress, dass ich gar nicht mehr daran gedacht habe. Und jetzt ist es zu spät.“
Mit zitternden Knien sank sie in ihren Sitz und machte sich ganz klein. Sie sah wie ein richtiges Häufchen Elend aus. Zum Glück jedoch legte sie ihren schraubstockartigen Griff jetzt um die Lehnen ihres Erste-Klasse-Sitzes und Anna war wieder frei. Sie entschuldigte sich kurz bei Vittoria, die sie allerdings gar nicht mehr wahrzunehmen schien, und ging nach vorne zu einer Stewardesse. „Entschuldigen Sie“, sagte sie und die Frau drehte sich um. „Haben sie Tabletten gegen Flugangst hier? Meine Freundin hat ihre vergessen und kann sich nun nicht mehr bewegen.“
Die junge Frau mit dem Namen Moore, wie ihr Namensschild verriet, lächelte gütig. „Ich habe starke Beruhigungstabletten, falls das hilft“, sagte sie mit einer zuckersüßen Stimme, die Anna verriet, dass sie sie offensichtlich noch für ein kleines Kind hielt. Sie überging diesen Unterton und nahm den Plastikbecher mit den zwei Pillen dankbar an. Als sie zu Vittoria zurück wollte, musste sie jedoch an den Sitzen von Will und Ben vorbei. Letzterer streckte einen Arm nach ihr aus und hielt sie am Handgelenk fest. „Was machst du mit den Tabletten?“, fragte er sie und warf einen Blick in den Becher.
Anna machte sich vorsichtig wieder von ihm los, beugte sich zu den beiden herunter und flüsterte: „Vic hat schreckliche Flugangst. Das sind Beruhigungstabletten.“
„Denkst du, dass du sie ihr geben kannst?“, flüsterte Will zurück, aber sie zuckte nur mit dem Schultern. Sie hoffte, dass sie sie dazu bewegen konnte, wenigstens ein paar Schlucke Wasser zu trinken, um die Tabletten herunter zu spülen. Aber es würde sich noch zeigen, ob dies von Erfolg gekrönt sein würde. Ben jedoch fand das Ganze offensichtlich ziemlich amüsant. Er beugte sich noch ein bisschen näher zu den beiden herunter, machte ein verschwörerisches Gesicht, sodass die anderen bereits dachten, er hätte vielleicht eine Idee, wie man die erstarrte Vittoria würde füttern können, und flüsterte zurück: „Warum flüstern wir eigentlich?“
Anna verpasste ihm einen leichten Schlag auf den Oberarm und ging wieder zurück zu ihrem Platz. Kurz darauf ertönte die Lautsprecherdurchsage, alle mögen sich hinsetzen, das Flugzeug würde gleich zur Startbahn rollen. Während sich das Flugzeug auch gleich darauf in Bewegung setzte, versuchte Anna nun ihre Freundin dazu zu überreden, den Mund aufzumachen. Vittoria jedoch starrte völlig entgeistert, mit zusammen gepressten Lippen und weit aufgerissenen Augen auf den Sitz vor ihr, der sich leicht bewegte, als die großen Reifen des Flugzeugs über den Asphalt rollten. Sie hatte die Knie angezogen und ihre Arme um die Beine geschlungen und wirkte wie ein Kind, das Angst vor den Monstern unter seinem Bett hatte.
„Nun mach schon den Mund auf“, sagte Anna zum wiederholten Male und hielt ihr eine der Tabletten vor die Lippen. Doch Vittoria zeigte keinerlei Reaktion, ob sie sie überhaupt wahrnahm. „Danach wird es dir besser gehen, versprochen!“
Auf den letzten Satz reagierte sie tatsächlich. Sie löste ihren Blick von ihrem Vordersitz und sah ihre Freundin verzweifelt an. Anna lächelte ihr aufmunternd zu und hielt ihr erneut die Medizin hin. Zögerlich löste Vittoria ihre Lippen schließlich voneinander und streckte ihr die Zunge raus. Anna legte das kleine rosa Ding darauf und wartete gespannt darauf, dass sie schluckte.
Die Lautsprecher knackten ein paar Male, dann hörte man wieder die nasale Stimme des Kapitäns. „Meine Damen und Herren, unser Abflug wird sich um wenige Minuten verzögern. Wir warten noch auf einen Jet aus China, danach wird die Startbahn uns gehören.“ Anna sah, wie Vittoria erleichtert aufatmete und hielt ihr gleich darauf noch die zweite Tablette hin. Sie wusste nicht genau, was es für welche waren und wie stark sie wirken würden, aber das war ihr in diesem Moment völlig egal. Sie wollte nur, dass Vittoria diesen Flug heil überstehen würde.
Als es schließlich auf die Startbahn ging, sah Anna, wie Vittorias Augenlider bereits leicht flatterten. Der Griff ihrer Hände ließ nach, sodass wieder Farbe in sie zurückkehrte, und ihre Füße begannen sich ebenfalls zu entkrampfen. Offenbar schienen die Tabletten zu wirken. Innerlich jubelte Anna auf, drehte sich in ihrem Sitz nach hinten und zeigte Will und Ben den Daumen nach oben. Ben hatte schon die Kopfhörer auf den Ohren und beachtete sie gar nicht. Will jedoch lächelte ihr aufmunternd zu.
Etwas später erloschen auch schon die Anschnallzeichen und Andrew kam zu den Mädchen nach vorne. „Wie geht es ihr?“, fragte er Anna, doch die warf nur einen kurzen Blick auf die tief und fest schlummernde Vittoria. „Sie so aus, als gehe es ihr prima“, sagte Andrew, klopfte seiner Susan kurz auf die Schulter und nahm wieder seinen Platz ein.
Irgendwann wurde auch Anna müde. Also klappte sie ihren Sitz zurück, nahm sich ein Kissen und zwei Decken, wovon sie eine über Vittoria warf, und machte es sich gemütlich. Kurz darauf war auch sie eingeschlafen.
Das Ruckeln des Flugzeuges weckte sie schließlich auf und sie musste mit einem kurzen Blick aus dem Fenster feststellen, dass sie bereits gelandet waren. Bei Vittoria jedoch zeigte sich noch keinerlei Regung. Sie saß noch immer in der gleichen Position da, in der sie eingeschlafen war und schnarchte leise. Wahrscheinlich würde nicht mal ein Nebelhorn sie im Moment aufwecken können. Doch wie würde sie dann in das andere Flugzeug umsteigen können?
Fieberhaft versuchte Anna in den nächsten Minuten, in denen sie zum Terminal rollten, ihre Freundin zu wecken. Doch weder schütteln noch rufen half. Vittoria befand sich noch immer tief im Traumland. Verzweifelt warf Anna einen Blick nach hinten, doch Ben hielt noch fest die Augen geschlossen, wippte jedoch mit dem Fuß im Takt der Musik, die er offenbar noch über die Kopfhörer hörte. Und Will konnte sie nicht sehen, weil ein anderer, nach hinten geklappter Sitz ihr im Weg war. „Was mach ich jetzt nur?“, sagte sie zu sich selbst und begann an ihren Nägeln zu kauen.
Wenige Minuten später dockten sie am Flughafen an und die Anschnallzeichen erloschen wieder. Sofort sprangen alle Leute auf, holten ihre Sachen aus den oberen Ablagen und begaben sich zu den Ausgängen. Anna blieb noch bis zum Schluss sitzen und versuchte weiterhin ihre Freundin aufzuwecken. Sie würde wohl einen der Stewards fragen müssen, damit er sie aus dem Flugzeug trug.
„Schläft sie immer noch?“ Bens Stimme riss Anna aus ihren Gedanken. Erleichtert drehte sie sich zu ihm um und schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln. Dabei klimperte sie mit den Wimpern und sagte: „Liebster Ben…“ Doch er ließ sie nicht ausreden. Mit dem Rucksack über der Schulter kreuzte er die Arme vor der Brust. „Nein!“, rief er und versuchte ihrem bittenden Blick zu widerstehen. „Nein, habe ich gesagt!“ Doch Anna ließ sich nicht einschüchtern. Wenn sie eines gelernt hatte im Showgeschäft, dann wie sie das bekam, was sie wollte. „Bitte, Ben. Wir können sie doch nicht hier lassen.“
Mit einem Ruck drehte er sich um und ging in Richtung Ausgang. „Du vielleicht nicht“, sagte er, „aber ich schon. Soll sie doch zurück nach Neu Seeland fliegen. Ist mir egal.“ Er war noch nicht weit gekommen, da hörte er Anna mit einer herzzerreißenden Stimme sagen: „Ben, bitte.“ Und es lag so viel Schmerz und Hoffnung darin, dass er seine Füße, so sehr er es auch wollte, nicht mehr dazu bewegen konnte, weiter zu gehen. Innerlich verfluchte er sich selbst dafür, doch schließlich drehte er sich um. Er war ganz sicher, dass er das bereuen würde, aber wie konnte er diesem Mädchen etwas abschlagen?
Mit einem genervten, aber gleichzeitig amüsierten, Blick warf er Anna seinen Rucksack in die Arme und schob sie zur Seite. „Danke“, flüsterte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Ja ja“, sagte er, „aber wehe, du erzählst das jemandem!“ Anna trat bei Seite und machte ihm den Weg frei. Langsam ging sie schon mal bis zum Ausgang vor, um nach zusehen, ob auch niemand mehr von ihren Leuten dort war, der sie sehen könnte. Vermutlich wäre Andrew in die Luft gegangen, wüsste er, dass seine Beraterin noch immer schlief. Sie konnte nur hoffen, dass die Dosis der Beruhigungstabletten nicht doch etwas zu hoch gewesen war.
Ben stellte sich vor den Sitz hin, in dem Vittoria schlief, und betrachtete sich die ganze Situation erst einmal genau. Dabei warf er auch einen Blick in ihr Gesicht und stellte fest, dass sie so friedlich und entspannt richtig niedlich aussah. Sonst lag um ihren Mund immer ein leicht verbissener Ausdruck, so als gehörte sie gar nicht dahin, wo Andrew sie immer haben wollte. Fast so, als mache es ihr keinen Spaß, an einem derartigen Filmprojekt zu arbeiten. Er hörte, wie sie leicht schnarchte und musste darüber kurz lächeln. Wenn sie das wüsste, würde sie ihn vermutlich umbringen.
Vorsichtig schob er eine Hand unter ihre Schultern, legte einen ihrer Arme um seinen Nacken, und packte mit der anderen Hand ihre Beine. Als er sie hochhob, stellte er fest, dass sie viel leichter war, als er eigentlich gedacht hatte und er fragte sich, ob er vielleicht einfach nur zu stark, oder sie zu dünn war. Langsam und fast zärtlich rückte er sie noch etwas zurecht, sodass er sie bequem tragen konnte, und trat in den Mittelgang. Als er sich ein paar Schritte bewegt hatte, seufzte Vittoria in seinen Armen, schlang ihren anderen Arm, der bisher leblos an ihrer Seite gebaumelt hatte, auch noch um seinen Hals und kuschelte sich an seine Brust. Dabei strich ihr warmer Atem über seine Schlüsselbeine und eine Gänsehaut jagte seinen Rücken hinunter.
Annas Stimme, die ihn rief, holte ihn aus seinen Gedanken zurück. Er schüttelte kurz, aber entschlossen, den Kopf und verließ schließlich das Flugzeug. Er konnte hören, dass Vittoria etwas murmelte, aber der Lärm, den das Personal machte, als es das Gepäck entlud, übertönte die leisen Worte. Doch er ertappte sich bei dem Gedanken, dass er gerne gewusst hätte, was sie in diesem Moment wohl zu erzählen hätte. Das verwirrte ihn angemessen, denn normalerweise gab er nichts darauf, was sie sagte oder gar dachte. Aber alleine die Tatsache, dass sie hilflos in seinen Armen lag, machte sie ihm ein Stück weit sympathischer.
Im Flughafen war es voll und laut. So war es ein leichtes, eine Ecke zu finden, in der er Vittoria ablegen konnte, ohne dass er von jemandem gesehen wurde. Während Anna für sie drei in Erfahrung bringen wollte, wo sie als nächstes hinmussten, erklärte er sich dazu bereit, noch eine Weile auf Dornröschen aufzupassen. Vorsichtig setzte er sie in eine der unbequemen Stühle und nahm neben ihr Platz, damit er sie festhalten konnte, sollte sie umkippen.
Genervt von der Situation, dass er nun mit der Unfreundlichkeit in Person hier sitzen und ihren Babysitter spielen musste während sie auf das Flugzeug warteten, verschränkte er die Arme vor der Brust und trommelte mit den Fingern auf seinen Oberarmen rum. So lustig das Ganze auch war und so gerne er Vittoria das alles unter die Nase gerieben hätte sobald sie aufwachte, so sehr schämte er sich auch dafür, ihr eine Hilfe gewesen zu sein. Wieso auch musste sie sich mit Schlafmitteln zudröhnen?
Kurz dachte er daran, ihr ihr Handy wiederzugeben, welches sich noch immer in seinem Rucksack befand. Doch er wollte noch etwas gegen sie in der Hand haben. Und sie hatte es offenbar in den letzten Tagen auch noch nicht vermisst. Mittlerweile war der Akku leer und er konnte nun nicht mehr die Namen in ihrem Telefonbuch durchgehen, doch sobald er jemanden gefunden hatte, der das Gleiche besaß, würde er sich das Ladegerät ausleihen und noch ein bisschen weiter herumstöbern. Vielleicht hatte sie ja doch ein paar Leichen im Keller.
Die Minuten verstrichen und Anna kam nicht zurück. Unruhig stand er auf, ging ein paar Schritte und setzte sich wieder hin. So weit er wusste, ging der nächste Flieger in nur einer Stunde. Bald würde das Boarding anfangen und er saß noch immer mit Miss-Ich-kann-Alles hier. Als er sich wieder neben sie setzte, ließ er sich etwas zu hart zurück in den Sitz fallen, was sogleich bewirkte, dass die schlafende Vittoria den Halt verlor und gegen ihn prallte. Murmelnd blieb sie mit dem Kopf auf seiner rechten Schulter liegen.
„Auch das noch“, seufzte er und wollte sie wieder zurück in die alte Position schieben, aber es gelang ihm einfach nicht. Schließlich gab er resignierend auf und blickte sehnsüchtig auf die Alkoholauslagen im Duty Free-Shop. Wenn er wieder im Flieger saß, würde er einen Drink nötig haben.
Endlich kam Anna zurück und sie wirkte, als hätte sie gerade erfahren, dass der Weihnachtsmann doch existierte. Als sie sah, wie Ben und Vittoria zusammen dort saßen, breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus. Doch als sie Bens Gesichtsausdruck bemerkte, erstarb es gleich wieder auf ihren Lippen. Sie räusperte sich kurz, dann sagte sie: „Nimm sie mit, wir können schon in das Flugzeug rein. Ich habe mit einer netten Stewardesse gesprochen. Dann müssen wir nicht mit allen anderen einsteigen.“
Für ihn war das wohl die beste Nachricht des Tages. Augenblicklich nahm er Vittoria wieder auf den Arm und folgte Anna zum Terminal. Dabei blickte er sich immer wieder um und hoffte, dass niemand in erkennen würde. Er glaubte zwar eigentlich nicht wirklich, dass man sich dann über ihn lustig machen würde, doch er wollte lieber kein Risiko eingehen.
Schließlich ließ er die kleine Italienerin im Flugzeug vorsichtig in ihren Sitz gleiten und stieß dabei ein erleichterndes Seufzen aus. Amüsiert sah Anna ihn an. „War sie wirklich so schwer?“, scherzte sie, doch sie musste sich schnell unter seinem Arm wegducken, der nach ihr schlagen wollte. „Schon gut“, sagte sie und nahm neben Vittoria Platz. Kaum hatte auch Ben seinen Sitz gefunden, strömten auch schon die restlichen Passagiere ins Innere der Maschine. Und nur eine halbe Stunde später waren sie auf dem Weg zurück nach Europa.
Als das Flugzeug in Prag auf dem Letiště Praha-Ruzyně landete, schreckte Vittoria schließlich hoch. Die Tabletten hatten gereicht, um sie fast einen ganzen Tag schlafen zu lassen. Verwirrt blickte sie aus dem Fenster auf die Goldene Stadt und fragte sich, ob sie wirklich einen Direktflug gehabt hatten. Doch da der Schlaf ihre Gedanken noch lähmte, ließ sie sich schnell von dem feuerroten Morgenhimmel ablenken, der über der Stadt schwebte. Hier war gerade der Frühling angebrochen und sie freute sich bereits darauf, Prag zu erkunden. Hätte sie geahnt, was noch auf sie zukommen sollte in dieser Stadt, hätte sie das Flugzeug vermutlich gar nicht erst verlassen. Doch so betrat sie mit noch leicht wackligen Beinen in den frühen Morgenstunden tschechischen Boden.