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Kapitel 12

 

~ Hexed

 

Das Boot glitt geräuschlos dahin. Die Lampe am Bug baumelte gemächlich vor sich hin und beleuchtete die Bäume mal rechts, mal links vom Fluss aus. Eine Gänsehaut überzog Gibbs’ Arme und er fühlte sich ganz und gar unbehaglich an diesem verfluchten Ort. Der Nebel war sogar noch dichter geworden und erlaubte ihnen kaum, zwanzig Meter weit zu sehen.

 

In dem Boot war nur Platz für drei Leute gewesen, also waren Jack, Barbossa und er selbst eingestiegen. Und sobald sie Platz genommen hatten, war das Boot davon geglitten – lautlos, ohne Ruder und ohne Steuermann. Er hatte ja schon viel erlebt, seit er auf See war, und besonders seit er mit Jack zusammen auf See war, doch eine selbst fahrende Jolle war ihm bisher auch noch nicht unter gekommen. Unweigerlich fühlte er sich an die alten Geschichten aus Europa erinnert, bei denen es um einen Fährmann und eine Barke aus Skeletten ging, die nur über einen unterirdischen Fluss fuhr, wenn man dem Fährmann zwei Geldstücke bezahlte.

 

Ein Schauder überkam ihn, als die Lampe wieder einmal etwas am Flussrand beleuchtete, denn er hätte schwören können, dass sich dort unter den Bäumen etwas bewegt hatte. Doch sobald das Licht auf die dunklen Stämme fiel, war nichts mehr zu sehen. Nicht einmal Tiere ließen sich blicken.

 

„Wie lange gleiten wir jetzt schon durch dieses unwirkliche Zwielicht?“, flüsterte er Jack zu. Der hatte es sich im Heck der Jolle bequem gemacht, hatte die Hände über dem Bauch gefaltet und den Hut tief ins Gesicht gezogen, als würde er schlafen. „Keine Ahnung. Ist mir auch egal. Wenn wir da sind, sind wir da“, war die etwas gedämpfte Antwort.

 

„Und du kennst diese Hexe schon?“

 

Jack erhob sich etwas genervt und schob sich den Hut wieder zurück auf den Kopf. „Nein, das habe ich dir doch schon erklärt. Wie oft möchtest du es noch hören?“

 

„Du hast es erst einmal kurz erwähnt“, gab Gibbs etwas geknickt zurück, während Barbossa sich aus der Unterhaltung völlig heraus hielt. Er hatte sein Holzbein ausgestreckt und drehte daran, bis es abfiel. Dann entkorkte er die darin befindliche Flasche und nahm einen tiefen Schluck. Als er absetzte, seufzte er zufrieden. „Es sind schlimme Zeiten, Master Gibbs. Die Spanier drängen sich immer mehr auf die Weltmeere, vertreiben uns anständige Piraten, und nennen das dann ein ehrliches Geschäft. Doch die Krone weigert sich, dagegen vorzugehen. Unser guter King George hat zu viel Angst. Und doch wäre es jetzt der ideale Zeitpunkt zum Zuschlagen. Der spanisch-französische Erbfolgekrieg hat beide Länder geschwächt, die Niederlande sind keine ernst zu nehmende Konkurrenz. Und trotzdem schickt der König keine Truppen mehr in die Neue Welt. Warum?“

 

Nachdenklich runzelte der alte Mann die Stirn. „Und was hat das mit uns zu tun?“

 

„Macht Eure Augen auf, Master Gibbs! Solange es Orte wie diesen hier gibt, wird die Moderne Welt keinen Einzug hierher erhalten. Und wir können ungestört unserem Handwerk nachgehen.“

 

Jack beachtete die verwirrende Aussage von Barbossa nicht. Er kannte das schon von ihm. Stattdessen zwinkerte er Gibbs zu und versuchte zu erklären: „Und wenn es keine Schiffe mehr gibt, die über den Atlantik kreuzen, gibt es keine Schätze mehr für uns zu holen. Wir werden nahezu gezwungen, brave Handelsschiffe zu überfallen und sie ihrer Waren zu berauben. Du siehst also, dass alles miteinander zusammen hängt.“

 

„Ja“, musste Gibbs zugeben. „Aber du hast meine Frage nicht beantwortet.“

 

Doch bevor Jack noch dazu kommen konnte, teilte sich die Nebelwand vor ihnen plötzlich und gab den Blick auf eine Hütte frei, die auf Stelzen am Flussrand stand. Das Dach war niedrig und neigte sich bereits gefährlich, die Fensterläden hingen teilweise schief und teilweise gar nicht mehr an ihrem Platz und die Treppe, die von einem winzigen Steg aus nach oben zur umgehenden Veranda führte, erweckte kaum den Eindruck, besonders stabil zu sein. Auf den Pfählen, die alles mehr oder weniger an Ort und Stelle hielten, standen und hingen Laternen, die alles in ein unheimliches Licht tauchten. Es sah beinahe so aus wie Tia Dalmas Hütte. Und vielleicht war sie es sogar. Doch im Gegensatz zum letzten Mal, als sie hier waren, wartete niemand draußen.

 

Sanft stieß der Bug der Jolle gegen den Steg und blieb liegen. Offenbar waren sie tatsächlich am richtigen Ort angekommen. Nur zögerlich stieg Gibbs aus, doch als er sah, dass Jack und Barbossa keine Spur Angst zu haben schienen, straffte er sich und folgte ihnen den Steg entlang und die Treppe hoch.

 

Im Inneren der Hütte brannten ebenfalls Laternen und Kerzen, die ihren Rauch im Raum verteilten und die Sicht verschlechterten. Auf dem Boden waren locker ein paar Binsen verstreut, die jedoch keinen besonderen Sinn zu haben schienen. An den Wänden türmten sich meterhohe Regale, die alle schief und krumm waren und sich unter der Last der Gefäße, die darauf standen, schon beugten wie alte Männer. Von der Decke hingen bündelweise Kräuter herunter und dicke, schwere Vorhänge vor den Fenstern sperrten jedes Licht aus. Es herrschte ein unangenehmer Geruch von Schwefel vor, der auch mit den Kräutern, die vermutlich wohlduftend waren, vermischt nicht besser wurde. Es war stickig, das Atmen fiel schwer und Gibbs wurde übel, doch er riss sich zusammen.

 

Der hintere Teil der Hütte, der mindestens noch einmal so groß war wie der Raum, in dem sie schon standen, war mit einem Vorhang abgetrennt, unter dem es merkwürdig grünlich hervor schimmerte. Ein leichter Lufthauch bewegte den wuchtigen Samt, der den Durchgang verhüllte. Eine einzelne Nebelschwade drang unter dem Stoff hervor, kroch langsam über den Boden und verlor sich erst kurz vor ihren scharrenden Füßen im Nichts. Gebannt folgten ihre Augen dem Schauspiel, bis die Schwade verschwunden war. Und als sie sich alle drei gleichzeitig wieder aufrichteten, stand plötzlich eine Frau vor ihnen.

 

Sie hatten sie nicht kommen hören. Sie war einfach aus dem Nichts aufgetaucht, als wäre sie urplötzlich aus dem Boden gewachsen. Und doch wirkte es beinahe so, als stände sie schon seit einer Ewigkeit genau an dieser Stelle, um sie alle drei hier zu erwarten. Nun breitete sie die Arme aus. „Willkommen, Gentlemen.“

 

Die Frau, die vor ihnen stand, war nicht besonders groß, reichte Gibbs gerade bis zur Brust. Ihre Haut war dunkel und leicht rötlich, wie die der Indianer. Sie hatte schmale, wachsame dunkel Augen, eine gerade breite Nase und schmale Lippen, die sie zu einem merkwürdigen Lächeln verzogen hatte, was Gibbs nicht ganz deuten konnte. Und es war unmöglich ihr Alter zu deuten. In dem schummrigen, flackernden Kerzenlicht wirkte sie mal alt, mal jung. Auch ihre Haare ließen keinen Rückschluss zu, denn sie waren einfach nur tiefschwarz, ohne jegliche Reflexe oder graue Strähnchen. Es war, als wäre sie alterslos, weder jung noch alt, und doch beides gleichzeitig. Kurzum: die Frau war ihm unheimlich.

 

„Mein Name ist Ichtaca und ich heiße euch in meinem bescheidenen Heim herzlich Willkommen.“ Sie machte ein paar kleine Schritte nach hinten und deutete auf ein paar Stühle, die um einen Tisch herum standen. Jeder Stuhl war anders als der andere, nichts passte zusammen und alles wirkte schief. Trotzdem nahmen sie am einen Ende des Tisches Platz, während die Frau zum anderen ging und sich dort auf einem Stuhl niederließ. „Was kann ich für euch tun?“

 

„Nun“, räusperte Jack sich. „Das ist nicht ganz so einfach zu erklären.“ Bevor er jedoch zu einer größeren Ausführung ansetzen konnte, unterbrach Barbossa ihn: „Edward Teach, der gefürchtete Captain Blackbeard hat uns unserer Schiffe beraubt und sie in eine Flasche gesteckt. Leider haben wir erst nach seinem Tod erfahren, dass wir sein Blut brauchen, um die Schiffe wieder aus der Flasche zu bekommen.“

 

Verwirrt blinzelte Jack ein paar Mal in Barbossas Richtung, dann zuckte er die Schultern. „Scheinbar ist es doch einfach zu erklären.“ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verspürte einen kurzen Ruck und hörte ein lautes Knacken und beugte sich lieber wieder vor, bevor die Rückenlehne unter seinem Gewicht nachgeben konnte. „Ihr habt nicht zufällig eine Lösung für uns parat?“

 

Ichtaca erhob sich geschmeidig, was Gibbs darauf schließen ließ, dass sie nicht so alt war, wie er vielleicht zunächst gedacht hatte. Doch als sie mit gebeugtem Rücken zu einem Regal ging, verwarf er den Gedanken wieder. Sie streckte sich, soweit sie es konnte, und holte eine kleine Kugel vom mittleren Regalbrett herunter. Auf die Zehenspitzen gestellt erreichte sie es gerade so. Mit der Kugel kam sie an den Tisch zurück, setzte sich wieder und legte die Kugel auf ein Tuch, was dort bereits lag. Sie wischte damit einmal über die Kugel, um den Staub davon zu entfernen, und Gibbs fiel auf, dass es sich dabei um eine Glaskugel handelte. Hatte sie etwa vor, ihnen daraus die Zukunft vorherzusagen? So etwas hatte er ja noch nie gehört.

 

Ihr Kleid raschelte, als sie sich zurecht setzte. „Blackbeard ist tot“, sagte sie und ihre Stimme klang plötzlich ganz anders. Es hörte sich an, als würde sie von den Holzwänden widerhallen und gleichzeitig aus allen Richtungen kommen. Und es jagte Gibbs einen Schauder durch den Körper. Schnell machte er das Zeichen gegen Hexerei und spuckte einmal über seine rechte Schulter. Was gegen das Schwarze Mahl half, konnte auch gegen Zauberei nicht schlecht sein.

 

Barbossa schien jedoch gar nicht beeindruckt. Er lehnte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und wedelte ungeduldig mit seiner rechten Hand. „Das wissen wir schon. Wie kriegen wir die Schiffe zurück auf See ohne ihn?“

 

„Sein Blut ist der Schlüssel.“

 

„Auch das wissen wir schon!“ Selbst Jack schien nun die Geduld zu verlieren. Waren sie extra hierher gekommen, um von dieser Frau nur offensichtliche Sachen zu hören?

 

Doch er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da hob sie wieder den Kopf und sah ihn wütend an. Ihre Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt und wirkten in dem schwachen Licht nun schwarz und grundlos. Selbst das Weiße war daraus verschwunden. „Wenn ihr nicht hören wollt, was ich zu sagen, geht ihr besser wieder“, spuckte sie ihnen entgegen. „Ihr hättet gar nicht herkommen müssen, wenn ihr ein bisschen nachgedacht hättet.“

 

„Was soll das denn bitte heißen?“, empörte Jack sich.

 

Mit einem Ruck erhob sie sich, war mit nur wenigen Schritten einmal um den Tisch herum gekommen und baute sich vor ihnen auf. Das Ganze ging so schnell, dass Gibbs dem gar nicht mit seinen müden, alten Augen folgen konnte. Sie streckte ihre langen dünnen Finger nach Jack aus und packte ihn am Arm. Sie zog ihn mit einer Kraft aus seinem Stuhl heraus, die er bei ihr gar nicht vermutet hätte. Dabei rutschte sein Hemd über seinen Arm zurück. Blitzschnell fuhren ihre Fingernägel über die nackte Haut und hinterließen zwei winzige Schnitte, aus denen sofort Blut sickerte.

 

Protestierend riss er seinen Arm zurück und drückte ihn schützend an seine Brust. „Au“, klagte er. „Was soll das? Das hat weh getan.“

 

Sie ließ ihn wieder los, ging zu ihrer Glaskugel zurück, in der es mittlerweile zu wabern begonnen hatte. Es sah so aus, als wäre der Nebel von draußen in das Innere der Kugel gelangt und würde dort nun umher ziehen. Als sie ihre Hand mit Jacks Blut daran auf den Ball legte, färbte sich der Nebel plötzlich genauso rot.

 

„Blut ist das einzige, was zählt.“ Sie leckte sich den Rest von ihren Fingern. „Finde das Blut von Blackbeard und vergieße es über dem Eingang zu der kleinen Welt, die dein Schiff gefangen hält, dann wirst du sehen, was geschieht. Aber vergiss niemals, dass nur das Blut dir geben kann, wonach es dich so sehnlichst verlangt.“

 

Als sie keine Anstalten machte weiterzusprechen, wagte Gibbs es endlich, das Wort zu erheben. „Aber wie können wir Blackbeards Blut finden? Er ist von der Quelle vernichtet worden. Von ihm ist nichts mehr übrig, außer einem Haufen Staub. In seinen Adern fließt kein Blut mehr, was wir verwenden könnten.“

 

Ihre dunklen Augen richteten sich auf ihn und ließen ihn zusammen zucken. Es kam ihm so vor, als stünde er plötzlich nackt vor ihr, und für diesen einen Augenblick war sie nicht mehr die seltsame alte Hexe, die aussah, wie eine Jungfrau. Für diesen einen Augenblick wurde er einem anderen Wesen gewahr. Eines, das jung und bildschön war, unverbraucht, freundlich. Und sie trug ein Kleid aus Wasser, in welchem Blumen und Kinder schwammen.

 

Doch das Trugbild war so schnell vorbei, wie es gekommen war, als sie die Stille, die nach seinen Worten entstanden war, durchbrach. „In seinen Andern werdet ihr nichts mehr finden, was euch helfen kann. Doch sein Blut fließt noch immer.“ Sie lächelte und entblößte dabei zwei Reihen gelblicher, schiefer Zähne.

© by LilórienSilme 2015

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