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~ Ankunft in Mittelerde

 

Der Wind blähte die Segel auf und sie sahen in den frühen Morgenstunden aus wie riesige weiße Wolken am Himmel. Der Himmel selber funkelte in einem wundervollen hellen Blau. Die Luft war klar. Aber kalt. Ich fühlte ein Unbehagen in mir aufsteigen, als ich den Hafen am Horizont sah. Was würde mich dort erwarten? Ich wusste es nicht. Ich fühlte mich alleine gelassen. Warum war nur niemand bei mir?

 

Als das Schiff in den Hafen einlief, konnte ich Elben meines Volkes sehen. Mit traurigem Blick registrierte ich, dass sie das Schiff, was ich verlassen würde, benützen würden, um nach Valinor zu segeln. Wie gerne würde ich wieder mit ihnen zurück reisen. Denn ich hatte schreckliche Angst vor dem, was mir bevor stand. Was, wenn ich versagen würde? Was, wenn ich alle enttäuschen würde?

 

Doch dann begriff ich, dass ich das Wort „Ich“ viel zu häufig gebrauchte. Es ging doch nicht nur um mich. Es ging um das Land, in dem ich geboren worden war. Es ging um das Land, in dem ich aufgewachsen war, jenseits des großen Meeres. Und es ging einzig und allein um die Wesen, die in beiden Ländern wohnten. So lange ich mir nur Mühe mit dem gab, was ich zu erfüllen hatte, würde ich niemanden, und am wenigsten meine Eltern enttäuschen, das wusste ich. Ich musste mich nur anstrengen und alles versuchen, was es zu versuchen gab. Und so lange ich das tun würde, konnte gar nichts schief gehen.

 

Es war niemand da, der mich nach Hause bringen würde. Ich musste wohl alleine meinen Weg finden. Also verstaute ich all meine Sachen in den Satteltaschen von Alagos’ Sattel und steig auf. Círdan, der Schiffsbauer, betrachtete mich mit großem Interesse. Er war der einzige Elb, den ich je mit Bart sah. Denn er war wirklich mehr als alt. Er war wohl schon alt gewesen, vor dem Zeitalter der beiden Bäume.

 

Einsam machte ich mich auf den Weg in meine Heimat. Alagos war unruhig, denn sie kannte die Umgebung nicht und war wahrscheinlich verstört von der Kälte dieses Landes. Mit der Ausnahme, dass es Herbst war hier in Mittelerde, war es wirklich ein kaltes Land im Vergleich zu Valinor.

 

Ich kannte den Weg nicht, so musste ich mich an mein Gefühl halten. Es würde noch eine Weile dauern, bis ich dort ankommen konnte, wo mein Herz hingehörte. Erst hielt ich mich südlich. Ich ritt zwischen dem südlichen Ausläufer der Blauen Berge und den kleineren Turmbergen hindurch. Denn das erschien mir als der beste Weg. Aber ich beeilte mich wenig. Ich sog jedes neue Bild, das sich mit bot, mit großer Neugier ich mich ein. Ich wollte ein bisschen alleine in meiner Heimat umherwandeln. Denn ich kannte sie schließlich nicht genau.

 

Die erste Nacht verbrachte ich auf freiem Feld. Ich hatte mir ein kleines Feuer angezündet, denn es frierte mich sehr. Alagos hatte sich hinter mich gelegt und gab mir zusätzliche Wärme. So schlief ich, an ihren warmen Körper gelehnt ein. In der Nacht träumte ich von Lothlorien. Ich sah seine goldenen Blätter im Winde wiegen und ich sah meine Eltern, wie sie mich willkommen in ihre Arme nahmen.

 

Am nächsten Tag erreichte ich abends einen Fluss, der, wie ich später erfuhr, den Namen Branduin oder Brandywein trug. Er führte zum Meer. Doch er kam aus einer Gegend, die noch völlig unbekannt war, aber bald durch sehr viel Unruhe gestört werden würde. Ich überquerte ihn an der Sarnfurt, ging dann aber sofort wieder abseits des Weges. Ich wollte vorerst noch niemandem begegnen. In der Nähe des Flusses, unter einem einsamen Baum, schlug ich mein Lager auf.

 

Wieder träumte ich von Lothlorien, dem ich nun immer näher kam. Doch diese Nacht war Haldir in meinen Träumen. Er sah aus, wie damals, als ich ihn verlassen musste. Er nahm mich in seine Arme, doch ich fühlte nicht die Liebe von damals.

 

Als ich am Morgen erwachte, fragte ich mich, wie er wohl jetzt aussehen würde. Hatte er sich viel verändert oder war er noch der Mann von damals? Ich war noch so jung, als ich ging. Deswegen kam in mir die Furcht auf, dass ich ihn nur damals liebte, weil er so unerreichbar für mich war. Er war mehrere tausend Jahre älter als ich und noch unverheiratet. Vielleicht hatte mich meine Mutter aus diesem Grund mit ihm verlobt.

 

Zwei Nächte später erreichte ich Hulsten und damit auch den Weg über den Caradhras. Ich beschloss, noch diese Nacht am Fuße des Berges zu verbringen und dann mit dem Morgen über den Pass zu reiten.

 

Der Morgen brach kalt und klar an. Solch klirrende Kälte hatte ich noch nie erlebt. Der Himmel war über blau und nicht die kleinste Wolke zeigte sich dort. Ein eisiger Wind blies mir ins Gesicht, als ich durch den Schnee ritt und ich zog meinen Mantel noch enger um mich. Meine Hände waren blau vor Kälte und ich zitterte am ganzen Körper. Doch es war nicht nur die eisige Kälte, die mich zum Zittern brachte. Es war auch die Angst, die so aus mir sprach. Denn wenn ich diesen Pass überquert hatte, würde ich meinen Eltern gegenüber stehen. Und diesen Gedanken konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ertragen.

 

Als ich abends die Wälder meiner Heimat unter mir liegen sah, überkam mich ein Gefühl der Übelkeit. Wollte ich überhaupt zurück nach Hause? Wollte ich das Schicksal auf mich nehmen, was für mich vorgesehen war? Ich wusste, ich hatte noch die Möglichkeit umzukehren und konnte all das vergessen, was passiert war.

 

Doch dann fiel mir mein Traum wieder ein. Nun zitterte ich wieder vor Angst. Ich hatte Angst, dass das, was ich vor vielen, vielen Jahren gesehen hatte, wahr werden würde. An mir allein lag es nun, die Welt zu retten.

 

Bei diesem Gedanken kam ich mir wie ein Held aus einer alten Sage vor. Doch so fühlte ich mich in keinem Fall. Ich war kein Held. Ich war jemand, der Angst hatte, seiner wahren Familie gegenüber zu treten. Wie konnte ich da die Welt vor einem bösen Herrscher retten? Wie nur?

 

~*~*~*~

 

Die Blätter lagen schon am Boden und bildeten einen goldenen Teppich, den Alagos nun aufwühlte, als sie ihre Hufe voreinander setzte. Unheimliche Stille umgab mich und ich hatte kurz die Befürchtung, dass niemand mehr hier war, dass ich jetzt ganz alleine auf der Welt war.

 

Doch dann bemerkte ich eine Bewegung zwischen den stolzen Stämmen. Ich drehte mich in diese Richtung und konnte so grade noch hören, wie ein Pfeil von einer Sehne geschossen wurde. Ohne zu überlegen warf ich mich auf den Boden. Alagos stieg sofort und hätte mich wohl tot getrampelt, wenn ich mich nicht zur Seite gerollt hätte. Als der Pfeil in einem Baum stecken blieb, erhob ich mich, mein Schwert in der Hand.

 

„Wer betritt das Reich von Galadriel und Celeborn ungefragt?“, rief eine Stimme aus den Baumkronen zu mir herunter. Ich kannte die Stimme nicht, wusste aber wohl, woher sie gekommen war. Ich griff nach meinem Bogen und nach einem Pfeil und schickte den Pfeil in die Richtung der Stimme. Doch ich hatte nicht auf den Sprecher gezielt, denn mein Pfeil hätte unweigerlich getroffen. Stattdessen schlug er direkt neben seinem Kopf in den Baumstamm.

 

„Wer seid Ihr?“, fragte nun eine andere Stimme. Diese Stimme kannte ich aber allerdings sehr wohl. Sie klang sehr fragend und misstrauisch. Es war Haldir, der direkt hinter mir stand. Ich drehte mich zu ihm um und zog die weite Kapuze ab, die ich über mein Haupt geworfen hatte. Unwissend blickte er mich an.

 

„Mein Name ist Lilórien Silme“, sagte ich und ich sah, wie die Erkenntnis in das Gesicht meines Verlobten Einzug hielt. „Und ich komme, um meine Eltern, Galadriel und Celeborn, zu sehen.“ Andere Elben waren, während ich gesprochen hatte, von ihren Plätzen in den Bäumen und zwischen den Stämmen zu uns getreten und verneigten sich jetzt ehrfürchtig vor mir. Haldir lächelte mich an.

 

„Meine Herrin“, sagte er leise und verneigte sich ebenfalls vor mir. Doch ich hob meine Hand unter sein Kinn und zwang ihn dazu, mich anzusehen. Ich lächelte ihn freundlich an und er schloss mich in seine Arme. Er war alt geworden in den vielen Jahren und sein Haar hatte einen gräulichen Ton angenommen. Doch hatte er noch immer diese Würde, die mich schon vor mehr als 4000 Jahren verzaubert hatte. Er küsste mich auf die Stirn.

 

Nach einiger Zeit befahl er seinen Leuten, sich wieder an ihre Plätze zu begeben. Er wollte mich persönlich nach Hause führen. Und so hatten wir Zeit, uns wieder ein bisschen besser kennen zu lernen. Ich erzählte ihm von Valinor und er wollte alles darüber wissen. Er brachte mich in ein talan und dort saßen wir bis die Sonne sich geneigt und wieder aufgegangen war.

 

„Ich freue mich so, dich wieder zu sehen“, sagte er und nahm meine Hand. Er sah mir tief in die Augen und ich wusste, dass er die Sterne in ihnen sehen konnte. Ich fühlte mich geborgen in seiner Gegenwart und endlich hatte ich keine Angst mehr vor meinem Schicksal. Denn jetzt wusste ich, dass er an meiner Seite sein würde, egal was auch geschehen würde.

 

Er begleitete mich nach Caras Galadon und ließ mich vor den Grenzen der Stadt alleine. Zum Abschied gab er mir den ersten Kuss meines Lebens und noch viele Jahre später erinnerte ich mich an diesen Moment. Wie sehr ich ihn in diesem Augenblick doch liebte!

 

Doch nun stand ich ganz alleine vor der Aufgabe, mich meinen Eltern zu stellen. Ich kam mir vor wie ein Verbrecher, der nach langer Zeit im Gefängnis wieder nach Hause kehrt und genau weiß, dass er etwas Falsches getan hat. Meine Schuld bestand darin, dass ich so lange nicht da war für meine Eltern, sie nicht unterstützt hatte bei dem Aufbau ihres Reiches, was doch recht prachtvoll geworden war. Überall liefen Elben herum, grüßten mich, gingen ihrer Arbeit nach. Große, wunderschöne Wohnungen thronten in den Wipfeln der mächtigen Bäume mit ihren silbernen Stämmen. Und Blumen blühten zu ihren Füßen.

 

Ich ließ mir den Weg zu dem talan meiner Eltern weisen, verbarg aber, wer ich war. Alleine ging ich die lange Treppe hinauf und mit jeder Stufte klopfte mein Herz ein wenig lauter und schneller, bis ich das Gefühl hatte, es würde mir jeden Moment aus der Brust springen. Dann stand ich vor der großen Flügeltür, die mit Blumenranken bemalt war. Ein Schimmern drang unter der Tür hindurch.

 

Zwei Wächter standen an den Seiten der riesigen Tür. Als sie mich sahen, öffneten sie mir. Zögerlich trat ich ein. Und dort saßen sie: Meine Eltern. Meine Mutter war noch schöner geworden in all den Jahren. Ihre Haare hatten immer noch diese goldene Farbe, für die unsere Familie so berühmt war. Aber mein Vater war alt geworden. Grau war sein Haar, aber würdevoll seine Erscheinung und gütig sein Blick. Plötzlich wusste ich, dass ich Manwe und Varda nur so sehr liebte, weil sie mit meinen Eltern so große Ähnlichkeit hatten.

 

„Wer begehrt?“, fragte meine Mutter, denn sie schien mich nicht zu erkennen. Das war allerdings auch kein Wunder. Langsam ging ich auf die zu. Als sie mich erkannten, erhoben sie sich von ihren Stühlen, die wie Throne aussahen, und kamen mit ausgebreiteten Armen auf mich zu.

 

„Meine liebste Tochter“, sagte mein Vater fröhlich. Tränen schwammen in seinen Augen. Auch meine Mutter weinte. Und als ich sie so weinen sah, konnte auch ich nicht mehr an mich halten. Schluchzend stürmte ich auf die beiden zu und ließ mich einfach in ihre Arme fallen. Kräftig drückten sie mich an sich und küssten mein silbernes Haar. Heiße Tränen rannen über mein Gesicht.

 

„Mutter. Vater.“ Endlich war ich zu Hause.

Kapitel 1

© by LilórienSilme 2015

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