LilórienSilme
~ Fanfiction-Autorin ~
~ Heimkehr
Mittelerde zu verlassen war mir weit weniger schwer gefallen, als ich eigentlich gedacht hatte, dass es mir fallen müsste. Ich hatte zwar die Kinder meiner Nichte, meine Neffen und meinen Vater zurückgelassen, doch wenn ich ehrlich zu mir selbst war, hatten sie mich nie gebraucht. Arwens Kinder waren ohne mich aufgewachsen und Elladan und Elrohir hatten von meinem Schwager Elrond die Aufgabe erhalten, weiterhin ein Fels in der Brandung zu sein.
Nur wenn ich an meinen Vater dachte, wurde mein Herz schwer. Er war vermutlich nun ebenso alleine, wie ich mich fühlte. Doch auch bei ihm wusste ich, dass es nichts geändert hätte, wenn ich geblieben wäre. Mittelerde war kein Ort mehr für Elben. Und wenn Celeborn, der einstige Herr von Lothlorien, irgendwo das Ende seines Lebens verbringen wollte, dann gewiss dort, wo er die meiste Zeit gelebt hatte und wo seine beiden Töchter geboren worden waren.
Als ich an Celebrían, meine Schwester, dachte, kam mir das Meer plötzlich kalt und leer vor. Hatte Elrond sie vor hundertzwanzig Jahren wiedergefunden, als er nach Valinor gesegelt war? Oder war meine Schwester bereits in Mandos’ Hallen eingekehrt?
Die Wellen warfen das kleine Schiff, auf dem ich mich befand, langsam hin und her. Auf eine seltsame Art und Weise beruhigte es mich, doch trotz allem fand ich nicht die nötige Gemütslage um erneut schreiben zu können. Es war mir zu einem Segen geworden, denn so konnte ich meine Gedanken auf Pergament bannen und hielt sie so, zumindest für eine kurze Zeit, aus meinem Kopf fern. Es machte es mir leichter, alles neutral zu betrachten, als hätte ich dies alles gar nicht selbst erlebt, sondern las darüber nur in einem Buch.
Jeden Tag war mir etwas Neues eingefallen und ich strich ganze Absätze, fügte Sätze hinzu oder verwarf gleich das gesamte Blatt. So hatte ich, als nach einer Ewigkeit endlich die ersten Möwen über dem Mast kreisten, schon eine recht gute Fassung meiner Reise bis hierher geschrieben. Die Seefahrt allerdings war nicht günstig dafür. Da ich allein segelte, verlangte es von Zeit zu Zeit, dass ich den Kurs korrigierte oder andere Sachen tat, die mein Boot über Wasser hielten. Ich weiß auch nicht, wie lange die Reise dauerte, da ich hier draußen jegliches Zeitgefühl verlor.
Doch dann sah ich es endlich. Es hatte an diesem Tag furchtbar geregnet und das Meer war aufgewühlt und unruhig. Man konnte nicht sehr weit sehen, doch dank meiner feinen Nase roch ich, dass das Land nicht mehr weit war. Und plötzlich, als hätte man einen Vorhang bei Seite gezogen, verflog der Regenschleier und dahinter tauchte ein weißer Strand auf. Über ihm ragten Klippen auf, in die Stufen gehauen worden waren, um das grüne, hüglige Land dahinter zu erreichen. Über allem stand die Morgensonne. Sie schien mir ins Gesicht und begrüßte mich.
Als meine Zehen im seidenweichen Sand versanken machte mein Herz einen Hüpfer. Es war ein Gefühl wie wenn man von einer unendlich langen Reise müde und geschunden den Weg nach Hause findet und wieder in seinem eigenen Bett schlafen kann. Ein Seufzer entglitt mir und ich lächelte voller Freude.
Ich stieg nun ein paar ausgetretene Stufen, die man vor langer Zeit in den Stein gehauen hatte, hinauf, während meine Hände zitterten. Es konnte mir gar nicht schnell genug gehen, endlich eine vertraute Seele anzutreffen, doch der Strand war genauso verlassen, wie das grüne Land dahin. Mein Boot war das einzige, welches in der Bucht lag, und auch auf dem Sand waren keinerlei Fußspuren zu entdecken.
Entschlossen schob ich diesen Gedanken bei Seite. Schließlich konnte es ein Feiertag sein, wo ich doch nicht einmal wusste, welche Uhrzeit wir hatten. Sie waren mit Sicherheit alle in der Stadt oder beteten. Es gab hunderte vernünftiger Gründe, warum niemand nach Booten Ausschau hielt am Meer. Also ging ich weiter und mein Herz frohlockte mit jedem Augenblick mehr, den ich mich auf Valinor befand. Ich fühlte die Anwesenheit von etwas Größerem, was es in Mittelerde nicht gegeben hatte. Wie eine warme Hand, die sich um mein Herz legte und es lockte. Varda hieß mich zu Hause Willkommen.
Ich folgte dem seltsam vertrauten Gefühl, wie ich einem Weg folgen würde, wenn ich mich auf ihm befand. Da ich meiner Stute Alagos die Freiheit geschenkt hatte, lief ich nun barfuß, mein weniges Gepäck auf meinem Rücken. Mein langer Reisemantel war schon nach kurzer Zeit am Saum völlig zerrissen und meine Sohlen waren blutig und wund. Doch ich ignorierte den Schmerz. Es war mir egal, wie es mir ging. Das einzige, was zählte, war, dass ich so schnell wie möglich nach Hause kam. So folgte ich der Wärme immer weiter.
Tage- und nächtelang lief ich, ohne zu schlafen, ohne zu rasten. So schnell wie möglich wollte ich zurück. Die Einsamkeit erdrückte mich allmählich und wie hätte ich ihr anders entkommen können, als in der Gesellschaft meiner Familie? Wenn ich an sie dachte, wurde es mir ganz warm. So lange schon hatte ich auf meine Schwester und meine Mutter verzichten müssen. Außerdem sehnte ich mich nach einem Gespräch mit Varda.
Aus dem glücklichen Gefühl heraus schöpfte ich schier unendlich scheinende Kraft und schließlich, nach sieben Tagen, erreichte ich den Fuß des Götterberges. Doch was ich dann dort sah, ließ meine Schritte das erste Mal stocken. Mein Herz setzte für einen kurzen Moment aus und geriet erst stolpernd langsam wieder in seinen Rhythmus. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und mir traten die Tränen in die Augen, da ich nicht glauben konnte, was ich sah. Ich wischte mir über mein Gesicht, blinzelte, doch das Bild hatte sich nicht verändert. Ich stieß einen kurzen, ungläubigen Schrei aus.
Die Wächter, die vor Jahrtausenden hier gestanden und gewacht hatten, gab es nicht mehr. Niemand fragte mich nach meinem Begehr und meiner Herkunft. Alles, was einst an die Pracht der Valar erinnerte, war zerfallen und überwuchert von Gestrüpp. Es war als hätten die Götter keine Macht mehr.
Verwirrt wanderte ich durch verwachsene Gärten, schritt durch eingestürzte Torbögen und stieg über umgefallene Statuen. Es sah hier beinahe aus wie nach einer Schlacht, die niemand gewonnen hatte. Wieso nur war dies alles geschehen? Es sah aus, als hätte hier seit Jahrhunderten niemand mehr gelebt. Doch das konnte doch nicht wahr sein. Waren die Elben nicht mehr in der Lage, an die alten Götter zu glauben? Waren sie in ihrem eigenen Land vielleicht noch unerreichbarer, als sie es in Mittelerde gewesen waren?
Drei Tage benötigte ich für den Aufstieg, für den man sonst nur einen benötigte, denn immer befand sich ein Hindernis in meinem Weg, welches ich überwinden musste, oder die erneut in mir aufsteigenden Tränen nahmen mir die Sicht. Doch dann am Abend des dritten Tages, als die Sonne gerade hinter der Spitze des Berges verschwand und ihr letztes Leuchten auf dem Gipfel glitzerte, stand ich oben, vor dem Palast der Götter.
Ich konnte es kaum glauben: auch dieser war zerfallen. Die einst goldenen Tore waren grün geworden und aus den Angeln gehoben. Das Dach war eingestürzt, die Stufen kaputt, der Boden voller Löcher. Ich musste aufpassen, wohin ich trat, doch schließlich hatte ich das kleine Podest erreicht, auf dem einst die Throne von Manwe und Varda gestanden hatten. Auch sie waren nicht mehr an ihrem Platz, doch die Stufen, die dort hinaufführten, waren unversehrt, als wären sie von einem Schutz umgeben gewesen, als die Zerstörung wütete.
Erschöpft ließ ich mich vor den Stufen zwischen all dem Schutt und Schmutz auf die Knie fallen. Ich legte meine Hände in den Schoß und sandte weinend ein Gebet nach dem anderen gen Himmel. Stundenlang, so kam es mir vor, verharrte ich reglos, während meine Tränen unaufhaltsam flossen, bis meine Knie schmerzten. Doch der körperliche Schmerz was nichts im Vergleich zu dem, welchen ich tief in meinem Herzen empfand. So sehr hatte ich mich auf eine Heimkehr gefreut, hatte gehofft, den ganzen Erinnerungen aus Mittelerde zu entkommen, doch nun schien alles noch hoffnungsloser, als zuvor.
Schluchzend wischte ich mir mit meinem schmutzigen Ärmel über mein Gesicht, versuchte so meine Tränen zu trocknen. Doch irgendwie wollte es mir nicht gelingen. All meine Hoffnungen waren schier mit einem einzigen Schlag zunichte gemacht worden. Wenn schon das Haus der Götter vernichtet war, konnte meine Familie da überhaupt noch überlebt haben? Ich musste mich weiterhin an diesen Grashalm klammern, dass es meiner Mutter und meiner Schwester gut ging, und beschloss sie zu suchen.
Entschlossen schluckte ich die Trauer hinunter und erhob mich. Doch eine einzelne Träne fiel noch auf die unterste Stufe des Podestes. Es klang fast wie das Läuten einer winzigen Glocke, das von weit her mit dem Wind an meine Ohren getragen wurde. Dann war es wieder still. Ich wischte mir die restlichen Tränen fort, beschmierte mein Gesicht dabei mit Schmutz, doch das alles zählte nicht mehr. Es war mir egal, dass ich seit zehn Tagen nichts mehr gegessen und nicht geschlafen hatte, dass meine Knie und meine Füße blutig und kaputt waren, dass mein Kleid nur noch in Fetzen an mir hing. Das alles wurde bedeutungslos gegenüber der Erkenntnis, dass es die Valar nicht mehr gab.
Verwirrt, einsam und traurig wandte ich mich ab und ging den Weg zurück durch die Trümmer eines Palastes, in dem einst Götter gehaust hatten und der nun nicht einmal mehr eine Zuflucht für Mäuse bot. Mein Fuß berührte die erste Stufe, die mich von diesem Schlachtfeld wegführen sollte, als jemand meinen Namen rief.
Ich drehte mich um und dort standen sie: Manwe und Varda. Sie waren beide noch so schön, wie ich sie in Erinnerung hatte, strahlend und gütig. Doch ich sah sie wie durch einen Schleier hindurch, als wären sie nur ein Abbild von dem, was sie vor langer Zeit einmal gewesen waren, ein Spiegelbild in einem trüben Weiher an einem wolkigen Tag. Ein trauriger Ausdruck lag auf ihren Gesichtern, doch sie lächelten mir zu und winkten mir wieder näher zu kommen.
Auf der untersten Stufe zum Podest ließ ich mich erneut nieder und blickte erleichtert zu ihnen auf. Varda beugte sich zu mir herunter und streichelte sanft meine Wange. Es war nur der Hauch einer Berührung, wie eine Nebelschwade, die einen streift und sich wieder auflöst. Doch es war unglaublich tröstend, denn es zeigte mir, dass sie da waren und keine Trugbilder meines Verstandes, der sich nach ihnen sehnte.
„Warum weinst du?“, fragte Manwe. Seine Stimme drang wie durch Watte an mein Ohr, als würde er aus einer anderen Welt zu mir sprechen. Und doch jagte sie mir immer noch einen Schauer über den Rücken. Ich fühlte mich wieder so jung wie das Elbenkind, das ich damals gewesen war, als ich das erste Mal nach Valinor kam.
Ich seufzte tief, betrachtete meine Hände eine Weile, die dreckig und spröde waren, und sicher der Harfe keine schönen Töne mehr entlocken konnten. Dann sagte ich: „Ich weine, weil ich Euch verloren glaube. Ich sehe nur noch Schatten von Euch, die Ihr einst so groß und mächtig und strahlend schön wart. Was ist nur geschehen?“
Varda kam zu mir herunter, setzte sich neben mich. Ich hatte erwartete, dass sie so körperlos war, dass die Stufen sie nicht mehr berühren konnten, doch ich irrte. Sie sah mich mit so viel Liebe in den Augen an, dass ich wieder weinen musste. Wäre ich damals doch nie fortgegangen. „Wir schwinden“, sagte sie. „Die Elben verlieren den Glauben an uns, weil sie kein Vertrauen mehr haben. Und je weniger sie an uns glauben, desto weniger Macht haben wir. Du siehst, wohin das geführt hat.“ Sie machte eine ausladende Handbewegung und deutete auf die Überreste ihres einstigen Thronsaals.
Erschrocken sah ich sie beide an. „Aber wie kann man das verhindern?“
Manwe lächelte, legte seiner Frau die Hände auf die Schultern. „Das kannst du nicht verhindern. Ilmarin ist bereits zerfallen, der Wachturm ist nicht mehr, sodass unsere Augen nun blind sind. Nachdem unser letzter Feind vernichtet wurde, gibt es nichts mehr für uns zu tun auf dieser Welt. Eru ruft uns Heim.“
Ich konnte nicht glauben, was ich hörte. „Aber Ihr könnt die Welt nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Was soll sie ohne Euch anfangen?“
Varda erhob sich und stellte sich vor mich. „Wir müssen es. Wir haben nicht mehr die Macht dazu, irgendetwas zu verändern. Es liegt nicht mehr in unserer Hand, die Geschicke zu leiten.“ Sie warf ihrem Gemahl einen Seitenblick zu. „Und doch können wir unsere Kinder nicht ohne Schutz zurücklassen. Wir brauchen jemanden, der unseren Willen kennt, der unsere Kinder vor sich selbst schützt.“
Plötzlich verstand ich. Mit der Zeit hatten die Elben den Glauben an die alten Götter verloren. Und hatten sie keinen Glauben mehr, hatten die Götter keine Macht mehr. Je weniger man an sie glaubte, desto weniger waren sie real. Und nun wollten sie einen Stellvertreter ernennen, der das auf Erden tat, wozu sie selbst nicht mehr in der Lage waren. „Wer könnte das sein?“
Das Abbild von Manwe schritt auf dem Podest hin und her. Er wirkte ruhelos, als bedrücke ihn etwas, wogegen er nicht ankämpfen konnte. Vermutlich war es ohnehin viel zu schwer für sie, noch so in Erscheinung zu treten, dass ich sie wahrnehmen konnte. Immerhin hatte auch ich seit über hundertzwanzig Jahren nichts mehr von ihnen gehört. In dieser Zeit mussten sie der Welt weit entrückt worden sein.
„Es gibt jemanden“, sagte Manwe, „der glaubt, er könne die Führung über die Elben übernehmen. Aber wir glauben, dass er dazu nicht der Richtige ist. Er hat bereits die Macht an sich genommen, doch sie muss ihm wieder weggenommen werden.“
„Warum solltet ihr ihm die Macht wieder wegnehmen?“, fragte ich ratlos. „Wenn sich schon jemand gefunden hat, warum erneut suchen?“ Varda seufzte. Es war nicht leicht für sie, dies zu sagen. „Weil wir glauben, dass er die Macht nicht in unserem Sinne nutzt, sondern sie missbrauchen könnte. Seine Seele ist nicht stark genug, diese Schwere zu schultern. Er würde seine Position missbrauchen, um sein Wort über unseres zu stellen. Daher ist es wichtig, jemanden zu finden, der so selbstlos ist dies niemals zu tun. Verstehst du?“
„Aber von wem denn? Wer ist mächtig genug, so eine Bürde zu tragen? Wer glaubt genug, um den Willen der Götter zu kennen?“, fragte ich verzweifelt.
Beide standen nun vor mir. Sie sahen mich an wie sie mich damals angesehen hatten, als ich das erste Mal vor ihnen gestanden hatte. Ich war noch so jung und unschuldig gewesen, hatte nicht das Leid ertragen, was ich nun auf mir spürte. Ich hatte nicht so viele Tränen geweint, wie ich sie bis jetzt geweint hatte. Und ich hatte nicht den Schmerz vieler Jahre und unzähliger Verluste erlitten, der nun auf mir lastete.
Wie viele hatte ich verloren, die mir lieb waren? Nicht ein einziger war mir geblieben. Ganz allein stand ich vor den Göttern, wartete darauf, dass sie ihr Urteil über denjenigen fällen würden, dem ich schließlich zu folgen hatte. Egal, wen sie mir nennen würden, ich würde ihm folgen, weil ich die Hoffnung nicht aufgeben wollte, dass alles verloren schien. Außerdem war es von jeher meine Bestimmung, dem Wort der Götter zu dienen. Ich hatte dafür alles aufgegeben, was ich besessen hatte, und vieles verloren, wofür ich eigentlich kämpfen sollte. Doch mein Herz und meine Sehnsucht nach zu Hause hatte mich hierher, vor das Antlitz der Götter, geführt um ihr Wort zu hören und ihm zu gehorchen. Und ich hatte ihnen nichts entgegenzusetzen, als sie das Urteil fällten und es auf mich herniederging wie die Axt des Henkers, der einem den Kopf von den Schultern schlägt, unwiderruflich. Und ihre Worte waren wie ein Tod für mich, denn sie bedeuteten das letzte aufzugeben, was mir geblieben war: meine Hoffnung.
Und so sprachen Varda und Manwe ihre Entscheidung, brandmarkten den Unsäglichen, den Verfluchten, der diese eine letzte schwere Bürde zu tragen hatte. Sie nannten mir den Namen, der alle Elben in ein neues Zeitalter führen sollte, der sie zu einem neuen Volk machen sollte, was zwar nicht mehr unsterblich, dafür aber glücklich sein würde; zu einem Volk, welches die alten Götter noch verehrte, welches an sie glaubte. Ein Volk, was unerreichbar, aber zufrieden, entrückt von der restlichen Welt leben sollte, bis man es eines Tagen wiederentdecken würde. Ein Volk unter der Führung eines Sterblichen.