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Kapitel 11

 

~ Bohemian Rhapsody

 

Is this the real life?

Open your eyes,

Look up to the skies and see

 

Der erste Drehtag der Zwerge fand offiziell am 28. März statt. Vorher hatte man bereits die Szenen mit Gollum abgedreht, damit Andy Serkis sich nun vollkommen auf seine Aufgabe als 2nd Unit Director konzentrieren konnte. Bisher hatte er noch nicht allzu viel zu tun gehabt, doch sobald Peter mit den Dialogen in Beutelsend durch war, würde Andy den Rest übernehmen.

Einen Tag vor Drehbeginn hatte es außerdem eine kleine Zeremonie gegeben, an der jeder teilzunehmen hatte. Ihr Chef Richard hatte darauf bestanden, dass auch Joe mit in die Halle kam und zusah.

Dabei hatten die Māori ein Willkommensritual vollzogen, bei dem die Schauspieler und ihre Familien vor der Halle hatten warten müssen, bis man sie hereinbat. Der Anführer der Māori hatte dann einen Ast auf den Boden gelegt, den Richard Armitage hatte aufheben müssen, ohne den Augenkontakt zu unterbrechen. Dies sollte seine friedlichen Absichten symbolisieren. Danach waren Lieder gesungen und ein Segensspruch gesprochen worden.

Joe hatte in der Schule mal einen Kurs für Te Reo Māori besucht, doch das war schon so lange her, dass sie nur zwei Sachen verstanden hatte: „Für die, die bereits den Schleier der Dunkelheit hinter sich gelassen haben.“ Und Richard hatte geantwortet: „Möge eure Reise sicher sein.“

Das hatte sie wieder schmerzlich an ihren Verlust erinnert und sie hatte die Halle verlassen müssen. Dabei war sie an Richard und den Weta-Leuten vorbeigekommen, die einen der Scale-Doubles in ein Ork-Kostüm gesteckt hatten, was ausschließlich mechanisch funktionieren sollte. Am übernächsten Tag hatte sie erfahren, dass Andy in seiner Gollum-Wut so auf das arme Wesen eingedroschen hatte, dass die Technik komplett zerstört worden war. Richard und seine Leute hatten daraufhin eine Nachtschicht einlegen müssen, um den Ork für den nächsten Tag wieder fit zu machen.

Nun war jedoch alles, was Gollum zu tun hatte, im Kasten und die Zwerge sollten nach Beutelsend kommen. Allerdings fragte Joe sich immer noch, wie dreizehn groß gewachsene Männer, ein etwas kleinerer Mann und ein riesengroßer Zauberer in dieses winzige Set passen sollten. Und sie war neugierig darauf, wie man Gandalf größer als die anderen darstellen würde. Die Technik, die sie beim Herrn der Ringe benutzt hatten, würde bei 3D nicht mehr funktionieren.

Dass sie das schneller herausfinden sollte, als ihr lieb sein konnte, konnte sie nicht ahnen. Doch bereits am ersten Drehtag in Beutelsend um die Mittagszeit wurde wieder ihre Bürotür geöffnet. Sie war gerade dabei, das Kampfoutfit für Thranduil fertig zu zeichnen, als Pete höchstpersönlich den Raum betrat. Sie hatte damit gerechnet, dass es Graham oder einer der beiden Richards war, deswegen blickte sie nicht einmal auf, als die die Tür hörte. Doch dann sprach Pete sie an. Erschrocken für sie zu ihm herum, schon in der Annahme, ihre Kündigung in seinen Händen zu sehen.

Beruhigend hob er beide Hände hoch und kam langsam auf sie zu, als wäre sie ein scheues Tier, dem man sich nur äußerst bedächtig nähern durfte. „Entschuldige“, sagte er, „ich wollte dich nicht erschrecken.“

Nervös legte sie den Stift weg, den sie gerade noch in der Hand gehalten hatte. „Schon gut“, hauchte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Diese typische Abwehrhaltung war ihr schon so in Mark und Bein übergegangen, dass sie darüber gar nicht mehr nachzudenken brauchte.

Peter bemerkte das natürlich, doch er wusste ja, dass sie ein wenig seltsam war. Deswegen ignorierte er es. „Ich bräuchte dich am Set“, sagte er unverblümt. „Wir haben ein kleines Problem mit dem Mikros.“

„Bitte?!“ Joes Kinnlade klappte herunter. Hatte sie das gerade richtig gehört? Aber sie konnte nicht mit zum Set kommen. Sie musste arbeiten und sich verstecken und... Arbeiten! Aber vor allem musste sie sich hier unten verstecken. Sie konnte unmöglich mit in die B Stage kommen. Sie würde nur irgendwas kaputt machen und dann würde der komplette Drehplan durcheinander kommen, der Film könnte nicht rechtzeitig fertig werden und sie wäre für all das verantwortlich. Da konnte sie sich ja gleich von einer Klippe stürzen.

„Nein!“, sagte sie daher entschieden und wunderte sich selbst ein bisschen darüber. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Normalerweise war sie bei so etwas nicht so mutig. Vielleicht war sie ja krank.

Auch Pete bemerkte ihre neue Seite, wunderte sich kurz, doch dann verwarf er den Gedanken wieder. Er musste sich jetzt um andere Sachen kümmern. „Das war eigentlich keine Frage“, sagte er daher und kam auf sie zu. Sie wich leicht vor ihm zurück, als hätte sie Angst vor ihm, und das sorgte dafür, dass sein Blick wieder weicher wurde. „Warum willst du nicht mitkommen? Richard hat sicher dafür Verständnis, wenn ich ihm das erkläre. Aber ich brauche wirklich jemanden, der sich mit den Kostümen auskennt, jemand, der schnell reagieren und etwas reparieren kann, wenn es nötig ist. Und du bist genau die Richtige dafür.“

„Wieso?“

„Weil du fast alle Kostüme mit entworfen hast.“ Er zeigte auf die Zeichnungen an den Wänden. „Das hier ist dein Leben. Niemand kennt sich besser damit aus als du. Nicht Richard, nicht Ann und auch nicht Bob. Ich hab dich ins Team geholt, weil mir deine Arbeiten unglaublich gut gefallen haben. Und sogar Allan und John mochten deine Zeichnungen. Du hast ein unglaubliches Talent und ich sehe nicht ein, dass du es hier unten verschwendest.“

Das hatte gesessen. Joe fühlte einen Stich im Herzen und taumelte einen Schritt zurück, bis sie an die Kante vom Schreibtisch stieß. Etwas Ähnliches hatte sie schon einmal gehört. Doch wo? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Sie wusste nur noch, dass es sehr weh getan hatte danach.

Sie musste sich an der Tischplatte festhalten, um nicht daran herunter zu rutschen, denn ihre Knie waren auf einmal sehr weich geworden. Pete interpretierte das falsch, kam auf sie zu und legte ihr einen Arm um die schmalen Schultern. Selbst neben ihm, der nicht besonders groß war, wirkte sie klein. „Tut mir leid“, sagte er ehrlich. „Das war vielleicht etwas hart gesagt.“

Doch Joe schüttelte mit dem Kopf. „Nein“, flüsterte sie, „du hast Recht.“

„Hab ich das?“ Überrascht zog er eine Augenbraue hoch. „Ich meine: Natürlich hab ich das! Und jetzt komm. Ich möchte weiter machen.“ Und damit packte er sie kurzerhand einfach am Handgelenk und zog sie mit sich.

Hätte sie gewusst, dass sie heute ans Set gehen würde, hätte sie sich vielleicht etwas anderes angezogen, denn im Atelier war es egal, wie sie herumlief. Ihre Haare hatte sie zu einem unordentlichen Knoten zusammengebunden, in dem noch ein Bleistift steckte. Als Oberteil trug sie ein enges Tanktop, da es in ihrem Büro doch meist recht warm war. Außerdem war gerade Sommer. Ihre schlanken Beine steckten allerdings in einer weiten grauen Jogginghose, die alles andere als salonfähig war. Auf dem Weg zur B Stage kam sie sich vor wie ein unartiges Kind, das man zum Direktor brachte. Und irgendwie wurde sie auch das Gefühl nicht los, dass man hinter ihrem Rücken über sie kicherte.

Mit eingezogenem und gesenktem Kopf huschte sie hinter Peter her, der mittlerweile wieder ihre Hand losgelassen hatte, nachdem er festgestellt hatte, dass sie nun freiwillig mitkam. Ob nun, weil sie es wollte, oder weil sie Angst hatte, sonst gefeuert zu werden, wusste er nicht. Doch es war ihm in diesem Moment auch egal. Er wollte nur sichergehen, dass alles glatt lief. Er würde später noch einmal mit ihr in Ruhe darüber reden.

Wenn er es recht bedachte, konnte sie ihm schon ein wenig leidtun. Immerzu wirkte sie wie ein Hund, den man zu oft geschlagen hatte. Und wenn man sie ansprach, zuckte sie erst einmal zusammen und starrte einen dann an wie ein Auto. Zu gern hätte er gewusst, was in ihrer Vergangenheit schief gelaufen war, um ihr zu helfen. Doch selbst Richard hatte bisher nichts dergleichen aus ihr herausbekommen können. Und den hatte er schon oft zu seiner seltsamen Mitarbeiterin befragt.

Fran hatte den Verdacht geäußert, dass sie früher von ihrem Vater oft verprügelt sein musste, doch das passte nicht dazu, dass sie sich Frauen gegenüber genauso scheu verhielt. Auch die Tatsache, dass niemand etwas über ihre Familie wusste, legte jedoch den Verdacht nah, dass dort etwas im Argen lag. Hatte sie überhaupt eine? War sie vielleicht sogar verheiratet? Aber sie trug keinen Ring. Sie trug überhaupt keinen Schmuck. Sie hatte nicht mal etwas Persönliches in ihrer Tasche, die sie immer mit sich herumschleppte. Nur den Zeichenblock, Stifte und ihr Portmonee. Nicht einmal ein Handy besaß sie. Und ihr Festnetztelefon hatte sie sich laut Philippa auch nur angeschafft, damit man sie im Notfall zu Hause erreichen konnte.

Mit gerunzelter Stirn betrat Peter das Set von Beutelsend. Die Schauspieler steckten bereits alle in ihren Kostümen und schwitzten. Einige hatte man an die automatische Kühlung angeschlossen, doch leider war da nicht für alle gleichzeitig Platz.

Um die Temperaturen unter den gewaltigen Kostümen und Prothesen einigermaßen erträglich zu machen, hatte man extra einen Kühlanzug entworfen, der noch unter dem Fatsuit getragen wurde. Wenn er an die Kühlanlage angeschlossen war, pumpe er kaltes Wasser durch feine Schläuche im Inneren und sorgte dafür, dass niemand überhitzte. Außerdem reichte man den Zwergen elektrolytische Getränke, um zu verhindern, dass sie alle paar Minuten auf die Toilette rennen mussten. Das war in ihren Kostümen beinahe unmöglich. Man hätte sie komplett ausziehen müssen und das hätte viel zu lange gedauert. Doch da sie unaufhörlich schwitzten, mussten sie trotzdem ausreichend Flüssigkeit zu sich nehmen.

Als Joe ebenfalls die Stage betrat, spürte sie gleich, wie ihr der Schweiß ausbrach. Dieses Mal lag das jedoch nicht nur an der Tatsache, dass sie auf einmal von gefühlt tausend Augenpaaren auf einmal gemustert wurde, sondern auch daran, dass es hier einfach viel zu warm war. Sie wäre am liebsten sofort wieder umgedreht.

Doch leider war Peter schneller. Er spürte, dass sie dabei war, auf dem Absatz kehrt zu machen, und packte sie wieder am Handgelenk. Mit sanfter Gewalt zog er sie zum Set herüber. „Das hier“, sagte er und deutete auf das rechte Set, das größer wirkte, „ist das Set, was in Originalgröße gebaut wurde. Und das andere dort links ist das, was in einem kleineren Maßstab gebaut wurde, um Gandalf größer wirken zu lassen. Diese beiden Kameras hier sind miteinander verbunden. Die Bewegung, die die eine Kamera macht, vollzieht auch die andere. Nur, dass die linke Kamera 25% näher an der eigentlichen Szene dran ist, um Ian später größer wirken zu lassen.“

Er erklärte ihr außerdem, dass die Schauspieler alle einen Knopf im Ohr haben mussten, um mit Ian, der ja am anderen Set saß, kommunizieren zu können. „Doch hier haben wir ein Problem“, schloss er und zog Joe mit sich in das große Set hinein. „Wir können die Kabel nicht richtig verstecken, ohne dass wir etwas kaputt machen. Und da kommst du ins Spiel!“ Seine Augen glitzerten dabei so freudig, dass sie sich beinahe davon anstecken ließ.

„Und was soll ich jetzt tun?“, fragte sie stotternd und sah sich ängstlich um. Das Set war einfach wunderschön, gar keine Frage. Doch dass hier so viele Leute herumstanden, dass alles so eng war und sie nicht wusste, wohin sie gehen sollte, zusätzlich zu der Angst, etwas kaputt zu machen, ließ sie richtig nervös werden. Ihre Handflächen waren schon wieder klatschnass, ihr Puls raste und das Blut rauschte ihr so laut in den Ohren, dass sie sich anstrengen musste, Peter überhaupt zu verstehen.

Dann betraten sie den Speisesaal. Graham entdeckte sie als erster und winkte ihr fröhlich zu. Sie konnte das allerdings nicht erwidern, weil sie viel zu beschäftigt damit war, nirgendwo dran zu kommen.

Peter bemerkte, dass Graham sie offenbar schon zu kennen schien, und winkte ihn nach vorne. Er platzierte den großen Mann direkt neben die kleine Frau. „Du sollst jetzt dafür sorgen“, erklärte er ruhig, „dass man das Kabel von dem Ohrstecker nicht mehr sieht. Kannst du das vielleicht irgendwie unter den Mantel fummeln?“ Demonstrativ reichte er ihr das genannte Equipment und verschwand dann ohne ein weiteres Wort.

Zitternd nahm Joe das Kabel entgegen. Dann suchten ihre Augen das Kostüm nach einer Möglichkeit ab, bis sie feststellen musste, dass Pete Recht hatte. Sie würde es unter den Mantel stecken müssen.

Sie kniete sich vorsichtig neben Graham, der versuchte, möglichst still zu stehen. Am liebsten hätte er sich auch an die Kühlmaschine anschließen lassen, doch das war jetzt nicht mehr möglich. Er spürte, wie ihre kleinen Hände sich an seinem Kostüm zu schaffen machten, und das Ende des Kabels vorsichtig nach oben schoben. Dann richtete sie sich wieder auf, suchte einen Hocker, fand ihn, stellte ihn neben ihn und stieg darauf, sodass sie an seinen Kragen kommen konnte.

Er war noch immer ein gutes Stück größer als sie und sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um daran zu kommen. Doch schließlich gelang es ihr. Die Haare seiner Perücke waren ihr jedoch noch im Weg, als sie versuchte, von den Ohren unter den Stoff des Hemdes zu kommen. Viel sehen konnte sie nicht. Vorsichtig schob sie daher zwei Finger unter die künstliche Haarpracht und hob sie ganz sachte an.

Dabei betete sie die ganze Zeit über, dass nichts kaputt gehen würde. Es war schon schlimm genug für sie, überhaupt am Set zu sein. Und jetzt auch noch so im Mittelpunkt zu stehen, während die anderen darauf warteten, dass sie endlich fertig wurde, ließ ihr den Schweiß über ihr Gesicht laufen. Sie zitterte leicht und hielt daher lieber vor Aufregung den Atem an.

Endlich hatte sie das Ende erreicht! Ganz zärtlich angelte sie nach dem Ohrstecker, während sie sich auf die Zunge biss und dachte: Und jetzt ganz, ganz langsam. Nicht, dass noch etwas… Oh nein!

Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da hörte sie auch schon das leise Klingeln von Metall, was auf dem Fußboden auftraf. Sofort drehten sich alle Köpfe in diesem winzigen Hobbitbau zu ihr um und sahen sie an. Auch Graham wollte sich umdrehten, wurde aber daran gehindert, dass sie ihn noch am Bart festhielt. Dabei löste sich davon ein Teil und Joe stand plötzlich auf dem Hocker und hielt ein Stück von Dwalins Bart in der Hand.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Instinktiv suchte sie nach einem Fluchweg. Doch da sich mittlerweile dreizehn Zwerge, ein Hobbit und ein imaginärer Zauberer in diesem kleinen Raum aufhielten, konnte man sich hier noch nicht einmal umdrehen, geschweige denn unbemerkt davon kommen.

Sie hörte nicht, dass sich Graham mehr oder weniger ernst gemeint über den leichten Schmerz beschwerte, der das Abreißen des künstlichen Bartes mit sich brachte, denn das Blut rauschte ihr nun wieder stärker in den Ohren. Panisch riss sie die Augen auf, ließ alles fallen, was sie gerade noch festgehalten hatte und schlug die Hände vor den Mund. Dabei schossen ihr sofort die Tränen in die Augen. Jetzt hatte sie alles ruiniert. Der erste Drehtag mit den Zwergen endete gleich in einer fulminanten Katastrophe. Vermutlich würde das nun dafür sorgen, dass sich alle anderen Drehtage nach hinten verschieben, die Produktion ins Stocken geriet und der Veröffentlichungstermin nicht eingehalten werden konnte. Und sie hatte Schuld!

„Oh nein“, wisperte sie, während sie merkte, dass sich ihre Kehle aus lauter Panik immer mehr zuschnürte. Was würde Richard dazu sagen, dass sie ein Kostüm zerstört hatte? Und was, beim allmächtigen Herrn im Himmel, würde Pete dazu sagen, dass sie die Dreharbeiten behinderte, wenn nicht sogar zum Erliegen brachte? Sie würden sie ganz sicher sofort rausschmeißen. Dann würde sie, wenn sie ihren Job verlor, auch ganz sicher keinen neuen mehr finden, wenn sie erst einmal eine schlechte Bewertung von Weta bekommen hatte. Danach stellte einen doch niemand mehr ein.

Und was passierte, wenn sie kein Geld mehr verdiente? Dann würde sie ihr Haus verkaufen müssen. Sie würde das Erbe ihrer Mutter verlieren und sie und ihre beiden armen Kater und ihre Schildkröte müssten auf der Straße wohnen.

Unfähig sich zu rühren stand sie einfach nur da, starrte Graham entgeistert an, weinte und hielt sich immer noch die Hände vor den Mund. Der große Schotte hingegen schien zu merken, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Er musste sich sehr zusammenreißen, nicht laut zu lachen bei dem Gesichtsausdruck, den sie machte. Es sah beinahe so aus, als hätte sie gerade die Filmrolle mit der einzigen Fassung des Films im Meer versengt. Dabei hatte sich doch nur eines von den Metallplättchen gelöst.

Suchend glitten seine Augen über den Fußboden und fanden es schließlich zu ihren Füßen, wo es beinahe unter den Resten seines Bartes vergraben wurde. Mühsam beugte er sich in seinem Kostüm nach unten und versuchte mit seinen künstlich vergrößerten Händen nach dem Teil zu greifen. Irgendwie schaffte er es auch und hielt es schließlich triumphierend hoch. „Ist doch nur ein kleines Metallplättchen“, sagte er. „Nicht der Rede wert. Es wird niemandem auffallen, dass es fehlt.“

Bevor Joe etwas erwidern konnte, dass er ja gar keine Ahnung habe und sie nun sicher gefeuert werden würde, kam Pete zu ihnen herüber. Er hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt. „Alles in Ordnung?“

Joe schüttelte wild den Kopf, doch Graham kam ihr zuvor und sagte: „Joe hat mir ein Teil vom Bart abgerissen, aber es nichts passiert.“

„Das kleben wir wieder an“, sagte Pete und winkte eine der Makeup-Leute zu sich. „Sitzt das Mikro?“

„Nein“, sagte Graham und lächelte warm. „Dazu sind wir noch nicht gekommen.“ Die Visagistin machte sich daran, das fehlende Stück wieder in den Rest seines Gesichtes zu integrieren, während Peter zu Joe ging. Er nahm ihre Hände von ihrem Mund und barg sie in seinen Pranken. „Alles in Ordnung mit dir? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

Anstatt einer Antwort warf sie nur einen panischen Blick auf Graham. Und als sie blinzeln musste, kullerten ihr neue Tränen die Wange herunter. Pete folgte ihrem Blick und verstand. Vorsichtig bugsierte er sie von dem Hocker herunter und aus dem Set hinaus. Dabei folgten ihnen vor allem die neugierigen Blicke von Aidan, der die junge Frau natürlich erkannt hatte. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, rammte ihm Mark einen Ellbogen in die Seite und sagte: „Kannst du mich einstöpseln?“

Draußen in der Halle atmete Joe erst einmal tief ein. Die etwas kühlere Luft hier draußen tat ihr gut. Doch beruhigen konnte sie sich nicht. Wieso hatte Pete sie mit nach draußen genommen? Wollte er sie lieber nicht vor all den Leuten feuern? Neue Tränen stiegen in ihr auf und ein fetter Kloß bildete sich in ihrem Hals, den sie auch mit aller Mühe nicht hinunterschlucken konnte. Sie wäre jetzt gern einfach so im Erdboden versunken.

Doch Pete dachte gar nicht an so etwas. Irgendwie tat sie ihm gerade furchtbar leid und er hatte sie auch nur herausgebeten, um in Ruhe mit ihr reden zu können. Also legte er wieder einen Arm um sie und sah sie von der Seite her an. „Ist alles in Ordnung?“

Zur Antwort schüttelte Joe den Kopf und er nickte nur zum Zeichen, dass er verstanden hatte. „Du musst dir keine Sorgen machen“, sagte er. „Es ist nichts kaputt gegangen, was man nicht wieder reparieren kann. Willst du wieder rein gehen?“ Doch auch dieses Mal schüttelte sie den Kopf, etwas heftiger als beim ersten Mal. „Wieso nicht? Hast du Angst?“

Es dauerte eine Weile, doch dann nickte sie zögerlich. Verwirrt sah er sie an. „Aber wovor denn? Ich weiß, diese Kerle sehen ziemlich roh und gewalttätig aus, am im Grunde ihres Herzens sind sie einfach nur große Kinder. Vor ihnen musst du keine Angst haben.“ Und weil sie nichts sagte, fügte er noch hinzu: „Und vor mir auch nicht.“

Nun sah sie ihn endlich an. Hatte er etwa ihre Gedanken erraten?

„Aha!“, machte er triumphierend. „Du hast also wirklich Angst vor mir? Aber wieso das denn?“ Er war wirklich verwirrt. Bisher hatte er noch niemandem Angst gemacht. Jedenfalls nicht, dass er wüsste. Wirkte er so einschüchternd auf sie? Darüber musste er dringend mit Fran sprechen.

Dann ging ihm ein Licht auf. Er drehte sich zu ihr hin und packte sie bei den Schultern, sodass sie ihm in die Augen sehen musste. „Du hast Angst, dass ich dich rausschmeiße oder es Richard sage, wenn du etwas falsch machst, oder?“ Wieder nickte sie zögerlich. „Aber Joe! Wieso sollte ich das denn tun? Wenn du einen Fehler machst, dann sag ich es dir und du machst es beim nächsten Mal besser. Für das Abreißen eines Bartes wird niemand auf die Straße gesetzt. Das musst du mir glauben. Ich brauche dich doch.“ Dabei sah er sie so liebevoll an, dass es ihr fast leid tat, sich so benommen zu haben.

Na toll, dachte sie von sich selbst genervt. Jetzt hast du auch noch ein schlechtes Gewissen dazu bekommen. Herzlichen Glückwunsch, Joe Taylor! Doch sie sagte nichts dergleichen. Stattdessen versuchte sie sich nun an einem Lächeln, um ihm zu zeigen, dass seine Worte gewirkt hatten. Sie glaubte zwar noch nicht hundertprozentig an das, was er gerade gesagt hatte, doch sie wollte nicht, dass er unglücklich war. Also ließ sie sich wieder ins Innere des Hobbitbaus ziehen und beendete ihre Arbeit an Grahams Kostüm.

© by LilórienSilme 2015

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