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Verlangen

~ Not your Face but your Heart´s Desire

 

Der Abend ist lang geworden, nachdem die Gemeinschaft endlich wieder zueinander gefunden hat. Sauron ist besiegt worden und nun steht uns allen noch eine letzte Prüfung bevor. Diese jedoch ist nicht zeitlich begrenzt, denn diese Prüfung wird für den Rest unseres Daseins andauern und sie wird zeigen, ob wir mit alldem, was wir erlebt haben, auch umgehen können.

 

Mein Kopf schwirrt allmählich, als ich mich endlich von den anderen verabschiede. Es ist ein kleines Wunder, dass es beinahe alle Gefährten, die damals in Imladris aufgebrochen sind, auch bis hierher in die Weiße Stadt geschafft haben. Auch, wenn manche von uns sich sehr verändert haben, sind wir doch hier. Nur Boromir hat es nicht geschafft.

 

Ich kann nicht verhehlen, dass er mir nicht sonderlich sympathisch erschien am Anfang. Jeder weiß, dass wir unsere Differenzen hatten, als wir damals, vor so vielen Monaten das erste Mal aufeinandertrafen, in Elronds Rat. Doch ich lernte ihn schätzen auf der gemeinsamen Fahrt, und ich betrauere seinen Tod, denn er hat nicht nur das Ende eines Lebens bedeutet, sondern auch den Anfang des Scheiterns der Gemeinschaft markiert. Mit viel Glück und Unterstützung haben wir es schließlich doch noch geschafft. Und wir haben sogar neue Freunde gewonnen, Freunde, von denen wir niemals gedacht hätten, sie tatsächlich zu mögen.

 

Als Prinz von Düsterwald war es mir bereits in die Wiege gelegt worden, höflich und zuvorkommend zu sein. Trotzdem war es auch für mich nicht leicht gewesen, Gimli den Zwerg in unserer Mitte zu akzeptieren. Mittlerweile jedoch ist er zu einem sehr guten Freund geworden und wir haben uns gegenseitig ein Versprechen gegeben, was wir beide auch gedenken zu halten. Nun begleitet er mich zu meinem Quartier zurück. Wieso, weiß ich nicht, denn seines liegt in einem ganz anderen Flur, doch ich nehme es gern hin.

 

„Du wirkst nachdenklich, alter Freund“, sage ich mit einem Blick in sein zerrunzelte Gesicht und lege ihm eine Hand sanft auf die Schulter. Er sieht mich an, als würde er mich zum ersten Mal sehen, und sein verklärter Blick kehrt aus einer weiten Ferne zu mir zurück. Seine braunen Augen mustern mich verwirrt. Kurz schüttelt er den Kopf, als wolle er einen lästigen Gedanken vertreiben. „Ach“, sagt er, „es ist nichts.“

 

Natürlich weiß ich, dass er lügt. Doch ich möchte nicht weiter in ihn dringen, denn wir beide sind erschöpft von dieser schier endlosen Reise und werden es beide sicherlich genießen, wieder in einem richtigen Bett zu schlafen. Vielleicht wünschen wir uns beide in unsere Heimat, in unser eigenes Bett, zurück, doch für heute Abend wird es genügen, dass wir wissen, dass es unser Zuhause überhaupt noch gibt.

 

Bevor ich die Türe zu meinem Gemach öffne und mich von dem Zwerg verabschieden kann, hält er mich am Arm fest. Seine Augen sind auf einen blinden Punkt neben mir gerichtet. Ich sehe, wie er tief Luft holt, um sich vermutlich Mut für das zu machen, was er gleich sagen will. Dann sieht er mich an. „Rede mir ihr.“

 

Mehr muss er nicht sagen, damit ich verstehe. Ich weiß, was er meint. Und mein Magen krampft sich zusammen, als ich wieder an sie denke. Für ein paar Minuten nur habe ich sie vergessen und es verschaffte meinem Herzen selige Erleichterung, nicht mehr diesen stechenden Schmerz spüren zu müssen. Doch da ist er wieder, begleitet mich schon, seit wir Lórien verlassen haben. Zumindest wurde er mir damals das erste Mal deutlich bewusst. Und seit dem ist er nie wieder gegangen. Manchmal ist er nicht so grausam, doch immer kommt er wieder. Und jedes Mal tut es ein bisschen mehr weh.

 

Ich muss mir auf die Lippe beißen, damit ich nicht dem dringenden Verlangen nachgebe, laut zu Stöhnen, als der Schmerz mich wieder vollends in Beschlag nimmt. Ich kann gerade noch verhindern, dass meine Knie unter mir nachgeben. Vielleicht wirke ich nach außen hin stärker, als ich es bin. In meinem Inneren jedoch tobt ein heftiger Sturm, zwei unglaublich starke Kräfte, die miteinander ringen, wie zwei Götter, die sich nicht einig werden können. Der eine Gott ist krank vor Sehnsucht nach ihr, will ihr seine Liebe gestehen, sie in den Arm nehmen, sie küssen und nie wieder gehen lassen. Doch der andere Gott wehrt sich gegen diese Gefühle, weil er weiß, dass sie niemals erwidert werden.

 

Ich schluckte hart. „Nein“, bringe ich knapp heraus und schließe schnell wieder meinen Mund, bevor ich die Beherrschung verlieren kann und laut schreie. „Sie will mich nicht.“

 

„Woher weißt du das? Hast du sie jemals gefragt? Sieh’ sie dir doch an! Sie trauert noch immer. Und vielleicht weiß sie einfach nur noch nicht, dass diese Phase nun langsam hinter ihr liegen sollte. Du musst es ihr sagen. Du musst ihr sagen, dass sie nicht ewig trauern darf. Von alleine wird sie das nicht wissen.“

 

Ist das so? Ich frage mich, ob sie nicht vielleicht schon weiß, was für alle anderen offensichtlich ist. Doch wenn sie weiß, wieso handelt sie dann nicht danach?, fragt der Gott der Sehnsucht in mir und facht damit neue sinnlose Hoffnungen an. Wieso nur bin ich ihr so verfallen? Wieso hängt mein Herz so sehr an ihr, dass es mich schmerzt, sie überhaupt anzusehen? Was lässt mich diese Elbe lieben, wie ich noch nie jemanden zuvor in meinem Leben geliebt habe?

 

Die Frage habe ich mir schon oft gestellt. Doch bisher bin ich nie zu einer Antwort gelangt. Ich weiß es einfach nicht. Wie soll man der Liebe auch vorschreiben, dass sie irgendwo anders hingehen soll? Das ist unmöglich. Genauso kann man den Flüssen befehlen, bergauf zu fließen. Und doch wünscht sich ein kleiner Teil von mir, dass mein Herz sie endlich freigeben möge. Denn was passiert, wenn sie meine Liebe weiterhin nicht erwidert? Wenn sie weiterhin auf Aman dahinwelkt und keine Ruhe findet? Werde auch ich dann beginnen zu welken, weil mein Herz gebrochen wurde?

 

Etwas in mir stört sich nicht besonders an diesem Gedanken. Denn was ist schon ein Leben ohne sie? Doch ein anderer Teil in mir möchte noch nicht vergehen. Zu wenig habe ich bisher von dieser Welt gesehen. Und zu allem Überfluss wurde nun auch noch die Sehnsucht nach dem Meer und dem Westen tief in mir geweckt, wie Galadriel es mir vorausgesagt hat. Möglicherweise bin ich also nicht mehr nur in zwei Teile zerrissen, sondern in viele kleine Teile, die nun versuchen, sich wieder zusammen zu setzen, es aber nicht schaffen, weil niemand mehr weiß, wie das große Ganze aussehen soll. Es gibt keine Vorlage mehr, nach der man die Splitter zueinander fügen kann. Als hätte man eine Karte vor vielen tausend Jahren auseinander geschnitten und weiß nun nicht mehr, wie die Welt wirklich aussieht.

 

Mein Kinn sinkt schwer auf meine Brust und ich muss mich zwingen, tief ein und aus zu atmen, damit ich nicht den Verstand verliere. Und plötzlich weiß ich, dass ich nicht eher Ruhe finden werde, bis ich mir ihr geredet habe. Gimli hat Recht.

 

„Gut“, gebe ich zu, „ich werde mit ihr reden. Doch danach möchte ich darüber nie wieder ein Wort verlieren. Ist das ein weiteres Versprechen, was du mir geben kannst? Sollte sie mich erneut abweisen, dann reden wir nie mehr darüber, denn mein Herz könnte es nicht ertragen, jeden Tag aufs Neue wieder gebrochen zu werden.“

 

Er sieht mich mit diesem einen Blick an, den nur engste Vertraute miteinander teilen können. Er versteht, dass es zu grausam für mich wäre, und nickt. Er gibt mir ein stummes Versprechen über das Ende der Welt hinaus. Denn dies ist nun meine letzte Gelegenheit, spüre ich tief in mir drinnen.

 

Still verabschiede ich mich von meinem Kampfgefährten, nicke ihm ebenfalls zu und schlage den Weg zu ihrem Quartier ein. Ich kenne ihn blind, auch wenn ich ihn nie gegangen bin. Doch mein Körper scheint zu wissen, wo meine Seele wohnt, denn nicht mehr und nicht weniger ist diese Elbe für mich. Sie ist mein tiefstes Inneres, mein Lebenshauch, meine Essenz. Ohne sie kann ich nicht existieren. Und genau das bereitet mir diese unsäglichen Schmerzen.

 

Vorsichtig und langsam setze ich einen Fuß vor den anderen, denn ich weiß, dass, wenn ich mich nicht mehr auf das Laufen alleine konzentriere, ich unweigerlich umdrehe und davon laufe. Die Angst vor Ablehnung, vor grausiger Zurückweisung, ist zu groß, zu übermächtig. Nur, weil ich gelernt habe, meine wahren Gefühle hinter einer Maske zu verbergen, wie mein Vater es mich gelehrt hat, kann ich den Weg gehen, den ich mir selbst vorgenommen habe, der mich jedoch ganz sicher in mein Verderben führen wird. Entweder zum Guten oder zum Bösen.

 

Als ich in den Korridor einbiege, in welchem sich ihr Zimmer befindet, steigt mir sofort ihr Duft in die Nase. Sie riecht nach Salz und Wind, nach Bäumen und einer grünen Wiese, nach heißem Sand. Sie riecht so, wie ich mir Valinor vorstelle, denn sie ist schon dort gewesen und hat das Segensreich der Eldar gesehen, hat mit den Göttern gesprochen und ist zurück gekehrt, um einen beinahe aussichtslosen Krieg zu führen.

 

Kurz frage ich mich, ob das vielleicht der Grund für meine große Faszination für sie ist, oder ob es nur einer von vielen sein mag. Doch ich weiß mittlerweile, dass es nicht nur ihre Aura von Weisheit, die sie mit den Jahren erlangt hat, ist, sondern auch ihre Schönheit, die für mich vollkommen ist. Es ist ihre Art, wie sie kämpft, wie sie spricht, wie sie lächelt. Ihr ganzes Wesen ist darauf ausgelegt, mir zu gefallen, denn sie ist alles, was ich mir nur wünschen kann. Nein, sie ist mehr, als ich mir jemals wünschen würde. Denn zu wenig kann ich ihr im Gegenzug bieten. Und doch verlangt es mich nach ihr, wie dem Verdurstenden nach Wasser.

 

Gerade geht sie auf ihre Türe zu. Ihre schmalen Schultern hängen ein wenig herab, denn auch sie wird schrecklich müde sein von der großen Anstrengung nach allem, was wir erlebt haben. Mit ein paar schnellen Schritten bin ich bei ihr und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Ihr Duft ist nun intensiver, raubt mir beinahe den Atem, doch ich beherrsche mich.

 

Sie seufzt leicht, denn vermutlich rechnet sie nicht damit, dass man sie noch stören könnte zu so später Stunde. Dann dreht sie sich zu mir um und es beraubt mich für einen winzigen Moment meiner Selbstbeherrschung, als ich in ihre tiefgründigen blauen Augen sehe. Ihre geschwungenen Lippen sind zu einem schmalen Lächeln verzogen, was nicht ganz ehrlich gemeint zu sein scheint. Doch ich beachte es nicht weiter, denn sie spricht nun zu mir mit ihrer glockenhellen Stimme: „Legolas, was treibt Euch zu so später Stunde noch hierher?“

 

Meinen Namen aus ihrem Mund zu hören lässt mich jedes Mal ein kleines Bisschen sterben. Ich weiß nicht wieso, doch es erscheint mir wie ein Wunder, dass sie mich immer erkennt. Ihre Frage jedoch verwirrt mich. Weiß sie nicht, wieso ich gekommen bin? Kann sie nicht erahnen, was in mir vorgeht, während ich sehe, wie sie stumm leidet? Sie muss es wissen. Denn wenn sie es nicht weiß, bin ich verloren.

 

„Das wisst Ihr“, sagte ich deshalb und ihr sorgsam gehütetes Lächeln verschwindet wieder. Ich ahne, dass ich ihr damit Hoffnung genommen habe, auf einen ruhigen Lebensabend. Denn ich weiß, dass sie sich nichts lieber täte als in den Westen zu gehen. Und doch kann ich vermuten, dass ihre Zeit noch nicht gekommen ist. Denn wer sonst, wenn nicht sie, muss sich nun um Lórien kümmern, da ihre Mutter zweifellos nach Valinor segeln wird, jetzt wo der Krieg zu Ende ist? Niemand bleibt, außer sie. Ihr Vater ist dieser Aufgabe nicht gewachsen. In ihm fließt nicht das Blut der Noldor. Natürlich kann er ein Volk leiten, doch das Reich Lórien aufrecht zu erhalten ist keine leichte Aufgabe. Die Elben, die dort eins gelebt haben, waren verstreut und uneins. Geht Galadriel in den Westen und nimmt damit auch die Magie von diesem Land, werden sie es wieder werden. Dessen bin ich mir sicher.

 

Lilórien kommt nun auf mich zu, greift nach meinen Händen und nimmt sie in ihre zarten Finger. Meine Haut kribbelt dort heftig, wo sie mich berührt, als würden mir Ameisen darüber laufen. Doch es fühlt sich gut an und ich möchte mehr von dem Gefühl. Ich sehe ihr wieder in die Augen, als sie spricht. „Ich weiß, warum Ihr hier seid, aber ich kann Euch nicht geben, wonach Ihr sucht. Es ist nur ein Schatten und ein Gedanke, den Ihr liebt. Ich bin nicht diejenige, für die Ihr mich haltet.

 

Was redet sie da nur? Verwirrt und verängstigt sehe ich sie an, bin wütend darüber, dass sie selber nicht sehen kann, wie viel mehr sie doch ist. Wieso nur sieht sie es nicht? Kann sie es nicht sehen oder will sie es nicht? Nimmt die Trauer ihr die Fähigkeit, sich selbst einzuschätzen? Am liebsten möchte ich sie in meine Arme ziehen und sie festhalten, bis sie einsieht, dass wir füreinander bestimmt sind. Doch wie kann ich sie gegen ihren Willen beeinflussen? Zu stark ist das alte Blut in ihr und ich wage es nicht, sie zu zwingen, denn ihr freier Wille bedeutet mir zu viel.

 

Aber diese Mauer, vor die ich jedes einzelne Mal wieder laufen muss, bringt mich der Verzweiflung nahe. Es macht mich wütend, so hilflos dagegen zu sein, ihr nicht helfen zu können. Ohne Möglichkeit zum Eingreifen bin ich dazu verdammt mit anzusehen, wie sie langsam dem Verfall anheim fällt. Welch grausames Schicksal hat mir Eru auferlegt, mit zu erleben, wie die Liebe meines jungen Lebens vor Trauer vor meinen eigenen Augen vergeht!

 

Meine Hände packen ihre nun fester, denn ich kann mich kaum noch beherrschen. Meine Hilflosigkeit schlägt beinahe um in Tatendrang. Doch wohin kann ich ihn wenden? Haldir ist tot und ein Teil von ihr ist mit ihm gestorben. Wie kann ich gegen etwas kämpfen, das es nicht mehr gibt? Wie kann ich ihr begreiflich machen, dass sie diesen Teil, der ebenfalls davon gegangen ist, nie wieder brauchen wird, weil ich ihr dabei helfen kann, trotzdem wieder ganz und heil zu werden? Sie muss doch einsehen können, dass ich ihre einzige Chance bin, damit sie weiter lebt. „Doch das seid Ihr!“, sage ich verzweifelt. „Ich weiß um Euren inneren Kampf, doch ich kann Euch dabei helfen, wenn Ihr mich nur lasst.“ Doch ich sehe, wie sie sich innerlich gegen meine Wort wehr. Ein letztes Mal versuche ich ihr klar zu machen, was ich fühle, als ich sage: „Ihr müsst mich nur lassen.“

 

Ja, wenn sie mich doch nur lassen würde, dann könnte ich alle Sorgen von ihr nehmen, sie glücklich machen und ihr ein anderes Leben aufzeigen, was sie vergessen lässt, dass sie einst so tief verletzt wurde. Doch dazu brauche ich ihre Hilfe. Ich kann das nicht alleine tun. Dieses Wagnis können wir nur gemeinsam eingehen.

 

Als hätte sie all meine Gedanken erraten, sagt sie zu mir, dass sie mich nicht liebt. „Und ich werde Euch auch nie lieben können. Mein Herz gehört einem anderen.“ Und wie könnte ich daran zweifeln, wenn sie es mich doch jedes einzelne Mal spüren lässt, wenn ich mich versuche ihr zu nähern. Wie könnte ich jemals vergessen, dass eine so enge Verbindung zu Haldir bestanden hat, die sie völlig unempfänglich für jegliche Hilfe meinerseits macht.

 

Und doch ist Haldir tot. Seine Seele ist in Mandos’ Hallen eingegangen, wo sie nun unerreichbar ist für jeden von uns – auch für sie selbst! Ich kann nicht begreifen, wieso sie noch immer an ihm festhält, wieso sie nicht loslassen kann, wo sie doch wissen muss, dass es ihr Verderben bedeutet.

 

Ohne dass ich es will, wird mein Griff um ihre Hände noch fester. Ich muss ihr sicherlich Schmerzen zufügen, doch sie sagt nichts. Stumm blickt sie mich mit ihren traurigen Augen an und hofft, dass ich sie verstehe, dass ich sie in Frieden lasse. Doch das kann ich nicht. Ich kann nicht nur zusehen. Ihr Leben ist mir zu wichtig. „Aber er ist tot!“, sage ich deswegen und greife nach ihren schlanken Oberarmen. Ich fasse sie fest, weil ich Angst habe, dass sie mir entgleiten könnte. Und weil ich nicht mehr weiß, wohin mit meiner Wut und meiner Hilflosigkeit, beginne ich sie leicht zu schütteln, weil ich hoffe, dass sie dadurch zur Vernunft kommt. „Er ist tot! Begreift Ihr das denn nicht? Wenn Ihr an ihm festhaltet, werdet auch Ihr sterben!“

 

Jetzt habe ich es gesagt. Die Worte, die mich beinahe aufgefressen haben von innen und mir meine Seele zu rauben drohten, sind einfach aus meinem Mund herausgepurzelt, ohne dass ich sie hätte aufhalten können. Mein Herz liegt auf meiner Zunge und nichts kann es daran hindern zu sagen, was es in diesem Moment fühlt. Selbst meine viel gelobte und hart erarbeitete Selbstbeherrschung ist dazu nicht mehr in der Lage. Und ein winziger Teil von mir, der noch nicht völlig rational denkt, sondern nur von meinen Emotionen geleitet wird, hofft, dass ich sie dadurch erreichen kann.Sie jedoch wird nun ganz ruhig. Es ist beinahe so, als sähe sie schon ihr Ende vor sich, als hätte sie dem Tod bereits ins Auge geblickt und hätte keine Angst mehr vor ihm. Und natürlich ist dem auch so, denn sie hat die Schlacht auf dem Pelennor überlebt und auch die vor dem Morannon. Was kann sie noch vom Leben erwarten?

 

Sie sagt es mir, als sie sanft meine Hände von ihren Oberarmen löst, sie ineinander legt und sie beinahe zärtlich küsst. Wieder kribbelt es, doch an der Stelle, wo ihre Lippen meine Haut berühren, entfacht sich beinahe augenblicklich ein kleines Feuer, das mich von innen heraus verzehren möchte. Sie lächelt leicht und plötzlich weiß ich, dass mein Kampf verloren ist. Er war von Anfang an aussichtslos. All die Kräfte, die ich darauf verwendet habe, sie an das zu erinnern, ihr das zu zeigen, was offensichtlich ist, waren vergebens verschwendet. Und auch ich werde plötzlich ruhig. Sie lässt mich los und auf meiner Haut bleiben Stellen zurück, die sich anfühlen, wie mit Eis überzogen, denn ihre Wärme ist nun nicht mehr da. „So sei es denn“, sagt sie, dreht sich um und verschließt ihre Türe beinahe lautlos.

 

Alleine bleibe ich in dem kühlen Flur zurück, weiß nicht, wohin ich meine Schritte lenken soll, denn in meinem Kopf ist es wirr und verschwommen. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen und setze daher einfach einen Fuß vor den anderen, bis ich draußen stehe und die Sterne über mir sehe. An Ort und Stelle lasse ich mich auf den Boden sinken, weil mich alle Kraft verlassen hat. Ein einziger Gedanke kreist jetzt in meinem Geist herum.

 

Augenblicklich weiß ich, was ich nun zu tun habe. Doch kann ich das wirklich tun? Kann ich sie sich selbst überlassen?

 

Doch was anderes kann ich noch tun? Ich habe ihr bereits gesagt, was mir auf dem Herzen liegt. Und sie hat mich abgewiesen. Was anderes bleibt mir nun noch übrig?

 

Die Tage bis zu Aragorns Krönungsfeier sind nicht mehr existent für mich. Ich laufe durch die Gärten und sehe den Bäumen dabei zu, wie sie wieder wachsen und wie das Gras ergrünt. Doch sonst kann mein Herz nichts erfreuen. Selbst Gimli vermag es nicht, mich aufzuheitern. Ich erzähle ihm von dem Gespräch, welches wir geführt haben, und er schüttelt ungläubig den Kopf. Auch er kann es nicht verstehen. Doch wie könnten wir auch? Bisher haben wir beide noch nicht das Liebste verloren, was wir besitzen.

 

Doch ich muss mich sogleich korrigieren. Ich habe nun das Wertvollste verloren, obwohl ich es nie wirklich besessen habe. Ich habe immer nur gehofft, es irgendwann einmal mein Eigen nennen zu dürfen. Doch dem wird nie mehr so sein, fürchte ich. Doch um nicht selbst zu schwinden, muss ich nun eine Entscheidung treffen. Wenn ich nicht selbst in diesen Sog des Vergessens geraten will, muss ich mich selbst schützen, um vielleicht irgendwann für sie da zu sein, wenn sie sich doch dazu durchringen kann, mein Angebot anzunehmen.

 

„Glaubst du denn, dass sie das tun wird?“, fragt Gimli mich ungläubig. Ich kann mir vorstellen, was in seinem Kopf vorgeht. Doch ich darf die Hoffnung nicht aufgeben. Denn wenn ich das tue, dann bin ich verloren. Und Lilórien mit mir.

 

Ich seufze tief. „Ich kann nicht anders“, sage ich. „Denn wenn ich aufhöre zu hoffen, dann höre ich auf zu atmen. Ich muss einfach daran glauben, dass sie irgendwann zur Vernunft kommen wird.“

 

Mein Freund erhebt sich schwerfällig von der steinernen Bank, auf der wir Platz genommen haben. Der Innenhof breitet sich vor uns aus und wir können beobachten, wie die Vorbereitungen für die Krönung getroffen werden. Ein Späher hat bereits berichtet, dass Elben auf dem Weg hierher sind. Ich kann mit meinen scharfen Augen erkennen, dass es Herr Elrond von Bruchtal ist, der seine Kinder mitbringt.

 

Gimli klopft mir freundschaftlich auf die Schulter. Er schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. „Ich hoffe es für dich, Junge. Nichts würde mich glücklicher machen, als zu sehen, wie ihr beide euer Glück findet.“ Dann lässt er mich wieder mit meinen Gedanken alleine.

 

Ich habe Lilórien schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Vermutlich versteckt sie sich vor mir, doch das ist mir im Moment nur recht. Noch bin ich dafür nicht genug gewappnet, was ich vorhabe. Erst muss ich meinem Herzen klarmachen, dass es in nächster Zeit keine Erlösung für uns geben wird. Und das ist keine leichte Aufgabe. Doch es muss sein. Anders kann ich Mittelerde nicht überleben. Bis es soweit ist, dass auch ich in den Westen segeln darf, werde ich das Leid ertragen müssen, welches ich mir selbst auferlegt habe. Doch vielleicht kann ich es ein bisschen erträglicher machen für mich selbst.

 

Später versammeln sich alle im Innenhof. Ich habe meine beste Tunika angezogen, denn ich möchte mein Volk aus dem Düsterwald würdig vertreten. Alle freien Völker Mittelerdes nehmen daran teil. Und so auch ein Vertreter für jedes Elbenkönigreich.

 

Nachdem Gandalf Aragorn seine Krone aufgesetzt hat, kommt der neue König von Gondor zu uns herab. Er geht an Éomer vorbei, der nun König von Rohan ist, und an seiner Schwester Éowyn, die mit Faramir nach Ithilien gehen wird. Dann kommt er zu mir. Ich lege ihm stolz meine Hand auf die Schulter, denn uns Gefährten verbindet eine besondere Freundschaft. „Hannon le“, sagt er und ich weiß, was er alles in diesen beiden Worten versucht, auszudrücken. Auch mir fällt es schwer zu sagen, was ich alles sagen möchte. Daher schweige ich.

 

Stattdessen nicke ich ihm zu. Er sieht an mir vorbei und entdeckt sie, das kann ich in seinen Augen sehen. Nur wahre, tief empfundene Liebe kann genauso aussehen, wie er nun dreinblickt. Er lässt meinen Arm los und geht zu ihr, zu der einen, die er liebt: Arwen.

 

Mein Herz wird wieder schwer, als sie sich glücklich in die Arme nehmen und küssen. Wird auch mir so etwas widerfahren? Werde ich so etwas jemals erleben?

 

Dann straffe ich mich. Ich weiß, was ich nun zu tun habe. Keine andere Möglichkeit bleibt mir mehr. Nur noch das kann ich für sie tun, denn alles andere hat versagt. Doch wenigstens das soll mir gelingen, denke ich, als ich auf sie zu gehe. Sie sieht wunderschön aus in diesem Kleid, was ihr nicht einmal richtig passt. Doch sie würde in allem gut aussehen. Es reicht völlig, wenn ihre Augen mich anblicken, und die Welt um mich herum ist vergessen. Würden sie jetzt noch vor Freude und Glück strahlen, wäre das das einzige, was sie tragen müsste.

 

Doch diesen Gedanken verdränge ich, bevor er richtig Gestalt annimmt in meinem Kopf. Ich konzentriere mich darauf, was ich sagen will. Ich möchte ihre Hände greifen, möchte sie berühren, doch ihr Blick sagt mir, dass es ihr nicht recht wäre. Daher bleibe ich vor ihr stehen, unsicher, was ich nun mit meinen Händen machen soll. Ich lege sie also einfach ineinander, in der Hoffnung, nicht allzu nervös zu wirken. Ein letztes Mal befeuchte ich meine Lippen.

 

„Ich werde warten“, spreche ich die Worte aus, die ich eigentlich nie sagen wollte, und es nun doch tue, um unser beider Leben retten zu können, „bis Ihr bereit dazu seid, Euren Schmerz lindern zu lassen. Auch wenn es tausend Jahre dauern soll.“

 

Es bleibt eine Weile still, denn ich hoffe darauf, dass sie auf meine Worte reagiert, dass sie nach diesem letzten Strohhalm greift. Doch sie schweigt weiter. Ich kann sehen, wie ihre Augen feucht werden, wie sie heftig schluckt. Dann geht sie einfach davon, ohne mich noch einmal eines Blickes zu würdigen.

 

Traurig sinkt mir das Herz herab. Kann es wahr sein, dass ich auch diese allerletzte Gelegenheit verpasst habe, sie ins Leben zurück zu holen? Sind wir nun beide dazu verdammt, für immer ein Leben im Zwielicht zu führen, bis uns doch ein langsamer, schmerzlicher Tod eines Tages ereilen wird? Werden wir nun langsam verfallen und vergehen, bis niemand mehr lebt, der sich an uns erinnern kann?

 

Doch dann denke ich: Nun habe ich alles gegeben. Mehr kann ich nicht tun. Und so wende ich mich ab von ihr und hoffe darauf, dass die Zeit heilen wird, was ich nicht geschafft habe zu heilen. Und vielleicht werden wir, eines fernen und schönen Tages, noch einmal aufeinander treffen. Dann können wir es erneut versuchen, ihr Herz zu heilen und es ganz werden zu lassen. Und vielleicht schaffe ich es dann, sie endlich mein Eigen nennen zu dürfen, den größten Schatz, den mir Aman schenken kann.

Auch hier werfen wir wieder einen Blick in Legolas' Gefühlswelt!

© by LilórienSilme 2015

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